Interview mit Harriet Reuter Hapgood
Im Rahmen der Jugendbuchtage hatte Anna die Chance die englische Autorin Harriet Reuter Hapgood zu interviewen.
Blaue Seite: Im Buch heißt es an einigen Stellen, Gotties Welt würde reißen oder aufrippeln, wie ein Stoff. Also haben wir uns gefragt: Wenn Gotties Welt ein Stoff wäre, was für ein Stoff wäre das?
Harriet: Das Nachbearbeiten oder Korrigieren des Buches würde ich als Patchworkdecke beschreiben. Immer, wenn ich festgestellt habe, dass ich etwas in einer Szene ändern muss, musste ich sozusagen die ganze Decke zerschneiden, damit ich diesen kleinen Ausschnitt ändern konnte. Deshalb hatte ich dann keine ganze Decke mehr, sondern nur kleine Fetzen einer Geschichte. Aber wenn du mich nach der Stoffsorte fragst, dann vielleicht grüner Cord. Irgendetwas, das nicht gestreift ist, sondern dessen Textur aus Streifen besteht, weil das Buch von verschiedenen Wegen und Möglichkeiten handelt. Und ich denke immer, das Buch sei grün, weil es im Sommer spielt. Als ich es geschrieben habe, war es Winter. Ich saß da und es regnete und es war kalt. Ich dachte an den Sommer und der war für mich sehr grün. Deshalb ein grüner Stoff.
Blaue Seite: Haben Sie je einen Bluteid geschworen?
Harriet: Nein, ich bin zu feige. Früher haben wir so was mit Spucke gemacht: Jeder spuckt in seine Hand und dann schüttelt man Hände – total eklig. Wir hatten auch ein merkwürdiges Spiel, bei dem man sich gegenseitig in den Mund spuckt, aber nein, ich habe nie und werde nie einen Bluteid schwören. Ich kenne auch niemanden, der mutig genug gewesen wäre, sich die Hand für einen Bluteid aufzuritzen. Ich finde auch, dass das keine gute Idee wäre, schon wegen der Hygiene.
Blaue Seite: Sie sind ja auch Illustratorin. Welche Bücher illustrieren Sie?
Harriet: Ich habe ein Buch für meinen Abschluss illustriert. Ich habe Modejournalismus am London College of Fashion studiert und als Abschlussarbeit bzw. letztes Projekt mussten wir so etwas wie ein Magazin oder Buch machen. Da es nicht um Mode gehen musste, hieß mein Buch „The EightyZ of Teen TV“ (Die besten Momente des Teenagerfernsehens der Achtziger, Anm. d. Red.). Es geht um Buffy, die Vampirjägerin, Dawsons Creek, Gilmore Girls, so ziemlich alle Serien für Teenager. Ich hab sie alle gezeichnet. Ich habe die Texte geschrieben, das Buch designed und illustriert. Aber die Illustration in „The Square Root of Summer“ hat ein anderer Illustrator nach meinen Ideen entwickelt. Ich habe meine Entwürfe um drei Uhr nachts fertiggestellt, gescannt und dann nach Amerika geschickt. Dort wurden meine Zeichnungen dann verbessert. Momentan arbeite ich wieder an der Illustration eines Buches, allerdings sind die Vertragsbedingungen noch nicht geklärt. Vielleicht wird es gar nicht veröffentlicht.
Blaue Seite: An was für einem Buch arbeiten Sie gerade?
Harriet: Ich schreibe für meinen Verleger ein neues Buch. Und ich arbeite auch an einem Gedichtband mit eigenen Illustrationen – von dem weiß mein Verleger noch nichts. Ich mache die Zeichnungen nach dem „Watercolor Wash“-Verfahren: Ich träufle schwarze Punkte auf das Papier und verwische die dann zu Linien. Wenn die Zeichnungen trocken sind, erhält man schwarze, leicht verwaschene wasserfeste Linien, die man mit Farbe ausmalen kann. Ich habe mir diese Techniken und das Illustrieren selbst beigebracht. Es ist schön etwas neben dem Schreiben zu haben. Schreiben ist mein Job, aber Illustrieren ist eine geheime Leidenschaft.
Blaue Seite: Welche Länder haben Sie bereits besucht?
Harriet: Ich war schon in Deutschland – bisher noch nicht in Lübeck, aber ich war ein paarmal in Berlin. Ich war in vielen europäischen Ländern: Norwegen Dänemark, Deutschland, Spanien, Portugal, Türkei, Griechenland, Kroatien, Rumänien, Österreich, Schweiz. Außerdem Amerika und Australien. Südamerika fehlt noch auf meiner Liste.
Blaue Seite: Gabe es einen Lieblingsort, den Sie auf Ihren Reisen gefunden haben?
Harriet: Ich mag die Westküste von Amerika, Seattle und San Francisco. Da ist es schön und wolkig und nass. Ich bin halt Engländerin, ich mag das. Ich mag auch Nordeuropa – und Deutschland: das Essen und die Architektur. Mexiko habe ich mir auch noch vorgenommen. Da war ich noch nie. Ich komme allerdings nicht so gut mit heißem Wetter klar. Ich mag es eher feucht. Hier ist es also perfekt für mich.
Blaue Seite: Wie gefällt Ihnen Lübeck?
Harriet: Es ist sehr schön! Ich war ganz überrascht. Als ich vom Bahnhof zu meinem Hotel gegangen bin, war es ein bisschen, wie durch ein Märchen zu wandern. Auf dem Weg zu den Bücherpiraten habe ich ein Foto von der frühen Morgensonne gemacht. Die vielen kleinen Häuser sind sehr schön – auch dieses Bücherpiratenhaus ist wundervoll.
Blaue Seite: Was ist Ihre Lieblingszeile bzw. Ihr Lieblingsmoment in einem Buch?
Harriet: Ich mag den Anfang von dem Buch „I Capture The Castle“, wenn die Hauptperson Cassandra erzählt, sie sitze in der Spüle ihrer Küche, während sie in ihr Tagebuch schreibt (Zitat: „I write this, sitting in the kitchen sink.“ Sie lebt in einem altehrwürdigen Schloss in Kent mit einem viktorianischen Anbau, ihr Vater ist Schriftsteller, ihre Mutter ist tot und sie leben in völliger Armut, verkaufen alte Möbel. Und sie schreibt diese Tagebücher. Es ist eigentlich eine Liebesgeschichte, Eine andere Zeile fällt mir nicht ein. Ich denke mehr in Szenen oder Charakteren.
Blaue Seite: Haben Sie auch ein Tagebuch geschrieben, während Sie in der Spüle Ihrer Küche gesessen haben?
Harriet: Ich bin nicht gut im Tagebuchschreiben, aber ich mag die Idee eines Tagebuchs. Ich habe also nie in der Küche gesessen und Tagebuch geschrieben, zumal meine Küche dafür zu klein wäre. Ich schreibe viel im Bett. Ich lebe in einer viktorianischen Wohnung, da ist es manchmal sehr kalt, so dass es sich anbietet, im warmen Bett zu schreiben. Ich habe als Teenager ein Tagebuch geführt, aber da war nicht viel zu berichten. Es gibt ein Zitat: „Nur gute Mädchen führen ein Tagebuch, böse Mädchen haben keine Zeit dafür.“ Und das war wohl ein bisschen das Problem mit meinem Teenager-Tagebuch. Aber ich nutze Instagram als Tagebuch. Ich scrolle zurück und ich werde da jetzt auch Fotos von Lübeck einstellen, so dass ich mich erinnern kann: Ja, 2018 war ich in Lübeck.
Blaue Seite: Wann haben Sie das letzte Mal eine Art Déjà-vu gehabt?
Harriet: Ich habe ständig Déjà-vus. Manchmal, wenn ich mit meinem Freund in unserer kleinen Küche zu Abend esse, habe ich das Gefühl, dass es diese Szene schon gab und dass sie aus mir herausfließt. Mein Freund ist Neurologe Er erklärt mir dann genau, was in meinem Gehirn passiert und ich antworte: „Nein, ich habe das schon mal erlebt!“ Ich habe also häufiger Déjà-vus – aber nur kleine Situationen, nichts Besonderes.
Blaue Seite: Was war Ihre Lieblingsfigur als Kind?
Harriet: Als Kind ... Ich muss überlegen, was ich damals gelesen habe. Ich mochte „Phoebe And The Hot Water Bottles“. Darin geht es um das Mädchen Phoebe. Die bekommt immer abends ganz viele Wärmflasche mit ins Bett. Einmal bricht Feuer aus und Phoebe löscht es mit dem Wasser ihrer Wärmflaschen. Die Feuerwehr in England fand, dass das Buch zu gefährlich für Kinder sei. Aber ich mochte die Figur der Phoebe. Und dann mochte ich Noisy Nora. Später gab es diese Geschichte, in der ein frecher Junge, die Hauptrolle spielt. Der Junge schreit beim Frühstück laut auf, weil in seinem Essen ein Frosch ist. Seine Eltern erklären ihm, dass dies unmöglich sei. Aber er weiß, dass da ein Frosch ist – weil er ihn selber hineingesetzt hat. Seine Eltern schimpfen mit ihm und als Strafe darf er nicht mit auf den Familienausflug. Aber genau das war der Plan des Jungen: Er wollte heimlich einen verschlossenen Raum erkunden!
Blaue Seite: Ich würde Sie gern etwas zu Zeitreisen fragen: Meinen Sie, man könnte das Jetzt und die Zukunft ändern, wenn man die Vergangenheit ändert? Oder wäre das Jetzt schon der veränderte Zustand, weil die Vergangenheit geändert wurde?
Harriet: Ich weiß, was Du meinst. Es wird im Buch als Schmetterlingseffekt beschrieben: Während einer Zeitreise ändern man die Vergangenheit, die Zukunft ist dann völlig anders und bei der Rückkehr sind ganze Länder und Welten zerstört. Ich weiß gar nicht so genau, was ich abseits von Science Fiction glaube. Ich denke auf Grund meiner Recherchen – und das ist es auch, was ich in meinem Buch beschreibe –, dass es mehrere Universen gibt. Das bedeutet, du kannst vielleicht die Vergangenheit ändern, aber in der Zukunft deines bekannten Universums, deiner Zeitlinie ankommen. Die Theorie dahinter ist, dass jeder Moment jede Entscheidung das Universum in so viele Teile teilt, wie es Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Es existieren also unendlich viele parallele Universen. Wenn du also in die Vergangen reist und dort etwas änderst, gibt es immer noch dein eigenes Universum. Die Frage ist: Wie findet man dorthin zurück? Wenn man lange darüber nachdenkt, verwirrt es einen.
Blaue Seite: Ich habe auch folgende Theorie: Wenn man in der Zeit zurückreist, in der Vergangenheit etwas verändert und dann in seine Zeit zurückkehrt, ist alles wie vorher. Weil man die Änderung ja schon vorher in der Vergangenheit vorgenommen hat.
Harriet: Ich verstehe. Du meinst, dass die Zeitreise eigentlich ein Kreis ist. Ja, das ist auch im Buch beschrieben: Du kannst nur in der Zeit zurückreisen, weil Du es in der Vergangenheit schon getan hast. Ich mag Zeitreisen und auch alle Geschichten und Filme dazu. Diese Erzählungen, wo man den Lauf der Geschichte ändert und welche Konsequenzen es hat. Was ja eigentlich immer das Thema von Geschichten ist: Zu welchen Konsequenzen führen Handlungen und Entscheidungen? Die Charaktere von Büchern erleben ja nicht plötzlich eine Geschichte. Die Geschichte ist das Ergebnis ihrer Entscheidungen und Handlungen. Und es gibt für sie so viele Möglichkeiten, je nachdem, in welche Richtung der Schriftsteller sie lenkt.
Blaue Seite: Was meinen Sie ist wahrscheinlicher: dass Zeitreisen zu sich schließenden Kreisen führen oder die Idee der multiplen Universen?
Harriet: Möglichweise ist es beides. Der Zeitverlauf an sich ist ein Kreis, der sich schließt, und darin gibt es unendlich viele Universen. Wenn es also tatsächlich Zeitreisen gibt, ist es wahrscheinlich eine Kombination von beidem. Das macht das Thema so schwierig. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum Zeitreisen für uns noch nicht möglich sind. Der Kreiseffekt erscheint logischer, ist aber schwieriger zu erklären, gerade für einen Schriftsteller. Weil man immer in diesen Kreisen von Ursache-Wirkung denken muss. Wir wissen so wenig über unser Universum, alles ist möglich.
Blaue Seite: Frau Reuter Hapgood, wir haben uns sehr über Ihren Besuch gefreut. Vielen Dank für Ihren Besuch bei uns und für das Interview.
Harriet: Vielen Dank, ich komme jederzeit gern wieder.