Interview

Interview mit Andreas Steinhöfel (2021)

Bei den Lübecker Jugendbuchtagen im Mai 2021 war Andreas Steinhöfel für eine Lesung zugeschaltet. Die Redaktion der Blauen Seite hatte während der Lesung die Gelegenheit Fragen zu stellen. Aber auch das Publikum im Saal und das online-Publikum kam zu Wort.  
 

Blaue Seite/Theo: Sie haben uns gerade eine Szene mit vielen metaphorischen Elementen vorgelesen. Haben Sie beim Schreiben zuerst die Metapher im Kopf oder entwickelt sich das beim Schreiben? 
 
Andreas Steinhöfel: Ich behaupte mal, und gehe damit wahrscheinlich mit vielen anderen Autoren konform, dass man beim Schreiben ganz unbewusst diese Bilder benutzt. Man nennt das auch kollektives Unterbewusstsein: Es gibt gewissermaßen einen uns angeborenen Fundus an Bildern und Symbolen, die wir alle global teilen und entweder aktiv oder unterbewusst erkennen und somit einsetzen können. Andererseits kann es geschehen, dass wenn ich ein z. B. japanisches Buch lese, wahrscheinlich 80 % des Sinngehalts, der darin verpackt ist, gar nicht bei mir ankommt. Weil ich die Kultur und die Bilder, die Mythen, Sagen und Sprachspiele kaum kenne. 
Beim eigenen Schreiben weiß man, wo man mit einer Figur hinwill. Also versetzt man sich in sie hinein und stößt automatisch auf diese unbewusst eingesetzten Ersatzstücke und Symbole, die man bewusst erweitern oder reduzieren kann. 
 
BS/Theo: An welchem Punkt in Ihrem Leben haben Sie „Die Mitte der Welt“ geschrieben? Wie würden Sie das Buch jetzt schreiben, beziehungsweise würden Sie es überhaupt schreiben? 
                                                                                                                                                                                             
Andreas Steinhöfel: Ich war Mitte 30, als ich das Buch angefangen habe. Da hatte ich schon zehn Jahre in dem Geschäft gearbeitet und bekam langsam über Kollegen und Kolleginnen mit, dass die Kinder- und Jugendliteratur bestimmten Einschränkungen unterliegt.  
Es gibt Dinge, die sind für Kinder und Jugendliche erstmal nicht interessant – das kann ich nachvollziehen. Es gibt aber auch Dinge, über die man angeblich „besser nicht schreibt oder redet, weil dann die Kinder zu sensibel oder zu ungehalten reagieren“. In Verlagssprache heißt das: „Das Buch verkauft sich nicht.“ Bei „Die Mitte der Welt“ war mir das alles egal.  
Ich sagte: „Ich wollte das Buch  genau so machen, wie ich das für richtig halte – und wenn mein Verlag das nicht verlegt, dann geh ich woanders hin. Und wenn die das auch nicht verlegen wollen, dann verlegt es eben keiner.“ Das war damals eine gewachsene Abwehrhaltung gegen die ökonomischen Sachen, die einem dauernd um die Ohren fliegen.  
Es dauerte ewig, bis es fertig war. Es gab einen Verlegerwechsel und ich hing ein bisschen in der Luft, auch mit dem Erzählen selber. Der neue Verleger Klaus Humann hat mir dann aber Mut gemacht, weiterzuschreiben – beziehungsweise hat er mir einfach in den Hintern getreten, nach dem Motto: „Mach es endlich und heul mich nicht voll, dass das nicht klappt. Das kann ich nicht leiden.“ Dann wurde das Buch sehr schnell fertig, es wurde sehr erfolgreich und das ist es heute noch.  
Würde ich es heute noch so schreiben? Ich denke ja. Aber ich weiß nicht, ob ich das noch könnte, denn das Leben hinterlässt Spuren in Menschen. Bestimmte Themen wären mir inzwischen wohl wichtiger. Das Ganze war damals ein Schritt nach vorne in ein schwules Selbstverständnis, das damals immens gewachsen ist. Vielleicht würde ich es heute nicht so stark in den Vordergrund stellen. Oder das Thema des Schwulseins gar nicht mehr ansprechen, weil es inzwischen in der Literatur so abgekniffen ist. Schwer zu sagen.  
Aber die Erzählweise als solche, das Interpretieren, das unchronologische Erzählen verschiedener Zeitebenen, das mag ich immer noch sehr. Ich sitze an einem Roman für Erwachsene, da sind auch extrem viele Erzählformen drin. Und ich hoffe, dass ich das Ding irgendwann beende. 

BS/Theo: Hätten Sie das Buch aus einer anderen Perspektive, zum Beispiel Glass’, geschrieben, wäre es dann immer noch ein Kinder- und Jugendbuch gewesen?      
 
AS: Aus Glass‘ Perspektive vielleicht auch, weil sie als Figur in dem Roman wenig erwachsen ist. Ich habe darüber immer wieder nachgedacht, auch weil häufig die Frage nach einer Fortsetzung kommt – die ich natürlich nicht schreiben werde. Aber als ich mal länger mit dem Gedanken gespielt habe, da dachte ich, wenn, dann würde ich es aus der Perspektive von Dianne erzählen. Sie und Glass bleiben ja am Ende des Romans quasi zurück, während Phil nach Amerika geht. Die Geschichte würde sich durch Briefe – heute wären es dann E-Mails oder Chats – von Phil aus Amerika weiterentwickeln. Aber im Hintergrund stünde dann die Geschichte zwischen diesen beiden Frauen. Das war immer mal so eine Idee. Aber Dianne wäre aus der Jetzt-Sicht auch eine junge Frau.  
Ich versuche es immer so zu halten, dass sich die künstlich gezogenen Grenzen zwischen Kinder-, Jugend-, und Erwachsenenbuch auflösen. Ich kenne wenige Jugendliche, die nur Jugendbücher lesen. Sie lesen eben Bücher und gucken in der Regel nicht, ob es speziell für sie verfasst ist. So versuche ich auch zu schreiben, also gar nicht mit einer bestimmten Zielgruppe im Kopf. 
 
Zuschauer: Ist diese Geschichte überhaupt wahrscheinlich? 
 
AS: (lacht) Meine Lieblingsfrage. Ich habe ganz ehrlich keine Ahnung. Ich weiß, dass ich eben sehr lustige Geschichten schreibe, und je bekloppter die Geschichten, desto eher wird man gefragt, ob das wirklich passiert ist.  
Es sollte bitte, bitte kein Qualitätskriterium für Literatur sein, ob irgendetwas wahrscheinlich ist. In der Kunst und der Literatur geht es immer um Wahrhaftigkeit. Es geht darum, bestimmte Gefühle auszudrücken, bestimmte Lebensformen zu beschreiben, mit denen man sich als Leser wahlweise identifiziert oder nicht. Es geht darum, Identifikationsangebote zu machen. Und wenn ich Bücher über wahrscheinliche Ereignisse schreiben würde, dann wäre das so etwas wie: „Neulich war ich einkaufen bei Lidl …“ Wer will denn so etwas lesen? Das kann man über eine Seite einigermaßen lesbar gestalten und dann verlässt einen die Lust, jedenfalls geht es mir so. Dieses Zeug konnte ich noch nie leiden. Mir geht es um den eher märchenhaften Ton, der auf Wahrhaftigkeit beruht. 
 

BS/Theo: Thore fragt, ob Sie Ihr Buch gerne in der Schule gelesen hätten, oder ob Ihnen das irgendwie geholfen hätte. 
 
Andreas Steinhöfel: (lacht) Also, sagen wir mal: Angesichts der Alternativen hätte ich lieber sowas gelesen als den Krempel, der mir damals untergekommen ist – sowas wie „Der grüne Heinrich“ und anderes komplett dröges Zeug. Das ist jetzt aber wirklich auch lange, lange her. Ich hoffe, das hat sich bei euch geändert … 
Ich hatte schon Streit mit Deutschlehrern darüber, wie passend es ist, bestimmte Klassiker Jugendlichen unter die Nase zu reiben, die zwar nicht zu doof sind, den Klassiker zu verstehen, aber das darin beschriebene Lebensgefühl schlecht teilen können. Goethes Faust zum Beispiel. Das ist eines der größten Dramen, das jemals geschrieben wurde, es ist absolut genial. Aber ich behaupte mal, als Achtzehnjähriger wirst du vieles von der Genialität darin nicht erkennen können, weil dir einfach diese Lebenserfahrung fehlt, die Goethe hatte, als er das Ding geschrieben hat. Und dazu kommt: Welcher Jugendliche will wissen, was einen alten Sack mit Mitte fünfzig, der noch mal unbedingt eine Blonde flachlegen will, so umtreibt? Und das ein ganzes Stück lang? Ich glaube, man braucht ein bisschen eigenes Leben, um da einen Zugang zu finden.  
Das ist ein ewiger Kampf. Ich hoffe, dass die Lehrpläne in Schulen mittlerweile etwas angepasst sind und ihr spannendere Sachen zu lesen bekommt. Ob „Die Mitte der Welt“ dazugehört, das kann ich schlecht sagen, denn da sind die Geschmäcker verschieden. Die meisten begeisterten Briefe bekomme ich von Leuten, die das Buch außerhalb des Unterrichts lesen. 
 
Zuschauer: Wie bewerten Sie die Verfilmung? Waren Sie involviert, wie betrachten Sie die Abweichungen vom Buch – zum Beispiel, dass Gable in der Verfilmung komplett fehlt? 
 
Andreas Steinhöfel: Die Verfilmung, die hat ewig auf sich warten lassen. Es gab zahllose Versuche, ein passendes Drehbuch zu schreiben. Ich bin alleine durch den häufigen Verkauf der Rechte reich geworden. Jakob Erwa, der spätere Regisseur, hatte mich schon nach den Rechten gefragt, als er noch Filmstudent war. Da waren die gerade an jemand anderen vergeben, aber er blieb hartnäckig dran, und als er in Österreich schon eine eigene TV-Serie gedreht hatte, kam er nochmal und fragte: „Wie sieht es denn aus?“ Da lagen die Rechte gerade wieder frei.  
Er bot mir an, am Drehbuch mitzuwirken, was ich abgelehnt habe. Ich schreibe selbst auch Drehbücher, und es ist nicht gut, wenn du diverse Instanzen hast, die ständig alle ihren Senf dazugeben. Schon gar nicht, wenn der Autor dazugehört, der dann immer was zum Meckern und Maulen findet. Also habe ich Jakob gesagt: „Mach das mal, unbeeindruckt und unbeeinflusst von mir. Ich gucke mir das später an und finde es entweder gut oder schlecht. Mehr kann ja nicht passieren.“ Das Resultat fand ich sehr, sehr gut. Ich sage aber dazu, dass mir bei der ersten Sichtung des Rohschnitts die Kinnlade ein bisschen herunterfiel. Ich dachte mir: Okay, das ist jetzt also dein Buch?  
Jakob ist einen Weg gegangen, den ich als Autor und auch als Regisseur gar nicht gewählt hätte: Er hat sich auf die Liebesgeschichte zwischen Phil und Nicholas konzentriert und auf die Dreierkombo, wo Kat dann auch dazuspielt. Und das hat er auch völlig richtig so gemacht. Außerdem hat er die Geschichte im Jetzt angesiedelt und nicht in irgendeiner vagen Vergangenheit. Für mich war das im Kopf aber immer etwas in die Richtung Technicolor und Breitwand und supertolle Bilder. Also komplett anders als das, was Jakob gemacht hat, und überhaupt nicht zeitgemäß. Aber es hat mir wahnsinnig gut gefallen und das tut es jetzt noch. Ich hätte aber auch kein Problem, wenn jemand eine komplett andere Sichtweise einnehmen würde. Für mich ist „Die Mitte der Welt“ immer ein Familienroman gewesen. Da Jakob sich auf die Liebesgeschichte gestützt hat, bleiben Figuren und ganze Handlungsstränge auf der Strecke. Das ist beim Film vor allem der Länge geschuldet. Eine Drehbuchseite ist eine Minute Film, das ist so die Daumenregel. Wenn man also versucht, 450 Seiten Roman in einen Spielfilm zu packen, dann wird das ein sehr, sehr langer Film. Dann müsste man eine Serie daraus machen und unterliegt plötzlich wieder bestimmten Gesetzen des Serienformates, mit Cliffhangern usw.  
Um das Buch komplett originalgentreu zu verfilmen müsste man es so machen wie ich beim Schreiben: mit einem Ihr-könnt-mich-mal-alle,-ich-mach-es-einfach. Aber da sind beim Film enge ökonomische Grenzen gesetzt. Film ist wahnsinnig teuer, da kann man es sich nicht leisten, irgendwas in die Luft hinein zu fabrizieren. 

RedakteurRedakteur: Theo, Jan
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