Interview mit Kirsten Boie zu „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“
Im Rahmen der fairen Woche las Kirsten Boie am 19. September aus ihrem bis dahin unveröffentlichten Buch: „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“. Die Blaue Seite nutzte dort die Gelegenheit, um mit ihr über das neue Buch zu sprechen. Geführt haben das Interview Linnea Müller und Antonia König.
BS: Sie haben gesagt, die Geschichten in „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ seien echte Geschichten. Glauben Sie, dass Ihr Buch den Kindern, die Vorbilder für die Geschichten waren, gefallen würde?
Kirsten Boie: Sie könnten das Buch gar nicht lesen. Denn es wird nie auf Siswati übersetzt werden. Sie könnten es teilweise auf Englisch lesen, weil sie Englisch in der Schule lernen und das oft gut können. Ich weiß aber nicht wie viel die Kinder dort überhaupt lesen. In der Region, in der ich regelmäßig bin, gibt es wahrscheinlich keine Bibliotheken, das war bisher nicht unser Thema, uns ging es eher um die Grundversorgung und das Überleben der Kinder. Ich weiß auch nicht, ob die Schüler dann vielleicht in der Schule Romane lesen, aber auch das glaube ich nicht. Das sind Fragen, die erst jetzt durch eure Fragen zum Buch auftauchen. Wenn ich das nächste Mal dort bin, werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten. Ich denke aber, dass z.B. das Bilderbuch, das in den Sommerferien bei den Bücherpiraten erstellt worden ist und bei dem ich mitgeholfen habe, und das ja in 200 Sprachen übersetzt werden soll, dort mit den Kindern gelesen werden kann. Eine Frau übersetzt es gerade auf Siswati. Die Ehrenamtlichen in den NCPs können es dann laminieren und mit den Kindern angucken. Ich bin ja überzeugt, dass Geschichten etwas ganz Hilfreiches sein können. Gerade, wenn es einem schlecht geht, wie den Kindern dort.
BS: Haben Sie das Gefühl, dass die Kinder wissen, wie wichtig die Schule ist? In einer der vier Geschichten in Ihrem Buch sagt die Mutter, Schule sei wichtiger als Essen. Die Kinder hier gehen ja nicht immer gerne zur Schule. Ist das in Swasiland anders?
Kirsten Boie: Ich weiß von einigen Ehrenamtlichen, dass es zum Teil durchaus ein Problem ist, dass Kinder nicht zur Schule gehen wollen. Abstrakt wissen Kinder und Jugendliche natürlich, wie wichtig es wäre. Genau wie die Kinder hier auch. Allerdings bedeutet das nicht, dass sie es auch tun. Jeder, der hier keine Hausaufgaben macht, die Schule schwänzt oder nicht für die Klausuren lernt, weiß trotzdem wie wichtig Schule ist. Dort ist das ähnlich. Mein Eindruck war aber, dass unglaublich viele Kinder zur Schule gehen und dass sie das auch gerne tun. Das ergibt sich einfach daraus, dass die Schule für die Kinder der tollste Ort ist. Was haben sie denn Zuhause? Wenn sie in der Schule sind, sind sie mit ihren Freunden zusammen und sind gut aufgehoben. Wenn man nachmittags durch die Straßen fährt, sieht man große Gruppen von Kindern in Schuluniformen – ohne die dürfen sie nicht in die Schule. Es gibt in meinem Buch eine Geschichte: Yabus Schuhe. Es geht um ein Kind, dem die Schulschuhe fehlen, Ich habe selbst erlebt, dass Kinder nicht mehr in die Schule durften, weil sie keine Schulschuhe hatten. Sie waren dann sehr glücklich, als sie Schuhe bekamen.
BS: Kommen zu den NCPs alle Kinder, die verwaist sind, oder gibt es auch Kinder, die Angst davor haben?
Kirsten Boie: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe bei meiner letzten Reise zwei junge Frauen in den NCPs befragt. Sie sagten mir, sie müssten die Kinder nachmittags eher nach Hause scheuchen. Die Kinder kämen jeden Tag und sie wären gerne dort. Wenn man Zuhause niemanden mehr hat, ist man natürlich froh, wenn dort an den NCPs Menschen sind, die sich um einen kümmern. Die Situation dort ist für uns unvorstellbar, auch wie weit die Wege sind. NCPs stehen meistens alleine. Die Siedlungen dort sind nämlich Streudörfer. Wenn wir in Deutschland an ein Dorf denken, sehen wir meistens eine Dorfstraße vor uns mit Häusern auf beiden Seiten. Oder auch fünf Straßen und Häuser. Die Streusiedlungen in Swasiland sind anders. Die einzelnen Hütten liegen kilometerweit voneinander entfernt. Die Kinder kommen aus sehr großen Entfernungen. Aber sie kommen sogar trotzdem noch an die NCPs, wenn dort das Essen ausgeht. Sie kommen nicht primär wegen der Malzeiten, sondern wegen der Erwachsenen, die sich um sie kümmern.
BS: Sind die Kinder traumatisiert?
Kirsten Boie: Davon gehe ich aus. Ich habe dort mit einer Studentin gesprochen, mit der wir einen Tag lang unterwegs waren. Sie schreibt eine Examensarbeit über die Traumatisierung der Kinder. Dafür redet sie mit den Ehrenamtlichen an den NCPs. Die erzählen ihr ausnahmslos, dass die Kinder alle große Angst davor haben, auch selbst bald zu sterben. Das ist ja auch keine unrealistische Angst.
Blaue Seite: Sie haben sehr viele Kinder getroffen. Was hat Sie dazu bewogen, gerade diese vier Geschichten aufzuschreiben?
Kirsten Boie: Die ihnen zugrunde liegenden Erlebnisse waren für mich besonders eindringlich. In der ersten Geschichte geht es z.B. um einen Jungen, der mit seiner Schwester bei der gelähmten Großmutter lebt. Ich habe diese Familie bei meiner ersten Reise nach Swasiland am letzten Tag vor der Rückreise getroffen. Verblüffender Weise stand in der Hütte ein zusammengefalteter Rollstuhl, den sie auf dem engen Raum gar nicht benutzen konnten. Ich weiß bis heute nicht, wozu sie den Rollstuhl hatten, denn es gab auch draußen überall Geröll und man musste über Berge und durch einen Bach gehen, um zur Hütte zu gelangen. Sie haben ihn wohl freundlicherweise geschenkt bekommen. Aber dieses Elend hat mich so erschreckt, dass ich dann auf dem Flughafen die erste Geschichte geschrieben habe.
BS: Fällt es Ihnen leichter, reale Geschichten aufzuschreiben, als komplett ausgedachte?
Kirsten Boie: Eigentlich nicht. Ich brauche beides. Gerade für Jüngere habe ich viele Geschichten geschrieben, die lustig und vollkommen fiktiv sind, wie z.B. „Der kleine Ritter Trenk“. Aber das ist ja nun leider nicht das ganze Leben und deshalb denke ich, man kann beides schreiben. Es ist völlig naiv, zu erwarten, dass jemand nur traurige oder nur lustige Bücher schreibt.
BS: Sie haben in Ihrem Buch auch beschrieben, dass die Landschaft im Swasiland so wunderschön ist. Es entsteht eine sehr starke, eindringliche Spannung zwischen der idyllischen Kulisse und den elenden Zuständen dort. Finden Sie es wichtig, dass Geschichten für Kinder nicht immer nur die Idylle zeigen, sondern auch die elenden Erfahrungen nicht ausklammern?
Kirsten Boie: Ja, schon. Wenn man Kinder fragt, ob sie lieber etwas Trauriges oder etwas Lustiges lesen wollen, nehmen sie meistens das Lustige. Allerdings lesen sie die traurigen Geschichten, wenn sie damit konfrontiert werden, doch ganz gerne und sind oft davon fasziniert. Es ist nur leider eine Tatsache, dass ernstere Bücher mit ernsteren Themen für Kinder nicht so gut verkauft werden wie lustige Bücher. Kinderbücher werden meistens von den Erwachsenen für die Kinder gekauft und weil die Kinder sich darüber freuen sollen, kaufen sie etwas Lustiges. Das bewirkt, dass die ernsteren Titel immer relativ schnell vom Markt sind, was schade ist. Zwar kann man Probleme ansprechen, aber so ein Buch hält sich dann nicht ewig. Bei Jugendlichen wird das dann anders, die lassen sich auch auf Ernsteres ein. Man sieht es an dem Buch „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“. Es arbeitet toll mit der Kombination von Tragik und Komik. Diese Komik macht es einem überhaupt nur möglich, das Buch bis zum Ende durchzulesen. Da sieht man also wieder die beiden Pole in einem Buch.
BS: Denken Sie, dass es einem leichter fällt, Dinge aufzuschreiben, als sie zu erzählen?
Kirsten Boie: Mir fällt es immer viel leichter Dinge aufzuschreiben.
BS: Viele sagen, dass sie sich befreiter fühlen, wenn sie etwas aufschreiben und dass es ihnen danach leichter fällt darüber zu sprechen. Geht es Ihnen auch so?
Kirsten Boie: Ja, das ist richtig. Das ist auch das, was ich damit gemeint habe, als ich sagte, das Schreiben der Swasiland-Geschichten sei eine Art Verarbeitung für mich gewesen.
BS: Wir finden das Cover unglaublich schön. Oft ist es so, dass der Verlag es vorgibt. Haben Sie es in diesem Fall selbst ausgesucht?
Kirsten Boie: Ich finde das Cover auch großartig. Eines meiner letzten Bücher heißt „Der Junge, der Gedanken lesen konnte“. Das ist illustriert von Regina Kehn. Sie hat dort in den allen Bildern die Geschichte zusätzlich interpretiert. Ich habe mir sehr gewünscht, dass sie das Cover gestaltet. Sie durfte dabei auch vom Verlag aus machen, was sie wollte. Dann hat sie dieses Cover gezeichnet und wir – die Leute im Verlag und ich – waren alle beeindruckt. Sie orientiert sich an afrikanischen Holzschnitten, aber es wird nicht kitschig.
BS: War es schwer den Verlag zu überzeugen, dass das Buch gedruckt werden soll?
Kirsten Boie: Komischerweise nicht. Der Verlag hat sogar eine Leseprobe gedruckt. So etwas macht man sonst nur bei Büchern, von denen man weiß, dass man später extrem viele Exemplare verkaufen wird und so das Geld wieder einnehmen kann. Und das wird bei diesem Buch niemals passieren, das weiß auch der Verlag. Dafür ist es viel zu ernst. Aber sie haben es trotzdem gemacht.
BS: Extremes Elend gibt es ja nicht nur im Swasiland. Gibt es etwas, dass man von den Menschen dort lernen kann? Gerade in Bezug auf den Umgang mit dem unvorstellbaren Leid, mit dem sie konfrontiert sind?
Kirsten Boie: Man könnte jetzt sagen, man kann natürlich davon lernen, dass die Kinder wie selbstverständlich mit ihrem traurigen Leben umgehen, wenig jammern und trotzdem in der Lage sind, Spaß zu haben oder zu Lachen. Aber ich glaube, dass jede schreckliche Situation anders ist. Wenn ein Kind hier seine Eltern verliert, womöglich beide, dann ist es in seiner Klasse vermutlich das Einzige. In Swasiland geht es allen mehr oder weniger so. Es ist dann zwar trotzdem schrecklich, aber man ist nicht so alleine. Das hilft vermutlich enorm.
BS: Hilft es auch, dass die Kinder von der Dorfgemeinde aufgefangen werden?
Kirsten Boie: Das sicherlich. Das sind extrem arme Menschen, aber sie kümmern sich, weil sie denken, das ist ihre Pflicht. Ich weiß nicht, ob das hier im gleichen Maß passieren würde. Aber es gibt natürlich auch in Deutschland ausgeprägte Hilfsbereitschaft und viel ehrenamtliches Engagement.
BS: Sie haben von den sogenannten Memory-Books erzählt, in denen Eltern für ihre Kinder ihre eigene Lebensgeschichte aufschreiben. Aus einem solchen Buch stammt der Satz „Du bist meine wunderbare Tochter“, der in einer Ihrer Geschichten zum Mantra eines verwaisten Mädchens wird. Glauben Sie, dass solche Wörter und Geschichten eine wichtige Kraftquelle für die Kinder sind?
Kirsten Boie: Ja, das glaube ich. Wenn die Menschen vor ihrem Tod diese Bücher für ihre Kinder schreiben, wollen sie ihre Kinder stärken und ihnen noch etwas Positives mitgeben. So ein Buch soll ja nicht nur informativ sein. Es wird vorgeschlagen über Dinge zu schreiben, wie „mein schönstes Erlebnis mit dir“ oder „Was ich mir für dich wünsche“. Das sind Überschriften aus einer Anleitung zum Schreiben von Memory-Books. Und da geht es genau darum: Den Kindern zu vermitteln, wie wichtig sie für ihre Eltern waren, und sie so zu stärken
BS: Haben sie vor so ein Memory-Book für Ihre Kinder zu schreiben?
Kirsten Boie: Meine Kinder sind erwachsen. Außerdem haben wir sehr viele Fotoalben. So etwas haben die Kinder dort nicht. Sie haben weder Videofilme, noch Fotoalben und wenn die Eltern tot sind, können sie niemanden mehr nach ihrer frühen Kindheit oder nach ihren Großeltern oder nach dem Leben der Eltern fragen. Deshalb sind diese Memory-Books dort so wichtig.
BS: Hat es lange gedauert die Geschichten aufzuschreiben?
Kirsten Boie: Nein. Die erste sowieso nicht, die habe ich bei meinem ersten Besuch am Flughafen in Swasiland vor dem Rückflug nach Johannesburg zwar nicht ganz fertiggeschrieben, aber doch weitgehend. Die erste stand dann zunächst allein, weil ich gedacht habe, Swasiland wäre eine ganz und gar persönliche und private Erfahrung, Später ging das Schreiben der folgenden drei Geschichten dann aber auch ganz schnell. Es geht ja immer schneller, wenn der Text einem wichtig ist
BS: Vielen Dank für das schöne Interview.
Kirsten Boie: Danke, dass ihr es gemacht habt. Es war sehr nett und aufschlussreich für mich.
Blaue Seite: Sie haben jetzt schon sehr viele, sehr unterschiedliche Bücher geschrieben. Würden Sie sagen, dass das Buch: “Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ etwas ganz Besonderes ist? Und wenn ja, was macht es so besonders?
Kirsten Boie: Ich kann ja generell nur schreiben, wenn mir ein Text aus irgendeinem Grund wichtig ist. Das können sehr unterschiedliche Gründe sein. Mir sind darum also eigentlich alle Bücher wichtig, allerdings ist dieses mir zusätzlich sehr nahe, weil es eine Form der Verarbeitung wesentlicher Erlebnisse für mich war. Ich konnte diese Erlebnisse quasi schreibend für mich „beglaubigen.“ Insofern ist dieses Buch für mich selbst schon wichtiger, als wenn ich ein lustiges Buch für jüngere Kinder schreibe. Bei dem habe ich dafür dann oft ziemlich viel Spaß beim Schreiben. Das ist auch großartig, denn dann stehe ich vom Schreibtisch auf und bin vergnügt und das war bei diesem Buch natürlich nicht so. Aber ja, es steht mir näher.
Blaue Seite: Würde es Ihnen näher gehen als bei anderen Büchern, wenn Sie aus dem Buch vorlesen und sehen, dass jemand im Publikum sitzt, der gelangweilt ist? Würde Sie das ärgern?
Kirsten Boie: Das finde ich eine tolle Frage! Ich habe darüber noch gar nicht nachgedacht. Ich erlebe ja schon mal, dass die Leute gelangweilt aussehen, wenn ich vorlese. Ich habe sogar schon öfter erlebt, dass manche dabei einschlafen. Das kann mich zum Glück nicht umwerfen. Aber hier würde es mir näher gehen. Da bin ich mir ziemlich sicher.