Interview mit David Safier
Am 10. November 2014 besuchte der erfolgreiche Bremer Autor David Safier – u. a. bekannt durch „Jesus liebt mich“ und „Mieses Karma“ – das Kinderliteraturhaus, um aus seinem neuesten Roman „28 Tage lang“ zu lesen.
Jener beruht auf historischen Ereignissen, die bewegend aus der Sicht einer 16-Jährigen geschildert werden.
David Safier gab Rahel Schwarz von der Redaktion der Blauen Seite die Gelegenheit, ihn zu diesem Herzensprojekt zu befragen. Mit dem Buch soll eine „Brücke zwischen den Generationen“ geschlagen werden.
Herzlichen Dank für dieses intensive und offene Interview über den Holocaust, über die Frage, was für ein Mensch man sein möchte und natürlich auch über den Roman selbst. Dieser findet hoffentlich nicht nur bei den Bücherpiraten großen Anklang.
BS: Ihre Intention war es, eine „Brücke zwischen den Generationen“ zu schlagen. Wie erleben Sie nun die Reaktionen von den Leserinnen und Lesern – sind sie positiv oder auch negativ, aufgrund der Thematik?
David Safier: Negative Reaktionen direkt habe ich keine bekommen, aber extrem viele positive– so viele wie noch nie auf eines meiner Bücher oder auf irgendetwas anderes. Das sind die intensivsten – egal, ob bei Lesungen oder in Form von Zuschriften. Interessant ist auch, wenn man sich auf Amazon oder auch auf Lovely Books anschaut, was die Leute dort schreiben. Nun habe ich ja auch unterschiedliche Lesergruppen. Heute veranstalten wir hier, bei den Bücherpiraten, Lesungen für Jugendliche. Das Buch findet aber auch viele erwachsene Leser. Es ist natürlich ein Unterschied, wenn ein 75-jähriger Soziologieprofessor das Buch toll findet, da er es ganz anders liest als ein 13-jähriges Mädchen. Ich jedenfalls habe die Reaktionen als großartig empfunden. Das war sehr schön.
BS: Ihre Protagonistin Mira stellt sich wiederholt die Frage: „Was für ein Mensch will ich sein?“ Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass Sie sich diese Frage auch schon mal gestellt haben – vielleicht auch nicht. Vielleicht tun Sie das auch jetzt gerade erst, weil ich Sie das frage.
David Safier: (lacht) Ja, genau!
BS: Zu welchem Schluss kommen Sie?
David Safier: Eigentlich sind das sogar zwei verschiedene Fragen. Ich kann einmal antworten auf die Frage, wie es mir wohl in der Zeit des Romans ergangen wäre, und zum anderen auf die Frage, was für ein Mensch ich in meiner heutigen Zeit sein möchte.
Erst mal zu der Frage, die sich auf die Zeit des Romans bezieht: Wir sehen großes Heldentum. Menschen, die sich für andere opfern. Es gibt aber auch Menschen, die andere geopfert haben, um länger zu leben. Ich weiß von mir selbst sehr genau, dass ich weder die physische noch die psychische Kraft gehabt hätte, in den Widerstand zu gehen oder andere zu retten. Ich denke, ich wäre jemand gewesen, der in die Züge gegangen oder vorher im Ghetto verhungert wäre. Das ist eine realistische Einschätzung, weil ich weiß, welche Kraft ich im Leben habe – also sowohl körperliche als auch psychische Widerstandsfähigkeit.
Kommen wir nun dazu, was für ein Mensch ich heute sein möchte. Ein Philosoph hat mal gesagt, dass es vier Sorten von Menschen gibt: Es gibt die Menschen, die von Natur aus gut sind. Es gibt Menschen, die sich entscheiden, Gutes zu tun, und die für sich in jeder Situation neu entscheiden, was sie tun. Es gibt die Menschen, die von Natur schlecht sind und schließlich jene, die sich entscheiden, Schlechtes zu tun. Ich kenne Menschen, die von Natur aus gut sind, die heldenhaft sind und immer anderen Personen helfen. Zu dieser Sorte von Mensch gehöre ich nicht.
Ich versuche, im Alltag das Richtige zu tun. Heute Morgen z. B. habe ich meinem großen Sohn Unrecht getan, weil ich wütend war, etwas falsch eingeschätzt habe. Ich habe mich dann bei ihm entschuldigt, weil ich mir denke: „Weg mit dem Stolz.“ Ich möchte also versuchen, ordentlich zu sein, anderen Menschen nicht zu schaden, vielleicht nicht immer nur meinen eigenen Vorteil zu sehen, wenn ich anderen damit schade. Ich hinterfrage, ob es sich lohnt, jemand anderem die Hölle heiß zu machen, um etwas zu bekommen, oder ob es mir vielleicht gar nicht so wichtig ist. Das ist eine Situation, die oft im Beruf vorkommt, aber vielleicht auch in der Schule oder unter Freunden. Ich überlege z. B., ob ich lügen soll oder nicht. Ob ich lüge, um jemand anderen zu schützen, oder will ich jemandem eins reinwürgen? Da versuche ich dann, mich für das Richtige zu entscheiden. Das funktioniert leider nicht immer.
BS: Mira und die anderen Charaktere haben etwas, was ihnen folgt. Etwas, das ihr Schatten ist. Und das ist der Tod: Sie sehen sich immer wieder mit dem Tod konfrontiert. Wie stehen Sie dem Tod und Ihrer eigenen Sterblichkeit gegenüber?
David Safier: In dem Buch muss das nochmal anders betrachtet werden: Wir sprechen von jungen Menschen. Mira z. B., die 16 Jahre alt ist und die in einer extremen, fürchterlichen Situation direkt vom Tod bedroht wird. Wir leben im Augenblick nicht in so einer Situation – Klopf auf Holz! – und es geht uns auch ganz gut. Wenn es um die Sterblichkeit geht, kann ich sagen:
Meine Schwester ist mit 35Jahren an Krebs gestorben. Ich habe also gesehen, was Krebs bedeutet – furchtbar.
Meine Mutter erlitt Schlaganfälle und war infolgedessen zwei Jahre lang ganzkörpergelähmt. Sie musste mit Magensonden ernährt werden usw. Eine Folter!
Mein Vater hat irgendwann gesagt: „So, ich bin jetzt 82. Mein Körper funktioniert nicht richtig. Ich will so nicht leben!“ Er ist in den Freitod gegangen.
Das heißt, dass ich keine Angst davor habe, zu sterben – das ist okay. Ich habe aber sehr große Angst davor, zu leiden. Wenn man sieht, was z. B. Krebs bedeutet, dann denke ich, dass ich das nicht erleben möchte. Lieber möchte ich dann 20 Jahre früher sterben, als so etwas zu erleben – überspitzt gesagt. Wenn ich über Sterblichkeit nachdenke, dann habe ich nicht so viel Angst vor dem Tod, weil ich davon ausgehe, dass man ihn danach auch nicht mehr so mitbekommt. Ich glaube z. B. nicht an ein Leben nach dem Tod und ich glaube auch nicht, dass es Himmel oder Hölle gibt oder so etwas in der Art. Von daher habe ich eher Angst vor dem Leid als vor dem Tod.
BS: Mit welcher Ihrer Figuren können Sie sich am meisten identifizieren?
David Safier: Identifizieren tut man sich grundsätzlich mit allen Figuren. Jede Figur bekommt beim Schreiben irgendeinen Anteil von einem selber mit. In dem Moment, wenn eine Figur spricht oder eine Figur auftritt und eine Bedeutung für die Handlung bekommt, hat sie immer etwas von mir selber.
In „28 Tage lang“ haben wir z. B. die Figur von Miras Bruder: Der arbeitet für die Judenpolizei und hilft der SS, um selbst zu überleben. Er versucht aber auch, sich zu rechtfertigen und seiner Familie dann noch irgendwie zu helfen – um im letzten Augenblick doch wieder seine eigene Haut retten zu wollen. Auch da kann ich mitfühlen, emotional mitgehen.
Wenn du mich aber fragst, welche Figur in diesem Buch ich am meisten zu lieben gelernt habe, weil sie mich am meisten überrascht hat: Miras kleine Schwester. Von der wusste ich gar nicht, welche Rolle sie einnehmen wird. Ich bin jemand, der drauflos schreibt, obwohl ich früher bei den Drehbüchern noch Konzepte erstellt habe.
Stephen King hat gesagt: „Wenn ich überrascht bin, was die Charaktere tun, sind es die Leser wahrscheinlich auch.“
Mir ging es tatsächlich so. Das merkt man auch, wenn man das Buch liest. Zunächst hatte Mira einfach eine kleine Schwester. Dann kam der Gedanke, dass es doch schön wäre, wenn sie Geschichten erzählt. Also erzählt sie die Geschichte der 777 Inseln. Die habe ich mir irgendwann mal ausgedacht, als ich siebzehn war. Dass sie stirbt, habe ich nicht gewusst. Ich wusste auch nicht, was für eine Bedeutung die 777 Inseln in dem Roman bekommen würden, als ich die erste Szene dieser Episode schrieb.
Das hat mir sehr viel bedeutet und auch diese Figur hat mir so viel bedeutet. Damit habe ich einfach nicht gerechnet. Bei den Überlegungen zu dem Roman war die kleine Schwester zwar kein „Wegwerfgedanke“, aber auch keine Figur, über die ich mir groß Gedanken gemacht habe. Sie hat vielleicht von allen Figuren am meisten eigene Kraft entwickelt.
BS: Der Aspekt der Kraft sticht tatsächlich sehr aus Ihrem Buch hervor. Weil ich noch nie in so einer Situation war, nie in so einer Situation sein möchte und es auch niemandem wünsche, habe ich mich beim Lesen gefragt, woher diese immense Kraft kommt, Widerstand zu leisten, sich zu verstecken und zu überleben. Woher haben die Menschen diese Kraft genommen?
David Safier: Es haben ja nicht alle Menschen diese Kraft. Ich habe mich mal mit einer Psychologin unterhalten, die in Katastrophengebieten arbeitet, z. B. Haiti. Alles wurde dort zerstört. Sie sagt, dass es Menschen gibt, die alles verlieren –ihre ganze Familie und ihr gesamtes Hab und Gut. Und die zerbrechen daran und sind für den Rest des Lebens zerstört. Es gibt aber auch Menschen, die haben die Kraft zum Weiterleben. Man kann nicht genau sagen, woher sie kommt. Man kann sie auch nicht an der Religion oder an der Kraft des Glaubens festmachen – es ist irgendetwas in den Menschen selbst.
Wenn wir jetzt aber konkret zu der Frage des Widerstands kommen, dann muss man sagen, dass die jungen Menschen, die dann noch Kraft hatten, die überlebt haben und nicht in die Lager gegangen sind, auch Kraft aus der Hoffnungslosigkeit gezogen haben. Die haben eine Kraft aus dem Wissen gezogen, dass sie das nicht überleben werden und dass es für sie nur noch um die Frage geht, wie sie sterben. Ob sie in die Züge gehen und sich vergasen lassen oder sich wehren und so etwas wie Stolz haben. Sie zogen also Kraft aus der Gewissheit des Todes – das war vielleicht da am konkretesten.
Aber warum Menschen so oder so in einer Krise reagieren – ich glaube, dass kann man nicht erklären. Meiner Meinung nach kann keiner vorhersagen, welche Menschen angesichts einer Krisensituation Kraft haben und welche nicht.
BS: Ihr Roman ist eine Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit: Es gibt fiktive Figuren wie Mira, aber auch reale wie den Reformpädagogen Janusz Korzcak oder auch Rubinstein. Wie viel mussten Sie recherchieren, um diese Mischung zu erschaffen?
David Safier: Wie gesagt, seit über 20 Jahren wollte ich diesen Roman schreiben. Dementsprechend habe ich immer wieder über das Warschauer Ghetto gelesen. Ich habe mich dann innerhalb eines Jahres sehr intensiv mit dem Thema befasst, mich richtig reingekniet: mit Erinnerungsberichten, dem Alltag, den Schwarzmarktpreisen. Man schaut sich das während der Recherche alles an und saugt es in sich auf. Um die Geschichte schreiben zu können, muss man es dann aber auch wieder beiseitelegen. Man kann nicht ständig darüber nachdenken. Ich hatte mein Material zwar griffbereit und konnte es, wenn es notwendig war, wieder zur Hand nehmen. Wenn ich mir z. B. nicht sicher war, ob die Fakten stimmten. Trotzdem muss man sich grundsätzlich ein Stück weit davon befreien, um die Geschichte schreiben zu können und einen Zugang zu den Figuren zu finden.
BS: Wenn Sie sich zurückversetzen an den Anfang dieses Schreibprozesses oder auch in Momente während des Schreibens: Bei welchen Szenen dachten Sie, dass es sie emotional überwältigt und Sie sehr stark zu einem Teil der Handlung werden?
David Safier: Auch wenn das jetzt ein wenig komisch klingt, hatte ich beim Schreiben wirklich das Gefühl, dass es für mich keine aufregendere, spannendere und emotionalere Geschichte gibt als diese. Ich bin jemand, der gerne andere Bücher liest, der gerne Fernsehserien und Kinofilme schaut und sich dabei auch gut verlieren kann. Aber beim Schreiben hatte ich immer das Gefühl, dass mich dieses Buch viel mehr interessiert als alles andere.
Um deine Frage zu beantworten: Am meisten hat mich der Moment mitgenommen, in dem ich wusste, dass die kleine Schwester sterben wird. Das war ungefähr zehn Seiten vorher. Das war ja nicht geplant. Es war etwas, was von selbst geschehen ist. Ich habe gemerkt, dass es auch eine Zwangsläufigkeit besitzt. Damit es dem historischen Umstand gerecht wird, dass nicht alle Guten überleben. Aber ich wusste auch, dass wir nach ihrem Tod aus heutiger Sicht verstehen können, warum ein 16-jähriges Mädchen zu den Waffen greift.
Denn sie hat dann selber das Gefühl, dass sie die Menschen hasst, die das getan haben.
Diese Woche, in der mir das klar war und ich mit diesen Figuren so verbunden war, ging es mir auch nicht so gut. Das hat mich richtig geschmerzt. Es gab auch andere Sachen, die mich aber weniger beim Schreiben, sondern bei der Recherche geschmerzt haben. Sehr schreckliche Dinge, die tatsächlich passiert sind. Es gibt z. B. diese Szene, wo eine Frau ihr Kind abgibt, um selbst leben zu können – mit den Worten, dass sie noch weitere Kinder kriegen könne. Dass ist etwas, das einen beim Recherchieren und Lesen schockt. Als ich dann Jahre später diese Szene schrieb, trug ich das schon einige Zeit in mir. Das ist dann beim Scheiben nicht mehr ganz so hart, wie damals, als ich das gelesen habe.
BS: Anfang Oktober 2014 lief der Spielfilm „Let’s go“ im Ersten. Er handelt von einer Familie, deren Geschichte mit der des Nationalsozialismus verbunden ist. Als die 21-jährige Tochter aus den USA zurückkehrt, sieht sie sich einerseits mit einem tragischen Unfall konfrontiert, den Familienmitglieder erlitten haben, aber auch mit dem Umstand, dass ihre Eltern im Konzentrationslager Dachau waren. Sie haben zwar überlebt, aber sie sind traumatisiert. Als ich den Film sah – ich war gerade in der Vorbereitungsphase für dieses Interview –, stellte sich mir die Frage, wie Ihre Familie damit umgegangen ist. Wurde geschwiegen oder gab es einen offenen Umgang? Wie verhält es sich damit heute?
David Safier: Mein Vater war Jude und seine Eltern sind umgekommen. Er selbst musste 1938 aus Wien fliehen und sein Leben wurde erschüttert und er wurde traumatisiert. Meine Mutter erfuhr eine andere Art der Traumatisierung. Sie war Jahrgang 1936, ist in Bremen aufgewachsen und war ein Kriegskind. Sie wuchs im Bombenhagel auf und hatte keine richtige Schule. Darüber gesprochen haben sie nicht. Ich weiß – oder ich habe zumindest gehört –, dass Holocaust-Opfer oder auch deutsche Kriegskinder, die ja auch unter dem Nationalsozialismus litten, es oftmals der Enkelgeneration erzählen, aber nicht direkt der nächsten Generation.
Alles, was ich über meinen Vater und meine Mutter weiß, habe ich mir aus kurzen Momenten zusammengereimt. Ich habe mich nie getraut zu fragen – aus Respekt oder was auch immer.
Heute würde ich fragen, aber sie sind schon gestorben. Damals habe ich diese Abwehr gespürt und es wurde nur ganz selten erzählt. Wenn etwas erzählt wurde und ich mir dadurch etwas zusammenreimen konnte, entstand daraus ein Bild. Aber das sind natürlich Bruchstücke gewesen.
BS: Haben Sie beim Schreiben versucht, diese Puzzleteile zusammenzusetzen, und sich überlegt, wie es gewesen sein könnte?
David Safier: Meine Familie war ja nicht dort. Meine Großmutter ist im Ghetto von Lodz gestorben – da kann man sich schon vorstellen, dass sie höchstwahrscheinlich an Hunger oder an einer Krankheit starb. Nein, das war keine richtige Form der Annäherung. Wenn ich die Geschichte meines Vaters erzählen würde, würde ich eine andere Geschichte schreiben. Aber vielleicht ist mir das noch zu nah und gleichzeitig zu fern, um es tatsächlich zu tun.
BS: Es gibt in Deutschland immer noch Antisemitismus, Rassismus, Neonazis und neuerdings auch Nipster – Neonazis im Outfit von Hipstern. Im Sommer wurden auch Anschläge auf Synagogen verübt. Hat Deutschland nichts gelernt oder wie kann man sich das erklären?
David Safier: Die Welt hat nichts gelernt.
Ich habe das mal genauer betrachtet: Die Jewish Anti-Defamation League hat eine Umfrage in allen Ländern der Welt durchgeführt, also mit einer hohen Stichprobe je von ungefähr 2.000 Leuten und einen Antisemitismus-Index erstellt. Wenn du keinen Antisemitismus möchtest, dann musst du nach Laos ziehen – dort liegt der Anteil der Antisemiten bei 0,2%. Zumindest nach Definition der Jewish Anti-Defamation League. Laut dieser Umfrage bzw. Definition lag der Index für Deutschland bei 27%. Andere Umfragen sagen, er liegt bei 20% und wieder andere sagen, es sind 30%. Das gehört also tatsächlich zu unserer Gesellschaft.
Es gibt Länder, in denen es schlimmer ist, z. B. Frankreich, Polen und am aller schlimmsten ist es logischerweise in Palästina. Und doch gehört es leider auch in Deutschland dazu.
Ich versuche, das im Alltag auszublenden – wenn es geht. Als ich etwas älter war als du jetzt, habe ich gelernt, mir nicht jeden Artikel darüber durchzulesen. Denn dann habe ich wieder drei Stunden schlechte Laune oder es zieht mich runter und ich bin deprimiert oder ich bekomme Angst. Was ich durch diese Einstellung auch besser in den Griff bekommen habe, sind die sehr, sehr häufigen schlechten Träume – z. B. Verfolgungsträume. All das hat etwas mit diesem Thema zu tun.
Nun noch mal ein anderer Aspekt, der da auch mit reinspielt: Ich bin nicht religiös. Ich bin aus der Gemeinde ausgetreten. Ein Christ kann aus der Kirche austreten und sagen, dass er kein Christ mehr ist. Beim Judentum ist das anders: Die Familiengeschichte verbietet es dir im Prinzip schon, zu sagen: „Ich habe damit nichts mehr zu tun.“ Aber es gibt auch die Zuschreibung der anderen. Wenn ich sage, dass ich kein Jude bin, sagen die anderen, dass ich einer bin. Es ist ihnen offensichtlich egal, wie ich es sehe. Das ist schwierig, sich damit auseinanderzusetzten. Antisemitismus ist auch nicht nur Rechtsradikalismus: Antisemitismus gibt es ja auch bei Mitbürgern mit Migrationshintergrund usw. Für Menschen mit einer ganz klaren jüdischen Identität, die sagen: „Ja, ich bin ganz klar Jude“, und die religiös sind, für die ist das klarer bzw. greifbarer. Für mich gestaltet sich das anders: Ich bin mir der Problematik bewusst, ich kann dem nicht entgehen – obwohl ich mit der Religion gar nichts zu tun habe. Das ist schon komisch.
BS: Und wie können Sie sich erklären, dass Menschen immer noch diese Ideologien vertreten und auch weitertragen? Ist es die Gesellschaft, mangelnde Bildung, steckt es noch in den Familien und wird weitergegeben?
David Safier: Man muss jede Person einzeln betrachten und erklären, denn es gibt Unterschiede. Man versucht auch oft, Antisemitismus zu verharmlosen, von wegen: „Die wissen ja gar nicht, was sie da sagen.“
Ich weiß noch, wie ich mit meinem Onkel Anfang der 90er durch die Straßen gegangen bin. Da kamen Fußballfans aus Rostock, die schrien: „Hängt die Juden am nächsten Baum auf!“
Mein Onkel sagt, dass das damals in Berlin auch so war: Die hätten auch nicht gewusst, was sie geschrien haben – und wir wissen, was dann kam. Also, es hat etwas mit Unwissenheit zu tun, es hat etwas mit Bildung zu tun. Es hat etwas damit zu tun, dass es schlechte Menschen gibt. Dabei bleibe ich: Es gibt sehr gute, selbstlose Menschen, aber es gibt auch sehr schlechte Menschen. So ist das nun mal. Andere Faktoren sind die wirtschaftliche Lage und Opportunität. So war das damals auch im Nationalsozialismus: Die dachten sich auch, wenn man 10% der Menschen Hab und Gut wegnimmt, haben sie selbst mehr. Das erleben wir jetzt wieder, wenn die Jesiden sagen, dass ihre Nachbarn ihnen nicht geholfen und ihnen das Haus weggenommen haben. Ich glaube wirklich nicht, dass alle Menschen an sich gut sind. Dadurch kommt so etwas zustande.
Das ist kein schönes Menschenbild – das ist mir bewusst.
BS: Wissen Sie, ob „28 Tage lang“ an Schulen gelesen wird?
David Safier: Es wird auch in den Schulen gelesen und heute war eine Lehrerin mit ihrer Klasse bei der Lesung. Meistens aber kommt ein Buch erst mit der Taschenbuchausgabe richtig in den Schulen an – zuvor scheitert es auf den Elternabenden, wo Lektüren von den Lehrkräften vorgestellt werden, am Preis für die Hardcoverausgabe und am Thema. Viele sagen dann: „Muss das denn so teuer sein und dann auch noch so was?“ Trotzdem bekomme ich viele Anfragen. Lustigerweise bin ich zum niederländischen Deutschlehrerkongress eingeladen worden. Zu diesem Kongress kommen 300 Deutschlehrer aus den Niederlanden und die möchten, dass ich aus dem Buch vorlese. Es kann also sein, dass es schneller in den Niederlanden zu einem Teil des Deutschunterrichts wird als hier. Dann kann ich nur hoffen, dass dieses Buch den Weg in die Schulen findet. Ich denke, dass sich Lehrer über ein Buch freuen, das man gut, gern und schnell durchliest.
BS: Nun die traditionelle letzte Frage: Was assoziieren Sie mit dem Begriff „Blaue Seite“:
David Safier: Blau ist meine Lieblingsfarbe (lacht). Ich sehe gerade, dass hinten auf dem Umschlag von „28 Tage lang“ eine blaue Murmel drauf ist. Da habe ich gerade nochmal drüber nachgedacht. Aber ich würde lügen, wenn ich mir jetzt eine verquere Assoziation aus dem Ärmel schütteln würde, nur um originell zu sein.
BS: Herzlichen Dank für das Interview.
David Safier: Vielen Dank.