Interview mit John Green
Anlässlich des Habourfront Festivals in Hamburg traf die Blaue Seite am 12. September 2012 den amerikanischen Autor John Green. Lina Marie Ostertag, Freya Schwachenwald und Kim Baschant interviewten ihn unmittelbar nach seiner Lesung aus seinem neuesten Roman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“.
Blaue Seite: Was ist Ihr Lieblingswort?
John Green: Mein Lieblingswort ist „lovely“ – auf Deutsch etwa wunderschön, reizend oder entzückend –, auch wenn es schwierig ist zu sagen, warum. Im Englischen hat „love“ so viele verschiedene Bedeutungen. Wenn man daraus dann noch ein Adverb macht, wird es etwas ganz Besonderes.
BS: Denken Sie darüber nach, wie die Geschichte eines Buchcharakters weitergehen könnte?
John Green: Früher war ich verrückt danach herauszufinden, wie eine Geschichte weitergeht. Ich wollte, dass mir die Autoren verraten, was nach dem Ende des Buches passiert. Aber heute denke ich nicht mehr so viel darüber nach.
BS: Können Sie sagen, was mit Margo, der weiblichen Hauptfigur aus „Margos Spuren“ nach dem Ende des Buches geschieht?
John Green: (lacht) Ich möchte mich nicht anhören wie Peter Van Houten [ein Charakter aus dem Buch „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“], aber ich weiß es wirklich nicht. Das möchte ich lieber eurer Vorstellungskraft überlassen und nicht meiner.
BS: Wissen Sie am Anfang des Schreibens wie ein Buch enden wird?
John Green: Nein, normalerweise weiß ich nicht, wie meine Geschichten ausgehen. Ich dachte zum Beispiel, dass „Margos Spuren“ in der Kaschmir-Region enden würde. Den tatsächlichen Abschluss der Geschichte habe ich erst während des Schreibens entwickelt.
BS: Hatten Sie Schwierigkeiten damit „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ aus der Perspektive eines Mädchens zu schreiben?
John Green: Ich hatte keine Probleme damit, weil ich mit einer ganz bestimmten Einstellung an die Geschichte herangegangen bin. Ich habe mir nie gesagt, dass ich aus der Perspektive eines Mädchens schreibe, sondern vielmehr aus Hazels persönlicher Sicht. Das war keine besondere Herausforderung. Ich wollte dem Mädchen eine Stimme geben. Normalerweise wird in Krebs-Geschichten dem Kranken seine Stimme genommen. Da erzählen die Autoren ihre Geschichte, anstatt dass sie sie erzählen.
BS: Haben Sie ein Lieblingsbuch wie Hazels „Ein herrschaftliches Leiden“?
John Green: Es gibt kein Buch, das ich so sehr liebe wie Hazel „Ein herrschaftliches Leiden“. Aber die Bücher, die da am ehesten rankommen, sind „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace und „The Blood of the Lamb“ von Peter de Vries. Ich habe viel über diese Bücher nachgedacht, als ich an Hazels Beziehung zu Peter Van Houten und „Ein herrschaftliches Leiden“ arbeitete.
BS: Was würden Sie mit Ihrem letzten Wunsch anstellen?
John Green: Ich würde mir mehr Leben wünschen.
BS: In „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ gibt es mehrere dramatische Wendungen. Waren die von Anfang an geplant?
John Green: Es ging mir beim Schreiben von diesem Buch darum, zu zeigen, dass Leben zufällig ist. Und manchmal macht man alles richtig, und trotzdem geschehen schlimme Dinge. Das war von Anfang an in meiner Geschichte geplant. Das Schicksal ist eben ein mieser Verräter. Ich habe nie über ein glückliches Ende des Buches nachgedacht. Leider bin ich kein Autor für ein Happy End.
BS: Was ist der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Liebesgeschichte?
John Green: Das ist eine sehr spannende Frage. Meiner Meinung nach ist eine schlechte Liebesgeschichte sentimental, romantisiert und rührselig. Eine gute Liebesgeschichte hingegen ist ehrlich, rau und lustig. Meine Erfahrung mit wahrer Liebe ist, dass sie nicht aus Rosen und schönem Licht besteht. Vielmehr findet man sie in der alltäglichen Schufterei des Lebens. Liebe beginnt, wenn Menschen verletzlich werden und wenn sie ihre Ängste miteinander teilen.
BS: Ihr Roman „An Abundance of Katherines“ heißt auf Deutsch „Die erste Liebe (nach 19 vergeblichen Versuchen)“. Wie viele Versuche haben Sie für Ihre erste Liebe gebraucht?
John Green: Die erste Liebe war einfach. Die anderen waren schwerer.
BS: Sind Sie jemals erwachsen geworden?
John Green: Ich bin sehr viel erwachsener als ich es einmal war. Viel lieber würde ich auf diese Frage mit „Nein“ antworten. Aber wenn man erst einmal ein Kind hat, wird man sehr schnell erwachsen.
BS: Gibt es ein Erlebnis, das jeder Jugendlicher einmal erlebt haben sollte?
John Green: Es gibt so viele Erfahrungen, die man als Jugendlicher sammeln sollte. Die erste Liebe, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Aber gleichzeitig erlebt man zum ersten Mal auch Angst und Verlust. Das alles macht die Jugend aus.
BS: Hatten Sie selbst ein besonderes Erlebnis als Jugendlicher?
John Green: Ich war früher ein ganz schöner Nerd. Mir war es sehr wichtig, was andere Leute von mir dachten. Das ist heutzutage manchmal leider immer noch so.
BS: Haben Sie schon als Kind geschrieben?
John Green: Als Kind habe ich eine Menge geschrieben. Als Jugendlicher dann weniger. Aber als ich aufs College kam, fing ich wieder damit an.
BS: Meinen Sie, Ihr Sohn Henry wird Ihre Bücher lesen?
John Green: Ich hoffe es! Noch ist er allerdings eher an meinem iPad interessiert als an Büchern. Natürlich fände ich es schön, wenn meine Romane ihm gefallen. Gleichzeitig hoffe ich aber, dass es für ihn keine große Sache ist. Niemand sollte sich zu sehr dafür interessieren, was seine Eltern tun, um Geld zu verdienen.
BS: Wie finden Sie Ihre Charaktere?
John Green: Es ist ein sehr langer Prozess aus Versuchen, ob eine Figur funktioniert oder nicht. Häufig habe ich bereits eine Stimme im Kopf. Aber es ist nicht einfach, diese Stimme, die sich in meinem Kopf richtig anfühlt, aufs Papier zu bringen. Ich verändere viel an meinen Personen. Ich lasse Dinge weg und füge andere hinzu, bis dann der Charakter entsteht, auf den man im Buch trifft. Im Augenblick bin ich in dieser Phase für mein nächstes Buch.
BS: Welchen Charakter würden Sie gerne einmal treffen?
John Green: Ich würde am liebsten Hassan aus „Die erste Liebe (nach 19 vergeblichen Versuchen)“ treffen. Er ist großartig und genau so, wie ich gerne wäre. Aber auch Augustus aus „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ wäre sicherlich eine spannende Begegnung.
BS: Was inspiriert Sie?
John Green: Mich inspirieren vor allem Gedanken über meine Vergangenheit. Wie William Faulkner schon sagte: „The past is not dead. In fact, it’s not even past” [dt. etwa: die Vergangenheit ist nicht tot. Tatsächlich ist sie nicht einmal vergangen]. Ebenso finde ich meine Ideen in Alltagsgeschehnissen, in den Dingen, die ich oder meine Freunde erleben.
BS: Schreiben Sie gerne mit anderen Autoren zusammen, wie zum Beispiel in „Tage wie diese“?
John Green: Ja, es ist großartig mit anderen Autoren zu schreiben. Diese Kooperation macht sehr viel Spaß, ist aber auch eine Herausforderung. Ich bin ein Kontrollfreak und manchmal fällt es mir schwer, den Text jemand anderem zu überlassen. Trotzdem mag ich diese Zusammenarbeit. Vielleicht macht sie mich etwas weniger verrückt als ich bin.
BS: Hören Sie Musik beim Schreiben?
John Green: Manchmal höre ich Musik. Als ich etwa an „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“arbeitete, hörte ich eine Menge schwedischen Hip Hop. Diese Musik ist großartig.
BS: Spielt Philosophie eine große Rolle in Ihrem Leben?
John Green: Auf jeden Fall ist mir Philosophie sehr wichtig. Eigentlich spielt sie in jedem Leben eine Rolle. Die Frage ist nur, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Jede Entscheidung, die man trifft, hat Auswirkungen auf das Leben. Mir ist das sehr wichtig. Ich hinterfrage meine Arbeit und meine Entscheidungen. Meiner Ansicht nach kann man nur so ein gutes und erfülltes Leben führen.
BS: Wie finden Sie es, schon zwei Mal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert gewesen zu sein und ihn nicht erhalten zu haben?
John Green: (lacht) Es ist eine große Ehre für mich, wirklich. Natürlich wäre es großartig, den Preis auch tatsächlich zu erhalten. Aber die Nominierung allein ist schon eine tolle Sache.
BS: In „Eine wie Alaska“ sammelt Miles die letzten Worte bekannter Persönlichkeiten. Was wären Ihre letzten Worte?
John Green: Ich weiß, dass es sich nach einem Klischee anhört. Aber meine letzten Worte würden sich an meine Familie wenden mit dem Satz „Ich liebe euch“.
BS: Und woher kommt die Idee mit den letzten Worten?
John Green: Als Kind hatte ich ein Geschichtsbuch, in dem die letzten Worte zweier Präsidenten der Vereinigten Staaten standen. Diese Zitate fand ich so interessant, dass ich begann, letzte Worte zu sammeln. Ganz ähnlich wie bei Miles entwickelte sich daraus fast schon eine Besessenheit.
BS: Was ist für Sie eine Blaue Seite?
John Green: Zuerst denke ich an die ersten Seiten aus meinem Lieblingsbuch als ich ein Kind war, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Jedes Mal, wenn ich das Buch öffnete, war das erste, was ich sah, diese blaue Seite.