Mira, die Protagonistin, die aktive Heldin, ist die bewusst gewählte fiktive Figur im neuen Roman von David Safier.
Mira, eine Polin – einst Teil der jüdischen Bevölkerung in Polen, in Warschau, der mit ca. 350.000 Mitgliedern vor dem Zweiten Weltkrieg größten Jüdischen Gemeinde in Europa. Nach New York war sie damit die zweitgrößte der Welt.
Mira – eine Jugendliche, die sehr schnell erwachsen werden musste. Mit sechzehn Jahren ist sie fast noch ein Kind. Ein Kind von vielen, das aufgehört hat, ein Kind zu sein. An einem realen Ort: Mitten im Warschauer Ghetto.
Das Warschauer Ghetto: Ein systematisch geschaffener Ort mit unmenschlichen Lebensbedingungen im deutsch besetzten Europa, in dem mindestens 450.000 Menschen eingepfercht wurden. Erschaffen als Teil einer konsequenten Vernichtungspolitik des nationalistischen Deutschen Reichs. Eine Zwischenstation vor der Deportation in die Vernichtungslager, wie z.B. Treblinka.
David Safier hat sich in seinem Roman – „28 Tage lang“ – dem dort geleisteten Aufstand gewidmet. 28 Tage lang haben sich größtenteils junge Menschen ihren übermächtigen Peinigern zur Wehr gesetzt.
Auf 404 Seiten entführt seine Hauptfigur Mira die Leserinnen und Leser somit an einen Ort, der in der Vergangenheit eine Geschichte geschrieben hat, die hätte niemals geschrieben werden dürfen, aber gerade deshalb wollte der Autor sie zu Papier bringen.
Nicht ohnehin ging es David Safier dabei darum, eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen. Eigens zu diesem Zweck wählte er die Mittel eines Spannungsromans und vergab die Rolle seines Hauptcharakters an eine fiktive Person, die eine sehr wesentliche Fragestellung nicht nur wiederholt an sich selbst richtet, sondern zeitgleich auch die Leserinnen und Lesern zum eigenständigen Nachdenken über „Was für ein Mensch willst Du sein?“ anregt.
Widmet man sich nun der Handlung des Romans und weniger der Intention des Autors – die aufgrund der Historie und seiner eigenen Lebensgeschichte ebenso wichtig ist – so kann man sagen, dass das nackte Überleben im Ghetto genauso wie Mira eine Protagonisten-Rolle zugesprochen werden könnte.
Das Überleben ist ihr Schatten, ihr Antrieb und das, was ihre Handlungen bestimmt.
Sie schmuggelt, kämpft mit Waffen, Worten und Taten, sie leidet und liebt mit allem, was geht und sie lebt ihr Leben, das sie leben muss. Sie zweifelt an der Sinnhaftigkeit des Todes, wenn es so vieles gibt, für das es sich zu leben lohnt. Sie verliert Menschen, die ihr wichtig sind und schließt neue ins Herz. Ihre Überlebenskünste werden bis ans unermessliche vorangetrieben und man kommt nicht umhin, sich zu fragen, woher all diese Kraft kommt, die angesichts von Schmerz, Tod und weiteren Schicksalsschlägen so übermenschlich erscheint. Und so bietet sie 28 Tage lang den Deutschen die Stirn – 28 Tage lang, in denen Bewegung ins Ghetto kommt, in denen die SS Angst hat und die Juden triumphieren – 28 Tage, in denen die Wehrlosigkeit und Passivität mit Kampfesbereitschaft und Aktivität ringen und ein Aufstand im Ghetto entsteht. 28 Tage, die Geschichte schrieben.
„In der dunkelsten Stunde des jüdischen Volkes verloren unsere Heroen nicht ihren Mut und schlugen zurück.“
Doch trotz all der, in den Augen ihres Volkes heroischen Taten, ist sich Mira nicht immer sicher, wie weit sie gehen kann. Wo liegen ihre Grenzen, ihre Loyalität und Moral? Was für ein Mensch will sie sein? Ist sie wirklich die Heldin, für die sie alle halten?
Mira bleibt menschlich, sie wird real und auch wenn sie meint, den grausamen Widrigkeiten des Lebens oft nicht gewachsen zu sein, wächst sie in meinen Augen an ihnen. So kann sie trotzdem Glück empfinden, lieben, lachen und Hoffnung schöpfen. Aber vielleicht oder gerade deswegen besitzt Mira die Kraft zur Selbstbestimmung über Leben und Tod und die Art, wie sie ihr Leben verbringen will: Kämpfen oder Aufgeben? Einen sinnlosen oder einen bedeutungsvollen Tod sterben? Das macht sie mir so sympathisch.
Ich bin froh, dass es David Safier gelungen ist, eine charismatische junge Heldin zu erschaffen, die er wunderbar in den historischen Kontext, nämlich den Aufstand im Warschauer Ghetto, setzt.
Der Autor hat den realen Geschehnissen reale Personen hinzugefügt: Wie den Arzt und Reformpädagogen Janusz Korczak, Autor des „Kleinen König Macius“. Er hat seine kleinen Waisenkinder in das Vernichtungslager begleitet. Während diese kleinen Menschen in der Mittagshitze, angeführt von ihrem Waisenvater zum Umschlagplatz schritten, hielt dieser die Fahne des kleinen König Macius in der Hand. Die Kinder mussten nicht getrieben werden. Korczaks vorausschauendes Handeln hat den Kindern zwar nicht ihren Tod erspart, aber er hat es ihnen erleichtert. Selbstlos war er für seine Kinder da, obwohl auch er seinen Tod vor Augen hatte.
David Safier hat mit „28 Tage lang“ eine Brücke zwischen den Generationen geschlagen.
Für mich zollt der Autor jenen Tribut, die sich wehrten, sei es durch kämpfen, sei es durch sich versteckt halten, denn sie haben gezeigt, dass es sich immer lohnt zu hinterfragen und sowohl für die eigenen, als auch für die Rechte der anderen einzutreten.
Er beschäftigt sich mit den Aspekten der Selbstbestimmung, der allgegenwärtigen Frage, dem „Warum?“ und nicht zuletzt damit, was für ein Mensch man sein will. Nicht nur deshalb beweist dieses Buch Aktualität, Allgemeingültigkeit und Wichtigkeit.
Dieses Buch ist so lebendig, greifbar und filmisch geschrieben, dass ich mich beim Lesen fühlte, als ob sich das Gelesene auf einer Kinoleinwand abspielt.
Das Buch spricht Wahrheit und nimmt dabei „kein Blatt vor den Mund“. Es ist ein Werk, das einfach gelesen werden muss.
Mein Dank gilt David Safier, der uns damit nicht nur die Vergangenheit nahegebracht hat, denn unsere Gegenwart ist nur möglich, weil wir alle Abkömmlinge der Vergangenheit sind: wir brauchen die Brücke zwischen den Generationen.