„Bald werden die Fäden gezogen, und dann gehe ich wieder zur Schule, und die Welt dreht sich weiter, denn das tut sie immer. Sie dreht sich sogar dann weiter, wenn es unmöglich sein müsste, wenn alles so unerträglich ist, dass man meint, nicht mehr weiterleben zu können. Aber das ist der Welt egal. Ein Herz hört nicht auf zu schlagen, auch wenn es nach menschlichem Ermessen eigentlich stillstehen müsste. Und der Mensch hört nicht auf zu atmen. Stattdessen stellt er fest, dass es immer noch Schlimmeres als das Unerträgliche gibt.“
Nachdem sie endlich ihren Adoptiveltern Amy und Paul von ihrer gebrochenen Rippe erzählt hat, erholt sich die 14-Jährige Evie nach ihrer Operation, bei der ihr ein Stück der gebrochenen Rippe und die ständigen Schmerzen genommen worden sind. Sie darf das Stück in einem Glas mit nach Hause nehmen und gemeinsam mit ihrem Onkel schnitzt sie aus der Rippe einen Drachen. Ihr größter Wunsch, nämlich dass der Drache lebendig wird, scheint nachts in Erfüllung zu gehen: In den gefürchteten Nächten, in denen sie normalerweise keinen Schlaf findet oder nur Albträume hat, spricht der Drache mit ihr, belehrt sie, ist nachts mit ihr unterwegs und hilft ihr, über die Dinge hinwegzukommen, die damals passiert sind. Ständig wird sie von den Erinnerungen an ihr Elternhaus und die damit verbundenen Ereignisse überwältigt und nur langsam gelingt es ihr, darüber hinwegzukommen oder zumindest stark genug zu sein, dass sie diesen standhält.
„Die Nacht gehört dem Drachen“ ist aus der Sicht der Protagonistin geschrieben und so fällt es umso leichter, sich in sie hineinzuversetzen. Das Buch ist nicht in Kapitel unterteilt, aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, es ermutigt eher noch, es umso schneller zu verschlingen.
Während des Lesens wird immer deutlicher, dass Evie in ihrer ehemaligen Familie missbraucht worden ist, aber ihre Erinnerungen daran sind immer nur bruchteilhaft. Umso wichtiger wird die Beziehung zu ihren Adoptiveltern und besonders zu ihrem Onkel, zu denen sie Vertrauen fasst und mit denen sie versucht, über das Erlebte hinwegzukommen.
Alexia Casale gelingt es, ein realitätsbezogenes Buch mit genau dem richtigen Funken Fantasie zu vereinen. Dadurch, dass Evie erst 14 Jahre alt ist, wirkt es auch in keiner Weise besonders unrealistisch, da es durchaus möglich ist, dass ein junges Mädchen genug Fantasie besitzt, um für sich selbst einen Drachen zum Leben zu erwecken.
Das Einzige, was mir an diesem Buch nicht gefallen hat, war das Ende. Ich empfand es als nicht passend zu dem, was meiner Meinung nach vermittelt werden sollte. Sehr schade, da die Enttäuschung nach dem durchgehend spannenden Vorangegangen so natürlich umso größer war.
Alles in allem ist das Buch aber unbedingt lesenswert, da es sich mit einem leider nur allzu aktuellen Thema beschäftigt, aber in keinster Weise mit erhobenem Zeigefinger geschrieben wurde, sondern von einer Autorin, die die Probleme eines Missbrauchsopfers und den Weg zurück in ein normales Leben möglichst wahrheitsgetreu schildern wollte.