Interview mit Kate di Goldi

Interview

Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 interviewte Kerrin Kiesbye die  neuseeländische Autorin Kate de Goldi. Die Redakteurin der Blauen Seite  hat ihr in diesem Gespräch vor allem Fragen zu ihrem Jugendbuch „Abends  um 10“ gestellt.

Blaue Seite: Könnten Sie sich vorstellen, ein Leben wie Frank und seine Familie zu führen?

Kate de Goldi: Ja, denn in einigen Punkten – was z.B. das Äußere und  die Atmosphäre in dieser Familie angeht – gleicht sie ein bisschen  meiner eigenen. Aber nur ein bisschen. Ich hatte nie eine Mutter, die an  das Haus gefesselt war und im Gegensatz zu Frankie habe ich mich auch  niemals selber geschlagen. Aber ich hatte eine Phase als Mutter, in der  ich sehr erschöpft war. Also kann ich Frankies Mutter verstehen. Meine  Familie ist auch eine sehr große. Mit einem Sohn, einer Tochter, einer  Stieftochter und Enkeln, einem Ehemann und vielen vielen Tanten. Ich  wollte etwas über eine ganz normal-verrückte Familie schreiben. Alle  Familien sind verrückt, jede auf ihre Art. Ich wollte etwas über die  unterschiedlichen Persönlichkeiten schreiben, die es innerhalb einer  Familie gibt und über die Geheimnisse, die eine Familie hat –  Insofern:  Ja, das kann ich mir vorstellen.

BS: Haben Sie selber jemals die Situation erlebt, dass Sie zu  Bett gehen und sich vorher all diese philosophischen Fragen gestellt  haben?

Kate de Goldi: Mein Sohn hat das gemacht. Das war eines der Dinge,  die mir als Idee für die Geschichte dienten. Insgesamt haben drei Dinge  dafür gesorgt, dass diese Geschichte entstehen konnte. Zunächst die  Mutter: Ich habe eine wahre Geschichte über eine Frau gelesen, die ihr  Haus jahrelang nicht verlassen hat. Zweitens kam mein Sohn, der jetzt 23  Jahre alt ist, nachts oft in mein Schlafzimmer und fragte mich diese  Art Fragen. Meine Lieblingsfrage und gleichzeitig die lustigste Frage  war: „Was ist, wenn ich älter werde und nicht mehr so schlau bin wie  heute?“ Die gefiel mir sehr. Das ging über mehrere Jahre so. Irgendwann  habe ich herausgefunden bzw. erfahren, dass dies tatsächlich zu einem  Entwicklungsprozess gehört, bei dem man ein Bewusstsein für seine eigene  Existenz in der Welt entwickelt und einem all diese Möglichkeiten in  den Sinn kommen. Als mein Sohn in dieser Phase war, habe ich mir  überlegt, dass das eine gute Geschichte wäre. Meine Geschichten kann ich  aber erst richtig entwickeln, wenn ich einen Titel gefunden habe.  Nachdem ich schon 18 Monate lang an einigen Geschichten geschrieben  hatte, kam mein Sohn eines Abends ins Schlafzimmer und machte den  Vorschlag „The 10 p.m. Question“ [wörtlich: Die 10-Uhr-abends-Frage;  deutscher Titel = „Abends um 10“] als Titel zu nehmen und ich fing  sofort an, das Buch zu schreiben. Die dritte Inspirationsquelle war,  dass ich auf ein Mädchen aufgepasst habe, das ungefähr zwölf war und  zwei Schwestern, aber keinen Vater hatte. Die ganze Familie zog immer in  der Welt umher. Ihre Mutter ähnelte Sydneys Mutter sehr. Dieses junge  Mädchen wollte einfach nur für eine Weile an ein und demselben Platz  bleiben. Zusammen ergeben diese drei Dinge die Hintergrundgeschichten zu  „Abends um 10“.

BS: Welchen Rat würden Sie Frankie geben, wenn Sie in der Position wären, seine Fragen zu beantworten?

Kate de Goldi: Das Erste, was ich einem jungen Mann sagen würde,  wäre, dass er, wenn es ihm nicht gut geht, das ruhig zugeben kann. Aber  solche Dinge sieht man in diesem Alter nicht rational. Meinem eigenen  Sohn habe ich einmal geraten, dass er nicht alles immer und immer wieder  in seinem Kopf durchgehen muss, denn dann wird es nur immer größer und  größer. So etwas lernt man mit der Zeit. Es ist völlig berechtigt, in  dieser Welt ängstlich zu sein, wir leben in einer komplizierten Welt.  Aber wichtig ist, dass man Erwachsene hat, auf die man sich verlassen  kann. Wovor Frankie wirklich Angst hatte, war, dass er genauso wird wie  seine Mutter. An einem bestimmten Punkt wollen wir alle anders sein als  unsere Eltern. Und wir wollen von ihnen geliebt werden, obwohl wir  anders sind als sie. Man könnte das Erwachsenwerden als eine Reise  bezeichnen. Aber es wird niemals eine perfekte Welt mit perfekten Happy  Ends geben.

BS: Am Anfang des Buches bereitet Frankie sein Mittagessen  für die Schule vor und nimmt ein Erdnussbutter-Käse-Sandwich mit. Würden  Sie ein Erdnussbutter-Käse-Sandwich essen?

Kate de Goldi: Das habe ich schon öfter gemacht:  Erdnussbutter-Bananen-geschmolzener Käse-Sandwich. Hast du schon einmal  Käse mit Marmelade zusammen gegessen?

Oft kommt es vor, dass man sich beim Schreiben einer Geschichte in  bestimmte Aspekte vernarrt und gar nicht weiß warum. Ich habe genug  Bücher geschrieben,  um zu wissen, dass es dafür einen Grund gibt. Als  Frankie und Sydney das Buch schreiben, also das Buch innerhalb des  Buches, war ich mir nicht ganz sicher, von was es handeln sollte. Das  Ende der Geschichte ist einfach ein gutes Ende für Frankies Familie. Auf  diese Art und Weise lernt er, was das Leben ausmacht. Und an diesem  Punkt habe ich gemerkt, dass das ein Weg war, um diese Erkenntnis zu  zeigen. Das Schreiben ist auch für den Autor ein Weg herauszufinden,  dass man nie alles wissen kann. Denn nachdem das Buch fertig ist,  bekommt es der Leser in die Hände und die Geschichte wird so  weitergegeben. Und jeder Leser versteht deine Geschichte anders. Ich  bekomme oft Rückmeldungen über Dinge, die ich so in meiner Geschichte  noch nie betrachtet habe. In gewisser Weise vervollständigt der Leser  auch die Geschichte. Wichtig ist auch, wo man aufhört und an welchem  Punkt man den Leser mit dem Ende der Geschichte sozusagen alleine lässt.  Viele Leser sind zu mir gekommen und fragten: „Was glauben Sie, was  passiert mit Frankie nach dem Buch?“ und ich habe geantwortet: „Was  denken Sie?“ Was die Leser darüber denken, zählt genau so viel wie die  Idee, die ich im Kopf habe. 

BS: Warum haben Sie sich dafür entschieden, ein  philosophisches Buch zu schreiben und nicht eine simple, fröhliche  Liebesgeschichte?

Kate de Goldi: Ich interessiere mich für Philosophie und fühle mich  zu der Komplexität des Lebens hingezogen. Außerdem möchte ich mich in  meinen Geschichten mit unseren Beziehungen, der Welt, in der wir leben,  Schwierigkeiten und Entscheidungen unseres Lebens auseinandersetzen. Für  mich sind das die besonders interessanten Themen für Geschichten. Ich  glaube nicht, dass Autoren immer wieder die gleiche Handlung schreiben,  aber jeder Autor hat doch Themen, über die er gerne schreibt. Und meine  Bücher handeln am Ende immer von Familien, Familien-Geheimnissen und  Verwandtschaftsbeziehungen. Meine Lieblingsthemen sind Dinge, die das  Leben ausmacht. Das Buch, an dem ich im Moment schreibe, handelt von  einem 14-jährigen Mädchen, das ihrer Familie weggenommen wird aus  Gründen, die wir nicht verstehen. Es gibt im Leben immer etwas, was man  nicht ganz verstehen kann und zu diesem Punkt kommt man auch während des  Schreibens immer wieder zurück. Jede Geschichte hat bestimmte Ebenen,  die ich noch nicht verstanden habe. Jedes meiner Bücher hat  philosophische und psychologische Elemente.

BS: Welche Bücher lesen Sie selber gerne? Sie sagten ja, dass Sie gerne lesen.

Kate de Goldi: Ja, ich lese sehr viel. Ich habe in den letzten zehn  Jahren auch als Kritikerin für das Radio, Zeitschriften und für das  Fernsehen gearbeitet. Ich lese sehr oft Kinderbücher, gerne Romane,  Fantasy, Krimis, Essays, zeitgenössische Romane, Geschichtsbücher und –  leider zu selten – Gedichte. Ich lese auch viele Bücher über Religion.  Am liebsten lese ich Bücher von Autoren, die etwas komplexer schreiben,  Bücher mit tollen Geschichten, bei denen es unter der Oberfläche eine  zweite Ebene gibt. 

BS: Jetzt haben wir noch eine letzte Frage, die wir allen  Autoren stellen. Unsere Website nennt sich „Blaue Seite“, daher fragen  wir immer: Was hat für Sie eine „Blaue Seite“?

Kate de Goldi: Das Erste, was mir dazu einfällt, sind Blumen. Kennst du  Kornblumen? Die sind wirklich intensiv blau. Ich liebe Blumen. Die  Kornblume ist eine meiner Lieblingsblumen, weil sie im Frühling blüht.  Blau kommt als Farbe im Garten ja auch sonst eher selten vor. Blau hat  etwas Mysteriöses. Deshalb finde ich die Kornblume besonders schön. Und  an sie musste ich bei der Frage zuerst denken.

BS: Vielen Dank für das Interview.

RedakteurRedakteur: Kerrin
FotosFotos: Freya
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