Interview mit Cornelia Rémi
Im Rahmen des 17. Lübecker Bücherpiraten-Festivals hatte die Blaue Seite die Gelegenheit, die Literaturwissenschaftlerin Cornelia Rémi zu interviewen.
Blaue Seite: Du bist Literaturwissenschaftlerin und einer deiner Schwerpunkte ist die Kinder- und Jugendliteratur. In Buchläden sind die Regale oft in verschiedenste Genres unterteilt – eines davon ist die Kinder- und Jugendliteratur, als müsste man zwischen ihr und "normaler" Literatur unterscheiden. Was hältst du davon?
Cornelia Rémi: Die Trennung ist insofern sinnvoll, als Kinder- und Jugendliteratur nach etwas anderen Spielregeln funktioniert als "Erwachsenenliteratur“; sie bildet ein eigenes literarisches Subsystem. Aber ein bisschen unwohl fühle ich mich mit der Einteilung schon, weil sie suggeriert, dass Kinder keine "Erwachsenenromane" lesen sollten und umgekehrt – obwohl ich mich sehr dagegen wehren würde, wenn mir jemand verbieten wollte, Kinderbücher zu lesen. Mit eigenen Spielregeln meine ich, dass vor allem im Kinderbereich zwischen der Verkaufsstelle und den tatsächlichen Lesern oft noch ein Erwachsener steht, der bei der Distribution als Vermittler berücksichtigt werden muss. Die Interessen der Erwachsenen prägen diesen Teil des Buchmarkts mit. Besonders interessiert sind sie natürlich daran, dass Kinderliteratur die richtigen Ideale vermittelt und die Kinder so ein wenig miterzieht; die reine Freude am Lesen wird in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur erst relativ spät wichtig. Das heißt aber nicht, dass dieser didaktische Ansatz die Kinderliteratur kaputt macht. Ich finde es wichtig, beide Seite zu bedenken: Kinder- und Jugendliteratur soll unterhalten und Spaß beim Lesen machen, sie soll aber Kindern auch dabei helfen, sich in der Welt zurechtzufinden. Weil Kinder- und Jugendbücher darauf besonders achten, finde ich es gerechtfertigt, dass wir sie einer separaten Abteilung zuordnen.
Blaue Seite: Ein Kinderbuch durchläuft bei seiner Entstehung verschiedenste Stationen im Verlag oder im Buchhandel. Daran sind allerdings nur Erwachsene beteiligt. Kannst du dir vorstellen, dass hier die Zielgruppe stärker eingebunden wird?
Cornelia Rémi: Bei Lebensmittel oder Spielzeugen gibt es doch auch Produkttests! Warum nicht bei Büchern? Natürlich finde ich sinnvoll, dass die Zielgruppe beteiligt wird. Ich kann mir aber vorstellen, dass Kinder noch nicht den Überblick über manche Dinge haben. Ein Buch soll schließlich einer möglichst großen Gruppe gefallen, nicht nur dem einzelnen Kind, das es testet. Deshalb wäre eine Vorabauswahl durch Erwachsene vermutlich sinnvoll, aber Fokusgruppen für Kinderbücher – das sollten Verlage mal ausprobieren. Ist allerdings wahrscheinlich zu teuer …
Blaue Seite: Was könnte man außerdem im momentan typischen Entstehungsprozess eines Buches verändern?
Cornelia Rémi: Ich fände es gut, wenn die Erwachsenen in den Verlagen regelmäßig Kontakt zu Kindern hätten. Im Moment ist alles so segmentiert, dass die Vertriebsleute im Verlag mit den Abnehmern kommunizieren, die wiederum an Buchhändler verkaufen, die mit den Eltern in Kontakt kommen. Ich fände es gut, wenn die Verlage, die ja am weitesten von den Kindern entfernt sind, diesen direkten Kontakt noch gezielter suchen würden, vielleicht durch Kooperationsschulen oder -kitas und regelmäßigen Austausch mit Kindern, Erziehern und Eltern. Nicht nur als Vermarktungstrick, um mehr Bücher zu verkaufen, sondern aus brennendem Interesse daran, was Kinder gerne lesen. Vielleicht könnte man ein Qualitätssiegel einführen für den „Verlag mit Kinderkontakt", um diesen pulsierenden Austausch aufrecht zu erhalten. Denn irgendwann driften alle von der eigenen Kindheit ab und dann ist die Vorstellung, was Kinder lesen wollen, geprägt von dem, was man selbst als Kind lesen wollte (und vielleicht vom Angebot auf dem Markt), aber nicht vom direkten Austausch und das fände ich wichtig.
Blaue Seite: Du bist nicht in einem Verlag, beschäftigst dich aber auch intensiv mit Kinderliteratur. Hast du selber Austausch mit Kindern?
Cornelia Rémi: Ich selbst habe keine Kinder, aber meine Schwester und mein Bruder, sechs Stück insgesamt. Die sind im Alter von vier bis zwölf Jahren, und mit denen und ihren Freundinnen und Freunden habe ich regelmäßigen Kontakt. Ich war auch schon in Schulklassen und bin diesen Winter Vorleserin für eine zweite Grundschulklasse; so achte ich darauf, dass ich im Auge behalten, wie Kinder mit Geschichten, Gedichten und Sprache umgehen.
Blaue Seite: Glaubst du, dass es einen Unterschied macht, ob man sich mit den eigenen oder verwandten Kindern unterhält, im Vergleich zu etwa einer Schulklasse?
Cornelia Rémi: Da gibt es auf jeden Fall einen Unterschied, weil man bei Kindern aus dem eigenen Umfeld über Jahre beobachten kann, wie sich mit dem Heranwachsen der Charakter und die Lesevorlieben entwickeln, während man vor einer Schulklasse eine ganze Menge an Kindern auf einmal nur in einer Momentaufnahme sieht. Bei so einem kurzen Besuch tut sich sehr viel im Hintergrund tut, was man kaum vollständig nachvollziehen kann, und es bleiben viele Rätsel offen. Ich finde gerade auch das spannend, denn unter diesen Umständen ist die Herausforderung, alle Interaktionen zu verstehen, natürlich viel größer. Vor zwei Jahren habe ich mal einen ganzen Vormittag in einer Grundschulklasse Literaturarbeit gemacht und dieser Tag ist mir sehr lange in Erinnerung geblieben, weil die Kinder so unterschiedlich auf das Buch reagiert haben, das ich dabei hatte. Natürlich konnte ich die Gedanken der Kinder nachvollziehen, die ähnlich wie ich reagiert haben, aber bei den anderen habe ich noch lange gegrübelt: Was ist da jetzt passiert? Warum könnten sie das und jenes gesagt haben? Nachzuvollziehen, was in den Köpfen der Kinder passiert, das finde ich das Schönste und Spannendste im gemeinsamen Lesen mit ihnen und beim Arbeiten mit Literatur im Bildungssystem. Dieses zusätzliche Gedankenmaterial vieler verschiedener macht ein Buch eigentlich erst richtig vollständig.
Blaue Seite: Gibt es ein Buch, das du besonders gerne vorliest?
Cornelia Rémi: Da gibt es viele Bücher. Das ist eine ganz schwierige Frage, weil es natürlich auf das Alter und Wesen der Kinder, denen ich vorlese, genauso ankommt wie auf die Art des Buches. Bei den ganz Kleinen denke ich an ein Bilderbuch, was meine Neffen und Nichten sehr lieben und immer wieder einfordern – sogar die großen Jungs, die jetzt schon auf die Realschule und ins Gymnasium gehen. Das ist "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde" von John Fardell, ein Bilderbuch nach dem Muster einer Kettengeschichte. Ein kleiner Junge, der mit seiner Schwester unterwegs ist, wird von einem Monster gefressen; die Schwester verfolgt das Monster und als sie es fast erreicht hat, wird es von einem anderen Monster gefressen; dann verfolgt sie dieses nächster Monster, das wiederum von einem noch größeren Monster verschnabuliert wird, undsoweiter: Die Großen fressen die Kleinen. Dazu kommt die Komponente der Mädchenemanzipation. Die Schwester ist auf ihrer Verfolgsjagd nämlich sehr erfindungsreich und technisch gewitzt. Weil sie jedem der Monster in einen neuen Lebensbereich folgten muss, baut sie von einer Episode zur anderen ihr Fahrrad immer wieder um, um ihren Bruder zu erreichen: in ein Schwimmboot, ein U-Boot, einen Windsegler und schließlich ein Kletterfahrzeug. Das Ganze ist sehr lustig und liebevoll gezeichnet und man kann beim Vorlesen mit der Spannung beim Umblättern spielen, das finde ich ganz toll.
Es gibt so viele schöne Bücher zum Vorlesen – wie soll ich mich denn da jetzt entscheiden? Ich lese sehr gerne Gedichte vor, weil ich da besonders gefordert bin, mir fürs Vorlesen etwas Besonderes auszudenken, das ist oft ein bisschen wie Theaterspielen. Die Klassiker sind immer wunderbar, weil ich bei jedem neuen Lesen etwas darin entdecke, was mir noch nicht aufgefallen war. Besonders schön zum Vorlesen finde ich Bücher, bei denen die Schreibenden einen mündlichen Erzählton treffen, der sich besonders gut dazu eignet, ihn in die eigene Stimme zu übersetzen, denn Vorlesen ist ja immer eine Art des Übersetzens. Bei so einem Erzählton kann man auch eigene Kommentare gut einflicken, sodass das Mündliche in der Erzählsituation ganz besonders funkelt und glitzert, wenn man spricht. Astrid Lindgren schafft das sehr gut, ebenso Otfried Preußler, Kirsten Boie, Tove Jansson mit ihren Mumin-Büchern. Andreas Steinhöfels „Dirk und ich“ oder die Kinderbücher von Roald Dahl sind ein anderer Fall, ein bisschen gemeiner und ironischer im Ton, teilweise auch problematisch, aber gut vorlesbar, wie überhaupt Bücher, bei denen die einzelnen Kapitel in sich abgeschlossen sind. Für die etwas Größeren gibt es dann die etwas literarischeren Abenteuer- und Fantasy-Bücher wie „Harry Potter“ oder die Romane von Michael Ende, Joan Aiken, James Krüss und Diana Wynne Jones. Meinem ältesten Neffen habe ich in der „Lockdown“-Zeit im Frühjahr "Das Geheimnis des siebten Weges" von Tonke Dragt aus den Niederlanden kapitelweise als Hörbuch eingelesen, ein ganz spannende Buch voller Geheimnisse. Es gibt für mich kaum Grenzen, solange ich selbst etwas in den Büchern entdecken kann, solange ich sie auch stilistisch überzeugend finde und sie nicht einfach flach und faul dahingeschrieben sind. Besonders empfehlen kann ich im Moment die Bücher von Frances Hardinge. Alles, alles von Frances Hardinge. Das ist eine unbedingt hingebungsvolle Empfehlung von mir. Einer der Fälle, wo ich gerne mal aus privater Lesefreude heraus wissenschaftlich an Texten arbeiten möchte
Blaue Seite: Du hast dieses Bilderbuch erwähnt, "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde". Welche Rolle haben da die Illustrationen gespielt und wie wichtig sind Illustrationen generell in der Kinderliteratur?
Cornelia Rémi: Das kommt sehr stark auf das Alter und natürlich auf das einzelne Kind an. Für die Kleinen ist es sehr wichtig, weil die sich ab einem bestimmten Punkt anhand der Bilder dieses Buch alleine anschauen können, auch wenn sie noch nicht die Buchstaben entziffern können. Sie können das Buch nach einer Weile selber lesen, indem sie die Geschichte, die sie irgendwann mehr oder weniger auswendig kennen, mit den Bildern nachvollziehen. Wichtig finde ich auch Comics, gerade für Erstleser oder Schulanfänger, weil sie den Leseprozess entlasten. Das Frustrierende für ein Kind, das anfängt, selber zu lesen, ist, dass es am Ende der Kindergartenzeit schon relativ komplexe Geschichten vorgelesen bekommen hat. Dann fängt es selber an zu lesen und muss alles erst einmal langsam und mühsam entziffern, das Tempo ist wahnsinnig gedrosselt und so kommt man in den Geschichten nicht mehr so voran wie man im Kindergarten beim Zuhören vorangekommen ist. Auf einmal sind die Geschichten wieder sehr viel simpler als man das gewohnt ist. Da helfen Comics, weil die Bilder die Erzählerstimme übernehmen. Eigentlich liest man nur den Figurendialog, ein bisschen Erzählerstimme in eckigen Kästchen, vielleicht ein paar Geräusche, aber vor allem die Dialoge. Alles, was ansonsten ein Erzähler übernehmen würde, sieht man und muss es nicht aus Buchstaben dekodieren: Das ist eine enorme Entlastung! Wenn man größer wird, braucht es die Bilder in vielen Fällen nicht mehr, sie können sogar stören. Aber wenn sie gut gemacht sind, gerade skizzenhafte und andeutende Illustrationen, können sie sehr suggestiv sein und eigene Fantasiestränge anstoßen, mit denen man vom Text aus gar nicht gerechnet hatte. Vor allem wenn sie den eigenen Vorstellungen, die man vom Text hat, widersprechen.
Blaue Seite: „Comic“ gehört dann vielleicht zu den Genres, die unterschätzt werden.
Cornelia Rémi: Auf jeden Fall.
Blaue Seite: Obwohl es ja mittlerweile mehr Graphic Novels gibt und die Grenze zu Comics ist da eher fließend. Graphic Novels werden heutzutage auch deutlich höher angesehen als noch vor ein paar Jahren. Gibt es dagegen ein Genre, von dem du findest, das müsste es nicht geben?
Cornelia Rémi: Nein. Der Gedanke verbietet sich eigentlich, finde ich. Für die Kinder- und Jugendliteratur verbieten sich bestimmte Themen, vielleicht Porno und extreme Gewaltdarstellungen. Also das, was man von Kindern mit gutem Grund fernhält, weil sie kognitiv, psychisch und emotional davon überfordert wären und solche Darstellungen nicht richtig einordnen können. Dafür muss man die Welt und das, was die Menschen darin so treiben, besser überblicken, als es ein Kind kann.
Aber selbst Trivialdarstellungen und Kitsch – ich finde das alles wichtig. Das gehört zum lebendigen Ökosystem und Kosmos von Literatur, dass Genres ausprobiert werden, dass sie eine Zeit lang lebendig und produktiv sind, dann wieder abflauen und „sterben“. Es gehört zu einer lebendigen Literatur dazu, diese Alternativen zu haben und literarische Angebote zu haben, die so vielfältig sind wie die Menschen.
Blaue Seite: Gibt es vielleicht ein bestimmtes Buch, du muss auch keinen Titel nennen, dass du wirklich schlimm fandst, das du gar nicht mochtest?
Cornelia Rémi: Ja, wobei mir der Titel gar nicht mehr einfällt. Ich neige bei Büchern, die mir nicht gefallen, dazu, das Lesen einfach abzubrechen. Das kann man natürlich nicht machen, wenn man ein Buch rezensieren muss. In dem Fall war es für den Deutschen Jugendliteraturpreis, da war ich in der Jury für den Sonderpreis. Und da mussten wir natürlich alle Bücher tatsächlich lesen, die eingereicht waren. Das habe ich gemacht; alle von Anfang bis Ende gelesen und da war ein Jugendbuch dabei – ich gehe nicht zu sehr ins Detail, sonst kann man es am Ende doch identifizieren – da waren einige wirklich extreme Gewaltszenen drin. Das allein hätte ich nicht so schlimm gefunden. Es ist durchaus legitim und wichtig, dass Jugendliche sich mit Gewalt auseinandersetzen, aber diese Szenen hatten keine erkennbare erzählerische Funktion in dem Buch. Sie waren nicht so eingebunden, dass ich gesagt hätte, da knüpft sich ein Erkenntnisprozess an oder das sind entscheidende Umbruchstellen für diese Figuren, sondern es war der Show-Effekt. Der pure Show-Effekt, der mich auch an Kinofilmen stört: Da muss jetzt eine große Verfolgungsjagd rein oder zehn Minuten Raumschiffgeballer, bis man irgendwann vollkommen den Überblick verliert, und so etwas dient einfach nur dazu, um Genre-Konventionen überzuerfüllen oder Leute anzutriggern. Und das war mir zu doof. Ich finde, das hat in dieser Form keine Funktion und keinen Ort in guter Kinder- und Jugendliteratur.
Blaue Seite: Die Blaue Seite war auch ein paar Jahre Teil der Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Da war ich leider noch nicht dabei, aber Rezensionen sind ja ein Hauptteil unserer Seite. Hast du da vielleicht einen ganz persönlichen Tipp, worauf bei einer Rezension geachtet werden sollte?
Cornelia Rémi: Ich finde an einer Rezension besonders wichtig, dass man einen guten Überblick über den Inhalt bekommt. Bei der Blauen Seite ist das vielleicht etwas Anderes als bei einer Tageszeitung, in der ja überwiegend Eltern angesprochen werden, die Bücher für ihre Kinder kaufen, wo theoretisch der ganze Inhalt verraten werden könnte – das solltet ihr vielleicht nicht tun (und, um fair zu sein, das machen die Rezensenten in Tageszeitungen natürlich auch nicht). Ich würde zentrale Pointen und Wendungen der Handlung anteasern, damit man ein Gefühl für das Buch bekommt, für den Stil, die Erzählstruktur, die Art der Figuren und die zentralen Konflikte. Und dann finde ich sehr wichtig, dass etwas Persönliches in die Rezension einfließt, dass der eigene Geschmack, die individuelle Stimme der Person, die rezensiert, sichtbar wird. Man könnte das Buch in ein Genre einsortieren, es vielleicht mit Ähnlichem vergleichen, um zu zeigen, dass man einen Maßstab hat, wenn man das Buch bewertet. Und vielleicht eine Kleinigkeit oder ein Detail, das einem besonders gut gefallen hat. Ich suche beim Rezensieren von Kinder- und Jugendbüchern gerne nach einem schrägen Bildgedanken, mit dem ich den Geschmack des ganzen Buches zu fassen bekomme.
Blaue Seite: Du schreibst selbst Rezensionen, die sehen nur ein bisschen anders aus als unsere...
Cornelia Rémi: Sie sind meistens wissenschaftlich (lacht).
Blaue Seite: Genau, auch vom Ton und der Länge. Wie lange brauchst du für so eine Rezension?
Cornelia Rémi: Das kommt sehr stark auf das Buch an. Bei dicken Doktorarbeiten und Sammelbänden kann das eine Weile dauern. Ich durfte in den letzten Jahren aber auch einige wenige Kinderbücher rezensieren, so eher nebenher; da habe ich ungefähr eine Woche pro Buch gebraucht. Wenn das Buch nicht allzu lang ist und ich rasch einen zündenden Gedanken habe, kann ich die Rohfassung einer Rezension aber auch an einem Nachmittag niederschreiben. Ich halte noch vor dem ersten Lesen meine Erwartungen und Hoffnungen anhand von Klappentext, Cover und Design fest. Danach muss ich das Buch in einem Rutsch durchlesen. Ich will mich beim ersten Lesen nicht stören oder von Details verrückt machen lassen. Erst nach diesem Durchgang schreibe ich alles auf, was mir in Erinnerung geblieben ist; anschließend blättere das Buch noch einmal durch und lese an einigen Stellen noch einmal aufmerksamer nach. Wenn es ein Buch von geringem Umfang ist, kann ich es noch einmal (oder sogar mehrmals) komplett lesen; das ermöglicht mir einen analytischeren Blick auf das Werk und auf die Gefühle, die es vielleicht in mir ausgelöst hat.
Blaue Seite: Und wie lang ist der Text, der dabei am Ende herauskommt?
Cornelia Rémi: Die Rohversion ist meistens so vier bis fünf Seiten lang. Allerdings musste ich das bei Kinderbüchern bisher immer auf eine halbe A5-Seite kürzen, denn ich sollte Kurzrezensionen schreiben; es tut natürlich immer weh, schöne Beobachtungen und Ideen in den Papierkorb zu werfen.
Blaue Seite: Da fällt mir zwischendurch eine Frage ein: Sprichst du Zeichensprache?
Cornelia Rémi: Nein – weil ich so viel gestikuliert habe? Ich hatte eine Zeit lang einen relativ engen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Psycholinguistik. Bei ihnen habe ich Fortbildungskurse besucht und viel darüber gelernt, wie das eigentlich funktioniert und was so alles passiert, wenn wir miteinander sprechen. Einer der Kollegen, Andreas Henrich, hat mir von verschiedenen Studien erzählt, die untersuchen, wie Gesten mit gesprochener Sprache zusammenwirken. Es gibt es ganz viele Möglichkeiten, Gedanken, die sich im Kopf noch nicht richtig zu Worten geformt haben, mit den Händen irgendwie "ranzuziehen". Als die Kinder meiner Schwester noch kleiner waren und sich verbal noch nicht besonders gut ausdrücken konnte, habe ich das oft beobachtet: Ich konnte richtig körperlich sehen, wie die nach Wörtern suchten. Und irgendwann habe ich mir erlaubt, das auch wieder so zu machen. Das plane ich natürlich nicht, so etwas fände ich künstlich, sondern ich gebe mir selber die Erlaubnis, so zu kommunizieren, wie es mir am meisten Spaß macht. Meine Hände sind ein Teil meines Körpers und gehören deshalb auch zu meiner Stimme dazu, also kann ich mit ihnen auch etwas anfangen, statt sie nur herumhängen zu lassen.
Blaue Seite: Das sieht man. Du schreibst wie gesagt wissenschaftliche Rezensionen – kannst du Bücher überhaupt noch lesen, ohne sie zu analysieren?
Cornelia Rémi: Nicht wirklich. Das wissenschaftliche Denken – wie ein Text gemacht ist, wie bestimmte Phänomene heißen, welche Traditionen es gibt, die vielleicht aufgegriffen werden – kann ich nicht abschalten. Das sehe ich aber nicht unbedingt als Schwäche oder Fluch, ich analysiere mir die Texte damit ja nicht tot. Viel eher bereichert dieser Blickwinkel meine Wahrnehmung. Dazu fällt mir ein Vergleich ein: Stell dir ein Orgelkonzert vor, mit seinen wahnsinnig vielen Klangeindrücken. Als Laie lässt man diesen herrlichen Klangrausch über sich hinwegspülen und muss nicht alles verstehen, damit es wunderbar ist. Aber eine professionelle Musikerin hört viel klarer und genauer heraus, warum diese Musik so großartig ist – sie hört die verschiedenen Register, die Wahl des Tempos, die Pausen, die Harmonien und Melodielinien … Je mehr sie von Musik versteht, desto mehr Details erkennt sie und desto klarer wird der Gesamteindruck – als hätte man eine Karte und könnte auf verschiedene Teile ranzoomen. Genauso ist es, wenn ich Literatur professionell als Wissenschaftlerin wahrnehme; auf einmal beginnen Elemente für mich zu leuchten, die ohne mein Hintergrundwissen viel weniger stark herausstechen würden. Dadurch gehen die Texte nicht kaputt, sondern ich nehme sie intensiver und deutlicher wahr und kann mich umso mehr über einen tollen Text freuen.
Blaue Seite: Was hat dich denn auf die Idee gebracht, Literaturwissenschaftlerin zu werden?
Cornelia Rémi: Ich habe deutschsprachige und skandinavische Literaturen studiert, weil Literatur mich besonders herausfordert. Bei anderen Fächern wusste ich schon in der Schule ungefähr, warum ich gut darin war, im Fach Deutsch wusste ich es nicht. Das hat mich irritiert und herausgefordert. Mittlerweile ist da noch eine weitere Ebene dazu gekommen, weil ich nicht mehr nur die Literatur selbst verstehen will, sondern mich auch damit beschäftige, wie Menschen mit Literatur leben, wie vor allem Kinder und Jugendliche auf Texte reagieren und mit ihnen umgehen. Nach meinem Abitur hätte ich eigentlich alles studieren können – und Medizin oder Biologie hätten mich auch sehr gereizt. Aber das, was ich am wenigsten verstehe, motiviert mich am meisten und verspricht das größte Abenteuer. Dabei denke ich an Abenteuer, wie sie in den mittelalterlichen Romanen über die Artusritter vorkommen: Abenteuer bedeutet, dass man in etwas Unbekanntes aufbricht und ständig damit rechnen muss, dass einem unterwegs etwas Neues und Unerwartetes begegnet, und das größte Abenteuer in der Hinsicht war für mich die Literatur.
Blaue Seite: Wie sieht denn ein nicht abenteuerlicher – also normaler – Arbeitstag bei dir aus?
Cornelia Rémi: Schreibtisch, Schreibtisch, Schreibtisch, Bibliothek, Schreibtisch, Schreibtisch, Schreibtisch (lacht).
Blaue Seite: Aber was machst du an diesem Schreibtisch?
Cornelia Rémi: Ich mache viel Administratives: E-Mails, Korrespondenz, Sprechstunden mit Studierenden, Lehrveranstaltungen planen und konzipieren, Texte suchen und für Veranstaltungen vorbereiten ... Die Forschung ist in den letzten Monaten wegen der Pandemie relativ kurz gekommen, weil die Online-Lehre sehr viel Zeit gefressen hat. Ich versuche aber, mir die frühen Morgenstunden und den späten Nachmittag zum Lesen und Schreiben freizuhalten. Was für mich super funktioniert, ist es, abends im Bett noch etwas zu lesen – das bedeutet für mich, mit Zettel und Bleistift dazusitzen und Notizen zu machen (lustigerweise analog; ich arbeite lieber mit Büchern oder Texten, die ich in der Hand habe. Dann komme ich eher in den Denkfluss, und ich kritzele wahnsinnig gerne in Büchern herum, natürlich nur in meinen eigenen). Was ich gelesen habe, lasse ich über Nacht in meinem Kopf gären, dann kann ich am nächsten Morgen versuchen, irgendetwas Flüssiges, Zusammenhängendes (dann digital) aufzuschreiben. Wenn ich total feststecke, zum Beispiel bei dem Versuch, eine wissenschaftliche These zu basteln, dann hilft es mir meistens, einfach mal rauszugehen, im Grünen oder durch die Straßen zu spazieren. Dieser Zusammenhang zwischen Denken und körperlicher Bewegung ist ganz interessant und erstaunlich. Die Routine ist natürlich jeden Tag ein bisschen anders, bei jedem Aufsatz, jedem Vortrag, jedem Seminar ... und natürlich gerate auch ich regelmäßig in Schreibkrisen.
Blaue Seite: Gibt es etwas, das du an deiner Arbeit gerne ändern würdest?
Cornelia Rémi: Was mir nicht so gut gefällt, ist, dass ich keine feste Stelle habe. Ich hätte gerne eine Anstellung auf Dauer, so dass ich nicht ständig für zwei oder mehr Zukünfte gleichzeitig planen muss. An der Universität ist ja alles in sogenannte Semester, also Halbjahre aufgeteilt, und in den letzten Jahren wusste ich nie, an welcher Uni ich im nächsten Semester bin. Wenn ich nicht mehr so viele Zukünfte und Was-wäre-Wenns gleichzeitig im Kopf jonglieren müsste, würde da schon eine große Belastung wegfallen, und ich könnte mich mit ganzer Kraft dem widmen, was mir wirklich wichtig ist. Und ansonsten hätte ich gerne mehr Zeit fürs Forschen. Damit meine ich vor allem das Lesen und Schreiben aus schierem Vergnügen am eigenen Lernen und Entdecken. Es geht mir nicht darum, oberflächliche Eitelkeiten zu polieren und mich irgendwo als Superfrau zu präsentieren, sondern ich möchte vor allem Substanz schaffen und denen, die meine Texte lesen, beim Staunen helfen.
Wünschen würde ich mir auch weniger Zeit für die Lehre – nein, stopp: weniger Lehrveranstaltungen. Das hieße nicht weniger Zeit für die Lehre, sondern dass ich die einzelnen Lehrveranstaltungen intensiver vorbereiten und begleiten könnte. Mir ging es im letzten Semester noch relativ gut, ich habe zehn Stunden in der Woche gelehrt: vier Seminare, eine Vorlesung. Es gibt Kollegen, die haben 16 oder 20 Stunden jede Woche. Da hat man mit Hunderten von einzigartigen Menschen zu tun, kann sie aber nicht mehr intensiv begleiten und unterstützen. Das möchte ich aber gerne. Ich möchte im Idealfall mit jedem, der bei mir im Seminar sitzt, regelmäßig ausführlich reden können und ich möchte den Studierenden helfen, besser zu schreiben, indem ich ihnen regelmäßig Rückmeldungen zu ihren eigenen Texten gebe. Ich möchte verstehen, wie die Menschen, mit denen ich zu tun habe, ticken und denken und lesen und schreiben, damit ich sie dabei unterstützen kann sich weiterzuentwickeln. Das kann ich bei so vielen Leuten aber nicht mehr richtig. Da bin ich kognitiv überlastet. Deshalb würde ich mir fürs aufmerksame, intensive Lehren und Begleiten mehr Zeit wünschen.
Blaue Seite: Das ist auf jeden Fall verständlich. Das würden diese Menschen sich bestimmt auch wünschen.
Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne noch einmal auf ein Thema, das wir am Anfang hatten, zurückkommen. Zum Prozess, wie ein Buch veröffentlicht wird. Da gibt es mittlerweile alternative Wege zum klassischen Verlag, besonders die Selbstveröffentlichung ist in den letzten Jahren sehr gewachsen. Was hältst du davon? Schmälert das vielleicht die Chancen "richtig" als Autor bei einem Verlag angenommen zu werden? Oder ist das eigentlich eine gute Sache?
Cornelia Rémi: Ich finde es eine gute Sache. Ich glaube nicht, dass es die Chancen schmälert, es ist eher so, dass man sich Sichtbarkeit schafft – jedenfalls, wenn man Glück hat, denn ich glaube, man muss wirklich Glück haben, es ist nicht allein die Qualität der Texte, die den Erfolg eines Buches ausmacht, obwohl die natürlich entscheidend wichtig ist. Aber es muss unbedingt auch das Glück dazu kommen, dass Leser anspringen auf die Bücher, dass sich diese Begeisterung durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet, vielleicht auch, dass man etwas Geschick hat beim Auftreten in den sozialen Medien. Es kann sein, dass man dadurch eine solche Sichtbarkeit gewinnt, dass eben eine Agentur oder direkt ein Verlag drauf anspringt und sagt, mit dir wollen wir auch mal was machen, du bist interessant, du bist spannend, deine Texte können wir gut verkaufen, denn du vermarktest dich ja auch so schon sehr gut. Mit Texten, die im Eigenverlag erscheinen, ist freilich gerne auch mal der Ruf verbunden "Oh, guck mal, die Person hat es nicht geschafft, es bei einem normalen Verlag zu veröffentlichen, vermutlich war der Text nicht gut genug für einen Verlag, deswegen ist er so erschienen“. Das sind häufige Vorurteile – oft auch nicht ganz unberechtigte, weil da wirklich auch viel Mist kursiert, muss man offen sagen. Viele Texte, die privat annehmbar und ganz nett sind, können vor einem größeren Publikum nicht bestehen und mit der literarischen Konkurrenz nicht mithalten. Im Netz schwirrt so wahnsinnig viel Material herum, dass es immer anstrengender wird, die Dinge herauszufischen, die wirklich gut sind. Diese Fischerarbeit, dieses Filtern und Sieben übernehmen normalerweise die Agenturen und Verlage, weshalb wir dazu neigen, darauf zu vertrauen, dass diese Profis uns schon die besten Fische herausangeln werden. Aber diese Profis können auch nicht den kompletten Ozean im Blick behalten, und es gibt wunderbare Texte, die ohne Hilfe eines Verlages in die Welt geraten. Wenn du den Drang zum Schreiben hast und etwas zu sagen hast, das du wichtig und sinnvoll findest, dann ist es doch besser, ein Buch zu schreiben, als kein Buch zu schreiben, und es ist besser, ein Buch zu publizieren, als keines zu publizieren – auch wenn sonst keiner drauf anspringt. Vielleicht sollte man in so einem Fall noch Probeleser haben. Das fände ich sinnvoll, wenn man wenigstens eine Person hat, die einem die Selbsteinschätzung bestätigt und zwar jemand, dem man zwar vertrauen kann, der einem persönlich aber nicht so eng verbunden ist, dass er vor ehrlicher Kritik zurückschreckt.
Blaue Seite: Dieses Aussieben passiert ja bei den Verlagen und letztendlich auch beim Leser. Außerdem gibt es in Deutschland eine reichhaltige Landschaft an Literaturpreisen: der Deutsche Jugendliteraturpreis, den Goldenen Bücherpiraten und noch so viele andere, die ich gar nicht aufzählen kann. Glaubst du, die sind eine gute Idee? Glaubst du, die können Autoren helfen, ein breiteres Publikum zu erreichen? Oder verzerren sie die Meinung der Leser?
Cornelia Rémi: Ich finde Preise tatsächlich sehr sinnvoll und wichtig, weil Kinder- und Jugendliteratur als literarisches Subsystem damit in der Öffentlichkeit sichtbar wird. Aufmerksamkeit – das hört man ja immer wieder – ist eine der knappsten Ressourcen, die wir haben, eine, mit der Strategen auch viel spielen. Kinder- und Jugendliteratur ist aus vielerlei Gründen nach wie vor eine unterschätzte Sparte, die viel zu wenig Raum erhält in den großen Kulturmedien und viel zu wenig öffentlich rezensiert wird. Es gibt gelegentlich einen Beitrag zur Kinderliteratur, der auf größeren Online-Portalen oder in den großen Tageszeitungen auftaucht, einmal im Monat oder so, aber relativ selten – auch in Radio und Fernsehen erhalten Kinder- und Jugendbüchern längst nicht so viel Raum wie Romane und Sachbücher für ein erwachsenes Publikum, so dass nur ein ganz winziger Ausschnitt des aktuellen Kinderbuchmarktes in diesen Medien sichtbar wird. Preise bieten eine wichtige Bühne, um der Kinder- und Jugendliteratur Sichtbarkeit zu verschaffen und die Verkaufszahlen zu fördern, die ja möglichst gut sein sollten, damit die Verlage mit dem eingenommenen Geld neue Bücher herstellen können. Das Umfeld so eines Literaturpreises bietet ja eine ganze Schatztruhe voller Leseempfehlungen, das betrifft die Preisträger ebenso wie die Finalisten und die sonstigen Nominierten, also die Shortlists und die Longlists. Gerade bei Preisen wie dem Deutschen Jugendliteraturpreis, die schon seit Jahren und Jahrzehnten vergeben werden, kann man sehr gut beobachten, wie sich die Literatur verändert und wie die Preise selbst dazu beitragen, wichtige neue Entwicklungen mit anzustoßen und zu fördern. Die Wertmaßstäbe bleiben nicht konstant, neue Themen, neue Fragen, neue Schreibweisen und Gestaltungsmöglichkeiten tauchen auf. Insofern bietet so eine Preisverleihung immer eine Momentaufnahme dessen, was im Diskurs über Kinder- und Jugendliteratur in einem bestimmten Moment wichtig zu sein scheint. Die Verbindung aus dieser Momentaufnahme und der Aufmerksamkeit macht diese Literaturpreise wichtig, finde ich.
Blaue Seite: Damit kommen wir langsam zum Ende. Diese letzte Frage stellen wir all unseren Interviewpartnern. Was stellst du dir unter einer Blauen Seite vor?
Cornelia Rémi: Seiten sind vieles. Man kann Seiten mit „ei“ oder „ai“ schreiben, das heißt, eine blaue Seite kann auch etwas sein, das ins Schwingen kommt und einen innerlich zum Schwingen bringt. Blau ist die Farbe des Himmels und des Meeres und damit die Farbe der größten Räume, die man sich als kleiner krümeliger Mensch auf der Erde vorstellen kann. Insofern ist eine Blaue Seite etwas, das schwingt, etwas Großes, nicht nur eine Fläche, sondern ein Raum, in den man eintauchen kann, in dem man sich treiben lassen und Entdeckungen machen kann, in dem man aber auch Ruhe findet, um sich auf wirklich wichtige Dinge zu konzentrieren und diese zu finden.