Interview mit Cornelia Funke
Am 8.11.2016 hatten die Redakteure der Blauen Seite die Gelegenheit, die Autorin Cornelia Funke im Rahmen ihrer Lesereise zu „Die Feder eines Greifs“ über dieses Buch und viele andere zu interviewen.
Blaue Seite: Sind Sie jemand, der den Mut hat, „zu beschützen, zu behüten und zu erhalten“ [aus dem Vorwort von „Die Feder eines Greifs“, Anm. d. Red.]?
Cornelia Funke: Ich hoffe sehr! Ich kann Menschen wirklich nicht verstehen, die ihr ganzes Leben lang nur nach Geld und Erfolg streben. Das finde ich eine sehr absurde Art, sein Leben auszurichten. Ich bin, seit ich vierzehn bin, Mitglied bei Amnesty International und Greenpeace. Ich habe schon immer politisch gearbeitet und mich auch im Naturschutz engagiert. Ich glaube fest daran, dass sich die Welt in einem scheußlichen Zustand befindet und es unsere Verantwortung ist, sie besser zu machen. Auch wenn wir auf verlorenem Posten stehen.
Blaue Seite: Was hat Sie nach so langer Zeit – 19 Jahre – dazu gebracht, wieder ein Buch in der Drachenreiter-Reihe zu schreiben?
Cornelia Funke: Ich arbeitete in LA mit MIRADA und einigen Künstlern, schreibenden und zeichnenden, an einem digitalen Projekt zu „Drachenreiter“. Wir suchten lange nach dem Format, entschlossen uns aber schließlich, ein neues Abenteuer meiner Helden in Bildern, also als Comic, zu erzählen. Die Geschichte habe ich mit David Fowler entwickelt, einem kanadischen Drehbuchautor,, mit dem ich auch schon bei meiner Mirrorworld App zusammen gearbeitet hatte. Das Skript hat er dann allein geschrieben- ganz wunderbar, wie ich finde! Inzwischen steht auch ein Storyboard und das Charakterdesign aller Figuren ist fertig. Bis die ganze Geschichte bebildert ist, wird aber sicher noch ein Jahr vergehen. Während dieser Zusammenarbeit musste ich den anderen natürlich meine Figuren erklären – und dabei bekam ich wieder solche Lust auf sie alle, dass es plötzlich ganz einfach war, das neue Buch zu schreiben.
Blaue Seite: Ist es dann eine neue Geschichte?
Cornelia Funke: Ja, noch haben wir nur einen Arbeitstitel „Das Vulkan-Abenteuer“,„The volcano-adventure“. Die Haupthelden sind Fliegenbein, Schwefelfell und Lola, also die kleineren Figuren. Es geht um das Verschwinden zahlloser Fabelwesen, um Fliegenbeins verlorenen Bruder Freddie (ich bin ein Fan von Freddie Mercury, dem ehemaligen Sänger von „Queen“, also war er die Inspiration) und...mehr sollte ich wirklich noch nicht verraten!
Blaue Seite: Wie suchen Sie die Zitate zu den Büchern? Da gibt es sehr tiefgründige Zitate bis hin zu „Winnie Pu“. [Wobei wir Winnie Pu natürlich auch tiefgründig finden!, Anm. d. Red.]
Cornelia Funke: Ich habe erst gedacht: „So, ich suche ich mir einfach lauter Zitate von Naturschützern und so weiter.“ Das wurde mir aber zu trocken, ich wollte gerne eine Mischung von literarischen und Naturschutzzitaten, z.B. von Jane Goodall, David Attenborough – das sind alles Helden von mir. Die Suche nach den richtigen Zitaten hat großen Spaß gemacht, aber es ist auch immer sehr mühsam, wie ich noch von Tintenherz weiß. Irgendeins fehlt immer, bei anderen wird das Copyright zum Problem, oder die Übersetzung. Ich habe die meisten auf Englisch gesucht und oft war keine deutsche Fassung zu finden oder, was schlimmer ist, eine sehr schlechte. Manchmal bekommt man die Rechte für ein Zitat auch nicht und ...man sucht wieder! Also...viel Arbeit, aber ich finde, es lohnt sich.
Blaue Seite: Sind zuerst die Kapitel da oder die Zitate?
Cornelia Funke: Erst die Kapitel. Ich frage mich dann immer: „Was würde denn jetzt passen?“ Manchmal mache ich es aber auch so, dass ich Zitate sammle, während ich schreibe, und dann sehe, was passt. Es geht ein bisschen hin und her.
Blaue Seite: Wie lange brauchen Sie für eine Zeichnung?
Cornelia Funke: Ich schaffe am Tag vielleicht drei oder vier. Aber für dieses Buch musste ich am Ende 108 Zeichnungen anfertigen, weil ich die ersten Kapitel sehr üppig illustriert habe. Damit habe ich mir ganz schön ins Knie geschossen. Als ich auf meinem langen Esstisch das Layout auslegte – also alle Seiten des Buches samt Illustrationen - stellte ich fest, dass ich viele Illustrationen für die ersten zehn Kapitel hatte, aber wesentlich weniger für den Rest. „Ach Gott,“ dachte ich, „jetzt musst du für all die anderen Kapitel genau so viele machen!“ Und das habe ich dann... 108!
Blaue Seite: Trennen Sie den Mal- von dem Schreibprozess? Oder findet das gleichzeitig statt?
Cornelia Funke: Ich habe Notizbücher, in denen ich nicht nur die erste Fassung des Buches schreibe, sondern auch zeichne. Ich habe zum Beispiel alle Affen gezeichnet, bevor ich sie beschrieb oder entschied, welche von ihnen Helden meiner Geschichte werden. Also, wie sieht ein Gibbon aus? Das lässt sich wesentlich gründlicher herausfinden, wenn man ihn zeichnet. Makaken, Fauläffchen... ich hatte keine Ahnung, wie die Unterschiede sind. Diese Zeichnungen waren alle farbig und wir haben zuerst überlegt, ob wir sie im Buch übernehmen, aber das wird sehr teuer, und ich wollte nicht, dass das Buch zu teuer wird. Aber es ist wunderbar, wenn ein Verlag sich so etwas überhaupt vorstellen kann. Vielleicht machen wir es irgendwann mal in einer Geschenkausgabe. Was die Schwarzweisß-Illustrationen betraf, so habe ich dieselbe Technik verwandt wie beim ersten Buch, Feder und Tinte. Eiegntlich arbeite ich inzwischen lieber mit Bleistift, wie in Reckless, aber ich wollte nicht, dass die beiden Drachenreiter-Bücher sich da unterscheiden.
Blaue Seite: Verändern sich die Zeichnungen dann auch noch mal, wenn man zum Beispiel merkt: „Okay, der Affe hat jetzt doch eher einen anderen Charakter.“?
Cornelia Funke: Ja, absolut. Ich habe die Greife am Anfang gezeichnet, weil ich mir einfach vorstellen wollte, wie sie ungefähr aussehen würden. Während ich dann schrieb, wurde es immer deutlicher, dass sie doch ein bisschen anders aussehen. Zum Beispiel, dass Shrii fleckig ist, ein bisschen wie eine Marmorkatze. Das ist erst später gekommen. Einige Sachen haben sich sehr verändert.
Blaue Seite: Und wie sind Sie auf den Namen MÍMAMEIƉR [Unterschlupf für Fabelwesen in Norwegen, Anm. d. Red.] gekommen? Wir haben es auf Wikipedia nachgeschlagen und es ist wohl ein mythologischer Baum ...?
Cornelia Funke: Ja. Das ist ein mythologischer Baum aus dem skandinavischen Mythos, unter dem man Schutz suchen kann. Ich fand ihn perfekt als Namen für diese Zuflucht.
Blaue Seite: Kannten Sie diesen Baum schon vorher?
Cornelia Funke: Nee. Ich habe überlegt: „Was für einen skandinavischen Namen kann ich für diese Zuflucht nehmen?“ Und dann habe ich bei meiner Recherche skandinavischer Mythen diesen Baum entdeckt und gedacht: „Na, wie perfekt ist denn das?“
Blaue Seite: Es gibt auf der Insel auch einen Baum, unter dem die Helden Schutz suchen. Der würgt sonst die Affen. Ist das auch ein MÍMAMEIƉR?
Cornelia Funke: Nein, das ist ein indonesischer Baum. Ein MÍMAMEIƉR wächst nur im kalten Norwegen und würde, glaube ich, nicht würgen (lacht). Das ist eine etwas gewalttätigere Variante in Indonesien ... Ich weiß nicht, ob ihr schon mal einen Redwood [Mammutbaum in den USA, Anm. d. Red.] gesehen habt, der definiert die eigene Vorstellung von „Baum“ auch noch mal neu.
Ich bin gerade dabei, ein Stück Land in den Bergen von Santa Monica zu kaufen – neuneinhalb Acres, das sind, glaube ich, drei Hektar. Das werde ich wild halten, das heißt ich werde es vor Bebauung schützen. Ich nenne es den „Saum des Himmels“ [Ort aus dem ersten Drachenreiter-Buch, Anm. d. Red.]. Da seid ihr alle später eingeladen. Ich hoffe, dass eines Tages Kinder aus aller Welt, Erwachsene aus aller Welt, Künstler aus aller Welt dorthin zu Besuch kommen und zeigen, wie sehr die Natur all unsere Künste inspiriert und wie wichtig sie ist, um unsere Rolle auf diesem Planeten zu verstehen. Ich will ein Tipi, ein Indianerzelt dort aufstellen – natürlich, schließlich hab ich als Kind Winnetou gelesen.- kurz, ich werde das ganze nächste Jahr diesem Projekt widmen. Und mal sehen, was der Saum des Himmels mir alles an Geschichten zuflüstert.
Blaue Seite: Mit welchem Charakter aus „Die Feder eines Greifs“ würden Sie am ungernsten in einem Zimmer sein?
Cornelia Funke: Mit Kraa [das grausame Oberhaupt der Greife, Anm. d. Red.]. Und Nakal der Nasenaffe [sein Gehilfe, Anm. d. Red.] ist bestimmt auch nicht sehr angenehm. Der würde wahrscheinlich gemeine, hinterlistige Sachen machen. Ansonsten ... mit den anderen verstehe ich mich eigentlich ganz gut. Mit denen würde ich schon ganz gerne eine bisschen Zeit verbringen. Das habe ich ja auch, beim Schreiben.
Blaue Seite: Welche Fabelwesen würden Sie am liebsten ins echte Leben holen?
Cornelia Funke: Drachen. Immer schon Drachen. Das ist der eine Wunsch in meinem Leben, der mir wohl nicht in Erfüllung gehen wird: dass ich einen Drachen im Garten habe. Das war immer schon mein Traum. Und das ist auch immer die Antwort, wenn Leute mich fragen, welche Figur ich aus einem Buchherauslesen würde: Natürlich den Drachen. Dann würde ich auf dem fliegen, statt im Flugzeug ...
Blaue Seite: Glauben Sie denn an Drachen?
Cornelia Funke: Na ja, glauben ist so eine Sache. Ich hoffe, dass es sie irgendwo gibt. Ich fürchte, auf diesem Planeten im Moment nicht. Aber ich würde nicht sagen, dass es sie gar nicht gibt. Weil ich glaube, dass es alles, was wir uns vorstellen können, auch irgendwie gibt. Und natürlich kann es sein, dass diese Erinnerung, die wir haben, von den Dinosauriern kommt. Dass wir uns im Grunde an irgendetwas in uns erinnern. ... Es gibt dieses schöne Zitat eines Physikers: Wir sind alle aus Sternenstaub gemacht. Das heißt, jedes unserer Moleküle hat es schon mal gegeben. Also wer weiß, Vielleicht erinnern wir uns tatsächlich an die Dinosaurier.
Blaue Seite: Der Name Winston, der auch im Buch vorkommt, stammt aus Ihrer Fan-Community auf Ihrer Website. Er ist ja auch ziemlich aktiv im Chat. Bekommen Sie jetzt viele Anfragen, auch andere Namen in die Bücher zu schreiben?
Cornelia Funke: Erstaunlicherweise noch nicht. Ich glaube, das hat sich noch nicht so herumgesprochen, dass ich das gemacht habe. Also, Winston weiß es. Aber er hat das Buch noch nicht gelesen. Es ist zwar übersetzt ins Englische, aber wird erst 2017 in den USA, England und den anderen englischsprachigen Ländern erscheinen.
Blaue Seite: Schreiben Sie zuerst denn auf Englisch oder auf Deutsch?
Cornelia Funke: Ich schreibe auf Deutsch und Anthea Bell hat den Text gerade ins Englische übersetzt.
Blaue Seite: Viele Menschen haben ja eine „natürliche Abneigung“ gegen Ratten. Wieso haben Sie Ratten genommen und nicht zum Beispiel Mäuse?
Cornelia Funke: Ja, das frage ich mich im Nachhinein auch, muss ich zugeben. Ich glaube, es hatte mit der Größe zu tun. Ich kann leider nicht behaupten, dass ich ein Rattenfreund bin. Ich hatte so viele Ratten in meinem Garten in Los Angeles, dass ich den Rattenmann kommen lassen musste, nachdem sie Nester in meinem Garten-Sofa bauten. Ich habe auch Ratten in meinem Hühnerstall in Hamburg gehabt, die die Mäuse gefressen haben. Aber.... von allen Spezies auf diesem Planeten sind uns die Ratten am ähnlichsten. Sie kümmern sich um ihre Alten und Kranken, das tun die meisten Tiere nicht. Und wenn ihr zwei Rattenstämme auf einer Insel aussetzt, rotten die sich gegenseitig aus. Wie unseresgleichen es auch gern tut. Wir sind den Ratten soähnlich, dass wir sie zu ihrem Unglück deshalb auch so häufig für Tierversuche benutzen. Je mehr ich mich für den Umweltschutz engagiere, desto mehr stelle ich fest, wie wenig ich über die Tiere weiß, die ich in meinen Geschichten vorkommen lasse und wie oft man Klischees verwendet. wie sehr wir sie idyllisieren und romantisieren, weil wir sie nicht wirklich kennen.
Blaue Seite: Ist das ein Grund, warum Sie jetzt auch „böse“ Fabelwesen mit eingebunden haben, die Greife? Im ersten Teil gibt es die nicht wirklich – nur Nesselbrand, aber der ist auch menschgemacht ...
Cornelia Funke: Absolut. Mein Verhältnis zur Natur hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Mir war nicht bewusst, wie sehr die europäischen Landschaften menschengemacht sind, dass der Rhein keineswegs immer so begradigt floss, wie er es nun tut, dass ein deutscher die Forstwirtschaft erfunden hat und dass wirkliche Wildnis nicht einmal 1% der Landfläche ausmacht. In den USA sind zum Vergleich etwa 25% der Landfläche geschützt. Als ich zum ersten Mal zehn Stunden durch die Wildnis des Great Teton und Yellowstone National Park fuhr, hat mir das fast Angst gemacht! Die Landschaft war mir in ihrer Ungezähmtheit und Weite so fremd. Und dann spürte ich irgendwann die Verzauberung, die Sehnsucht nach all dem, was nicht-menschengemacht in dieser Welt ist. Neuseeland, Australien, Hawaii ... die Neue Welt hat mein Bild von diesem Planeten für alle Zeit verändert. Und ich lerne jeden Tag mehr, Natur auch als bedrohlich zu begreifen und das als Teil des Zaubers zu sehen. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich mit meiner Assistentin und sehr guten Freundin Angie, die in Amerika aufgewachsen ist, durch Grand Teton fuhr und, als sie vorschlug, eine Wanderung durch den Wald zu machen, ausrief:„Aber, die Bären! Was ist mit den Bären, die werden uns auffressen!“ Worauf Angie nur die Schultern zuckte und sagte: „Ach was! Wahrscheinlich nicht.“ Als Europäerin kann ich mit dem „wahrscheinlich“ schwer leben, aber fùr Amerikaner ist es ganz normal, dass es Bären, Berglöwen, Kojoten und Giftschlangen gibt – Tiere, die in Europa schon lange ausgerottet sind. Wir kennen es schon lange nicht mehr, dass wir die Welt mit Tieren teilen, die uns tatsächlich gefährlich werden könnten. Sieht man mal von Zecken ab Und die Wolf-Debatte bringt das Thema in Europa auf den Tisch. In Los Angeles schüttele ich immer meine Schuhe aus, wenn ich sie draußen hatte, weil vielleicht eine Schwarze Witwe drinsitzt. Klapperschlangen verirren sich selbst in unsere Gärten und beim Canyonspaziergang geht man an Warnschildern vor Berglöwen vorbei, die gern ohne Warnung angreifen. Das hilft alles, Natur weniger zu romantisieren. Man versteht, dass man Teil der Natur ist und auch ein Beutetier sein kann. Das gibt einem ein vollkommen anderes Gefühl. Vielleicht kann man es Demut nennen. Ich weiß noch, als ich in Malibu am Strand zum ersten Mal einen Grauwal aus dem Wasser auftauchen sah. Eine solche Begegnung definiert alles neu. Man denkt, man hat bisher im Zoo gelebt. Und was muss der Mensch tun, um die Wildnis zu schützen, für die er die größte Bedrohung darstellt?
Ich war gerade in Neuseeland, wo es ursprünglich keine Raubtiere gab, was nun den Premierminister hat verkünden lassen, dass Neuseeland bis 2020 alle Raubtiere töten wird - ein meiner Ansicht nach sehr problematischer Naturschutzansatz. Aber Neuseeland verliert 70 000 einheimische Vögel pro Nacht. Was ist da richtig? Wird menschliches Eingreifen es erneut nur schlimmer machen? Mit all diesen Fragen beschäftige ich mich gerade intensiv.. Der Wolf schläft eben nicht neben dem Lamm, und wir sollten unseren Kindern dieses romantisierte Naturbild nicht vermitteln. So funktioniert unser Planet nicht. Aber es ist interessant, dass wir als Menschen davon träumen - obwohl wir selber nicht so sind und das Lamm ja selber fressen.
Blaue Seite: In Ihren Büchern fragt sich Fliegenbein, aus welchem Lebewesen er gemacht wurde. Wissen Sie das denn selbst?
Cornelia Funke: Nein, die Frage habe ich jetzt auch schon einmal bekommen. Ich liebe diese Frage, weil ich es eben nicht weiß. Ich habe inzwischen von Lesern gehört, dass sie denken, es ist eine Spinne. Das fürchtet er, glaube ich. Aber er fürchtet noch viel mehr, dass es eine Kakerlake ist. Das ist seine größte Angst. Aber ich habe keine Ahnung, woraus er gemacht ist. Ich hoffe sehr, dass ich das im nächsten Buch herausfinde. Bei manchen Sachen frage ich nicht nach. Ich bin kein Autor, der sagt: „So, das ist die Figur, das ist ihr Hintergrund, ich kann jetzt genau beschreiben, wo der herkommt.“ Ich bin eher so: „Oh, guck mal, die Figur da! Was weiß ich denn über den?“ Aber ich weiß nicht alles, und ich halte mich oft respektvoll zurück. Und manche Figuren, wie Staubfinger zum Beispiel, die wollen das auch. „Komm mir bloß nicht zu nahe! Und finde jetzt bloß nicht raus, wie meine Kindheit war, okay?!“ Nicht so wie in vielen amerikanischen Filmen, wo immer alles am Ende erklärt wird: „Ja, das ist weil er mit fünf Jahren damals dies und das gemacht hat …“ So einfach sind Menschen nicht. Ich versuche, meine Figuren respektvoll zu behandeln. In der Hinsicht weiß ich wahrscheinlich das meiste über die Figuren in Reckless, also über Fuchs und Jacob. Da habe ich mich am tiefsten in die Kindheit versetzt und habe genau hingeguckt.
Blaue Seite: Wieso haben Sie das Cover von dem Buch nicht selbst gezeichnet?
Cornelia Funke: Weil ich gerade an den 108 Zeichnungen saß und dachte: „Oh Gott, wie soll ich jetzt auch noch das Cover schaffen?!“ Daraufhin habe ich Jin Zeng meine Zeichnungen von Shrii gegeben und von TerTaWa. Sie ist eine fantastische amerikanisch-chinesische Illustratorin, mit der ich in LA auch schon für die Reckless-App und die neuen Reckless-Umschläge gearbeitet habe. Ich war so glücklich über die zwei Cover, die sie für Drachenreiter und den Greif gemacht hat;, und sie macht das in drei Tagen! Das ist unglaublich. Als nächstes möchte ich mit ihr ein Bilderbuch machen, weil sie einfach so unglaublich ist.
Blaue Seite: Wissen Sie schon, worum es in dem Bilderbuch gehen wird?
Cornelia Funke: Ja, es ist eins, das in Deutschland schon erschienen ist. Es heißt „Der verlorene Engel“ und spielt in LA. Kerstin Meier hat es wunderbar illustriert, aber auf comicartige Weise und ich möchte es jetzt noch einmal von Jin fast filmisch illustrieren lassen , sodass man Los Angeles wirklich darin sieht. Es geht um einen Jungen namens Dash, der einen Schutzengel hat, Grant, benannt nach Cary Grant. Dash ist sicher, dass seiner besten Freundin Paula der Schutzengel abhanden gekommen ist, weil ihr andauernd schlimme Sachen passieren. Also macht er sich auf die Suche nach dem Engel. In Los Angeles sitzen all die Schutzengel, die überanstrengt von ihrer Arbeit sind, natürlich auf dem Hollywood Zeichen. Ausserem habe ich selbst mein erstes Bilderbuch geschrieben UND illustriert. Es heißt „Das Buch, das niemand las“. Es geht um ein kleines Buch in einer unglaublich eleganten Bibliothek. Ich habe den Büchern die Gesichter von Schriftstellern gegeben, von Robert Louis Stevenson, Günter Grass, Toni Morrison, Victor Hugo und Shel Silverstein, vielen meiner Helden. Und das kleine Buch ist Maurice Sendak. Der will einfach gelesen werden. Aber die anderen sind alle so vornehm, wollen keine Fingerabdrücke in den Büchern und so weiter. Deshalb flieht er aus der Bibliothek. Und findet einen Leser..
Blaue Seite: Es soll ja auch noch ein Buch geben, das die Verschmelzung von der Tinten- und der Spiegelwelt ist. Können wir dazu schon etwas erfahren oder ist das alles noch geheim?
Cornelia Funke: Nee, das Buch heißt „Die Farbe der Rache“ und spielt fünf Jahre nach Tintentod. Und ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, wer die Rache vollzieht, es ist Orpheus. Ich habe im Moment vor, das Buch in drei Installationen zu veröffentlichen, damit ihr nicht alle so lange warten müsst: jeweils fünfzehn Kapitel. Der Verlag hat sich auch schon dazu bereit erklärt. Wir werden es parallel auch als Hörbuch herausbringen. Die ersten fünfzehn habe ich geschrieben, also muss ich noch zwei Teile schreiben. Die Rache ist vollzogen und es wird um die Macht des Bildes gegen die Macht des Wortes gehen. Denn in den ersten drei Tintenbüchern geht es ja nur um das Wort. Da ich selbst auch Illustratorin bin, frage ich mich oft, ob und wann das Bild mehr kann als das Wort. Von der Musik mal ganz zu schweigen. Die 15 Kapitel haben sich sehr leicht geschrieben, und großen Spaß gemacht. Ihr werdet allen Figuren begegnen, die ihr kennt. Ich habe noch keine Ahnung, wann ich die nächsten fünfzehn schreiben kann, aber ich habe es demnächst vor. Darin wird man sehen, dass die Tintenwelt die Spiegelwelt ist, nur 500 Jahre früher und dass das Wort von Fenoglio dort nur in einem kleinen Teil Norditaliens alle Regeln bestimmt,. Orpheus hat das herausgefunden, als er auf seiner Flucht in einem kleinen Ort in Südtirol unterkam und dort erfuhr, dass Worte dort auch von Hexen benutzt werden. Was ihm natürlich ganz andere Wege der Rache eröffnet. Es wird eine der Silbererlen vorkommen, in denen die Elfen gebannt sind und da die Tintenwelt um 1360 angesiedelt ist und die Spiegelwelt um 1860, wird man die Verbannung der Erlelfen 500 Jahre vorher erleben. Bei der Spiegelwelt kommen sie im vierten Buch ja alle wieder zurück. Ich schreibe gerade Reckless vier und ich schreibe „Die Farbe der Rache“ parallel. Das macht sehr viel Spaß.
Blaue Seite: Und wissen Sie schon, in welche Richtung das neue Reckless geht?
Cornelia Funke: Japanische Märchen. Und es heißt „Die Inseln der Füchse“. Denn in Japan gibt es einen sehr mächtigen Fuchsmythos, den Kitsune. Der Kitsune sieht aus wie ein Fuchs, hat mehrere Schwänze und ist meist eine Frau. Im Mittelalter glaubten die Menschen sogar, dass die mächtigsten Adeligen viele Füchse hatten, die ihnen dienten und dadurch sehr gefährlich waren. Noch heute kann man sich in japanischen Schreinen einen kleinen Tonfuchs holen und mit nach Hause nehmen. Den füttert ihr und wenn er euch euren Wunsch erfüllt hat, bringt ihr ihn zurück in den Tempel. Es ist natürlich fantastisch, mit diesem Motiv zu arbeiten, da ich eine Figur wie Fuchs habe, die man in Nihon, wie Japan hinter den Spiegeln heisst, leicht für einen Kitsune halten wird. Ich habe 150 Seiten geschrieben.
Blaue Seite: Welche ist denn die Farbe der Rache?
Cornelia Funke: Die Farbe der Rache ... oh, das ist eine gute Frage. Der Schmerz ist rot, der Tod ist schwarz, ich weiß noch nicht, welche Farbe die Rache hat. Ich glaube, sie ist gelb. So ein giftiges Gelb, oder? Wahrscheinlich ... Gute Frage. Ich werde es herausfinden.
Blaue Seite: Uns ist aufgefallen – vielleicht ist das auch nur ein Eindruck –, dass „Die Feder eines Greifs“ sehr viel brutaler ist als der erste Band. Der Tod wird oft erwähnt.
Cornelia Funke: Nun, ich habe den ersten Teil vom Drachenreiter vor 19 Jahren geschrieben. Inzwischen weiß ich wesentlich mehr über das Leben und den Tod. Aber ich glaube, ich weiß auch wesentlich mehr über Verlust und über Liebe. Und ich hoffe, das ist alles in dem Buch drin. Wäre doch irgendwie traurig, wenn ich dasselbe geschrieben hätte – nach 19 Jahren. Oder?