Winternähe
Winternähe
07. September 2015
von Rahel
5 Sterne
Rahel Jahrgang 1998 Redaktion Lübeck
hat 5 Sterne vergeben

„Das Wort gibt es nicht. Es sind zwei Wörter. Eines bedeutet Winter und das andere Nähe. Horef und kirva.“

Würde ich gefragt werden, wie ich den Debütroman der deutsch-jüdischen Autorin Mirna Funk einordne, dann würde mir das sehr schwer fallen, denn dieser Roman ist für mich wie ein buntes, auf der Netzhaut in tausend Farben explodierendes Kaleidoskop. Es präsentiert mir schöne Formen. Formen von Romanen: Es gibt Romane, die Augen öffnen. Es gibt Romane, die aussprechen, was gesagt werden muss, indem sie Fiktion mit autobiographischen Erlebnissen verbinden und eine Sprache inne haben, die am Puls der Zeit ist. Es gibt Romane, die mit einem Paukenschlag beginnen. All das ist WINTERNÄHE.


„Es schien sich eine Tür geöffnet zu haben, die sich nun nicht mehr schließen ließ, hinter der sich eine Wahrheit befand, die Lola einfach viel zu lange ignoriert hatte.“

Mirna Funks Protagonistin Lola ist vierunddreißig Jahre alt. Ihren Lebensmittelpunkt, dem heutigen Berlin, ist die gebürtige Ostberlinerin quasi treu geblieben. Die Fotografin ist das Kind einer nicht-jüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters. Das macht Lola zu einer Deutschen und zu einer Vater-Jüdin.

Letzteres macht Lola zu einer Zielscheibe für antisemitische Übergriffe – von Freunden und Kollegen, von Nachbarn. Von Menschen aus ihrem unmittelbarem Umfeld. Der Hitlerbart auf einem Selfie, detaillierte Beschreibungen einer angesehenen Schauspielerin, deren Großvater Nationalsozialist war, was man mit Lola im Fall eines dritten Weltkriegs machen würde und vieles andere. All diese Vorfälle, gehen auf autobiographische Erlebnisse der jungen Autorin zurück.

Lolas Familienhistorie ist es aber auch, die sie zu jemandem macht, über den andere gern urteilen, sie in Schubladen stecken und meinen, ihre Identität definieren zu müssen. Lola ist eine starke, kreative, moderne und selbstbewusste mit Anglizismen und Wortwitz jonglierende, das Detail einfangende Persönlichkeit. Und doch erscheint sie innerlich zerrissen. In ihr sind Geschichten vereint, die nicht selten schwer zu vereinen scheinen. Sie ist nicht Fleisch, nicht Fisch. Ihre Kindheit ist geprägt von der Republikflucht ihres Vaters, der Angst vor einem erneuten Holocaust, den ihre Großeltern überlebt haben, einer Mutter, die Lola nicht die Liebe entgegenbringen kann, die sie bräuchte und die ihr eigenes, opportunistisches Leben lebt – ohne Rücksicht auf Verluste. Folgerichtig sucht sie sich als Erwachsene selbst. Lola weiß, dass sie aufgrund ihres Vaters Simon „Daddy-Issues“ , sprich Vaterprobleme hat, und das nicht nur, weil sie sich nach ihm sehnt, mit dem sie unregelmäßig bis gar keinen Kontakt hat, ihm ehrliche, aus ihrer Seele sprechende Briefe schreibt, die sie nie abschickt, sondern auch, weil sie Vater-Jüdin ist. In den Augen von orthodoxen Juden macht sie das zu keiner Jüdin, denn streng genommen wird die jüdische Identität über die jüdische Mutter, also ausschließlich über die mütterliche Linie, übertragen, während Reformjuden sie als Jüdin anerkennen.

Ein „Schubladen-Dasein“ will sie nicht, sie will selbst entscheiden, wer sie ist. Doch all die Barrieren, die ihrer Geschichte geschuldet sind und die Regeln des jüdischen Glaubens machen ihr es schwer.

Als diese antisemitischen Übergriffe eine Tür öffnen, reift in ihr der Entschluss, nach Israel, nach Tel Aviv, zu gehen. Ein Entschluss, der sicherlich eine Addition der Folgen dieser Übergriffe ist und der Wunsch, zu wissen wer sie ist, und wo sie hingehört. Doch noch etwas anderes schwingt mit: Shlomo. Ein junger Mann aus Israel, den sie über die Dating-App „Tinder“ in Berlin kennengelernt hatte. Aus einem Sex-Date ist eine tiefere Bindung geworden, die in Israel wieder aufleben sollte. Die Romanfigur Shlomo wird zu ihrem Geliebten werden.

„Sie entdeckte Geschäfte, die dort seit über zehn Jahren existieren; und dass sie diese Geschäfte kannte, gab ihr ein Gefühl von Heimat. Ein Gefühl angenehmer Distanz trotz tiefer Verankerung. Lola gehörte dazu. Sie gehörte zu Tel Aviv, aber gerade diese Zugehörigkeit schenkte ihr eine gewisse Bewegungsfreiheit, die etwas Objektives, Distanziertes hatte.“

Lolas Erlebnissen in Israel widmet sich der zweite Teil des Romans, der als Triton angelegt ist. Es ist Juli 2014. Im Juli bricht der Gaza-Krieg aus. Ein Krieg, der auf einem Jahrzehnte andauernden Konflikt, dem Israelischen-Palästinensischen, beruht. Der Konflikt ist überall und auch der Krieg ist es, das „Boom“ der abgewehrten Raketen, all das, was für uns in Deutschland scheinbar so weit weg ist, ist hier gegenwärtig. Trotz des Krieges, geht das Leben weiter oder vielleicht ist es auch der Konflikt, der Krieg, die unterschiedlichen Meinungen und Positionierungen, die dem Leben seine Essenz einhauchen. Lola lebt, liebt, lernt, fotografiert, verliert und entdeckt in einer pulsierenden Metropole. Und während Lola all dies tut, bleibt sich Mirna Funk treu und sagt, was gesagt werden muss und öffnet dabei weiterhin die Augen ihrer Leser:

Sie bringt uns einen Krieg näher, wie Menschen ihn in Tel Aviv tatsächlich erlebt haben könnten. Sie gibt dem Geschehenen eine Dimension, die sich wahrhaftiger und unmittelbarer anfühlt, als es manche Zeitungsartikel und Nachrichtenbeiträge im Fernsehen vermitteln konnten. Während sie dies durch Lola tut, zeigt sie auch auf, dass die Berichterstattung der Medien, die Reaktionen von Social-Network-Nutzern und die Protest-Aktionen oft nur ein Spiegel, eine Projektionsfläche des Antisemitismus ist, der immer da war und immer noch ist. Und nun angesichts des Krieges endlich eine Entschuldigung gefunden hat, um vollends unter der Oberfläche hervorzubrechen und sein Unwesen in Deutschland zu treiben.

Aber sie erzählt auch von dem Leid, dem Verlust und der Trauer, die der Krieg über die Menschen auf beiden Seiten bringen kann. Dabei setzt sich scharfsinnig mit der Frage auseinander, was es bedeutet zu kämpfen, zu töten, zu einem Mörder zu werden und weiterzuleben. Mit dem Gewicht der Schuld auf den Schultern, das einen umtreibt, einen ständig begleitet.

„Fast drei Monate waren vergangen, seit sie in Tel Aviv gelandet war. Es war der vierte September 2014. Hinter Lola lag der Krieg und vor ihr Bangkok.“

Nach Israel folgt Bangkok. In Bangkok und in einem Resort auf einer Insel geht es Lola im Grunde um ihren Vater. Bangkok ist relativ nah an Australien. Und Australien ist der Ort, an den es Simon mit seiner neuen Familie verschlagen hat. Simon ist der Gegenstand ihrer „Daddy-Issues“, von denen sie weiß, dass sie sie angehen muss, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Aber es geht auch um das Verarbeiten eines Krieges und darum, zur Ruhe zu kommen, nach zu denken, zu erkennen:

„Was im letzten Sommer passiert ist, hat mich in einen Schockzustand versetzt. Nicht, dass die Dinge zuvor nicht schon erschreckend genug gewesen wären, aber die Reaktionen auf den Gaza-Krieg haben mir deutlich gemacht, dass der Antisemitismus nicht einfach nur zurückgekommen ist, oder, wie man so schön sagt, in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, sondern, dass er nie weg war.“

Auch wenn Lolas Reise, ihre Suche, nach 343 Seiten in Berlin zu Ende geht, oder zumindest für den Leser nicht mehr in schriftlicher Form nachvollziehbar ist, so sollte dieses Buch nicht einfach im Regal landen ohne, dass ihm kein weiterer Blick oder Gedanke geschenkt wird.

Oft finden sich Bücher – sowohl in der Jugend- als auch in der Erwachsenenlektüre– die Antisemitismus, Krieg und nicht zuletzt den Holocaust als Thema haben. Diese Bücher weisen keinen direkten, höchstens einen versteckten Bezug zur Gegenwart auf, doch bei „Winternähe“ ist das anders. Ich schätze diesen Umstand sehr. Es verleiht den Themen eine Aktualität und Dringlichkeit, die aus meiner Sicht von großer Bedeutung sind. Zugleich ist es ein Gegenwartsroman der fesselt. Der fesselt, weil er zum Lesen verführt, angeregt durch zwei Worte, die seinen ansprechenden Umschlag in großen Druckbuchstaben schmücken: WINTER und NÄHE.

Mirna Funk wünscht sich, dass ihr Debüt als ein Wegweiser gesehen wird. Ein Wegweiser in Bezug auf die Vielfalt Israels, den Krieg, das Judentum.

Für mich ist ihr Roman ein Denkanstoß und Lola ein Vorbild, denn Mirna Funk hat sie erkennen lassen, was so wichtig ist, um Veränderung beginnen zu lassen. Vor diesem Hintergrund möchte ich keine weiteren Worte verlieren, wenn der Roman für sich selbst sprechen und es so viel besser sagen kann als ich:

„Irgendeine Lösung muss es doch geben, Shlomo! Eine Lösung von der Geschichte ernsthaft zu lernen. Die Geschichte im Jetzt zu fühlen, ohne davon überfordert zu sein. Ich glaube, es ist eine Art Aushalten. Geschichte aushalten. Das müssen die Menschen lernen. Auch ich muss lernen, meine Geschichte, meine ganz persönliche Geschichte auszuhalten. Du musst es. Ein jeder eben.“

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