„Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt. Träge Bäche mäandern, tragen die Sonnenkugel mit sich zum Meer, und langbeinige Vögel erheben sich mit unerwarteter Anmut – als wären sie nicht fürs Fliegen geschaffen – vor dem Getöse Tausender Schneegänse“
Kya ist sechs, als erst ihre Mutter und nach und nach auch alle ihre älteren Geschwister die alte, verwitternde Hütte im Marsch verlassen - auf der Flucht vor dem gewalttätigen, unzuverlässigen und alkoholabhängigen Vater, unter dessen Obhut (sofern man seltene Anwesenheit, wenig Geld und überhaupt keine Fürsorge als Obhut bezeichnen kann) sie Kya zurücklassen. Schnell muss sie lernen, alleine über die Runden zu kommen und als der Vater nach einigen weiteren Jahren ebenfalls verschwindet, fällt auch das wenige Geld, das die Invalidenrente einbrachte, weg. Kya, die fortan von den Bewohnern der Stadt nur noch das „Marschmädchen“ genannt wird, beginnt Muscheln zu sammeln und sie zu verkaufen. In ihrer Einsamkeit freundet sich mit Möwen und anderen Tieren der Marsch an. Oft hat sie tagelang kein Wort gesprochen, wenn sie mit ihrem kleinen Motorboot beim alten Jumpin´ vorfährt, um Muscheln und Räucherfisch gegen Benzin und Grieß zu tauschen.
Doch dann lernt sie Tate kennen, den Sohn eines Krabbenfischers und früheren Freund ihrer Geschwister, und verbringt einige schöne Sommer, während derer Tate ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beibringt.
Gleichzeitig wird direkt zu Anfang ein zweiter Erzählstrang eingeflochten, welcher etwa 10 Jahre später spielt. Die Leiche von Chase Andrews wurde in den Sümpfen gefunden, welche normalerweise als gesetzloses Gebiet gelten, doch für einen der ihrigen ergreifen die Dorfbewohner Partei und schnell fällt der Verdacht auf die einsame, verwilderte junge Frau im Marschland, die den Gerüchten nach eine Affäre mit Chase unterhielt.
„Der Gesang der Flusskrebse“ ist kein Buch zum Häppchen-Lesen und weglegen. Man sollte Zeit haben und sie sich nehmen, denn wenn man einmal angefangen hat, kann und will man nicht mehr aufhören. Nachdem ich dieses Buch gekauft habe, habe ich einen ganzen Nachmittag nur gelesen und auch während der Mahlzeiten hingen meine Gedanken durchgehend bei Kya.
Es ist ein Buch, das so schön ist und so schnell vertraut wird, dass mir danach mein eigenes Zimmer plötzlich sehr fremd vorkam. Während man die Geschichte verschlingt, wird man selbst gleichsam von den Seiten aufgesogen und in einer idyllischen Naturlandschaft ausgesetzt, welche leider Schauplatz von ganz und gar nicht idyllischen Vorgängen ist. Delia Owens lässt einem förmlich das Meer über die Fußspitzen fließen, den Wind durch die Haare streichen, und manchmal findet sogar ein Hauch der eisige Kälte des winterlichen Marschlands den Weg unter die dicken Decken.
Wie Kya selbst lässt sich dieses Buch nicht in Schubladen einordnen, sondern bleibt frei und der Geschichte treu. Wir begleiten Kya beim Erwachsenwerden, sind bei ihr, wenn sie Hunger leidet und wenn sie Freunde findet, oder sie ihren ersten Kuss erlebt, aber wir erfahren auch, wie sie wieder und wieder verlassen wird. Der zweite Erzählstrang verbindet Elemente von Liebesgeschichte und Kriminalgeschichte, vernachlässigt dabei jedoch keinesfalls die Erzählung über Kya selbst, welche wie ruhige, poetisch anmutende Inseln innerhalb dieser spannenden Mordermittlung erscheinen.
In Windeseile erobert „Der Gesang der Flusskrebse“ gerade die Favoritenlisten sämtlicher Buchläden wie auch Zeitschriften und es bleibt zu hoffen, dass wir in den kommenden Jahren noch mehr Romane von Delia Owens lesen dürfen. Bis dahin kann ich den "Gesang der Flusskrebse" wärmstens empfehlen - verbunden mit der Warnung, dass einen diese Geschichte mit ihren wunderbaren Protagonisten so schnell nicht mehr loslässt.