Interview mit Kirsten Boie zu „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“

Im Rahmen der fairen Woche las Kirsten Boie am 19. September aus ihrem bis dahin unveröffentlichten Buch: „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“. Die Blaue Seite nutzte dort die Gelegenheit, um mit ihr über das neue Buch zu sprechen. Geführt haben das Interview Linnea Müller und Antonia König.

Kirsten Boie: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe bei meiner letzten Reise zwei junge Frauen in den NCPs befragt. Sie sagten mir, sie müssten die Kinder nachmittags eher nach Hause scheuchen. Die Kinder kämen jeden Tag und sie wären gerne dort. Wenn man Zuhause niemanden mehr hat, ist man natürlich froh, wenn dort an den NCPs Menschen sind, die sich um einen kümmern. Die Situation dort ist für uns unvorstellbar, auch wie weit die Wege sind. NCPs stehen meistens alleine. Die Siedlungen dort sind nämlich Streudörfer. Wenn wir in Deutschland an ein Dorf denken, sehen wir meistens eine Dorfstraße vor uns mit Häusern auf beiden Seiten. Oder auch fünf Straßen und Häuser. Die Streusiedlungen in Swasiland sind anders. Die einzelnen Hütten liegen kilometerweit voneinander entfernt. Die Kinder kommen aus sehr großen Entfernungen. Aber sie kommen sogar trotzdem noch an die NCPs, wenn dort das Essen ausgeht. Sie kommen nicht primär wegen der Malzeiten, sondern wegen der Erwachsenen, die sich um sie kümmern.

BS: Sind die Kinder traumatisiert?

Kirsten Boie: Davon gehe ich aus. Ich habe dort mit einer Studentin gesprochen, mit der wir einen Tag lang unterwegs waren. Sie schreibt eine Examensarbeit über die Traumatisierung der Kinder. Dafür redet sie mit den Ehrenamtlichen an den NCPs. Die erzählen ihr ausnahmslos, dass die Kinder alle große Angst davor haben, auch selbst bald zu sterben. Das ist ja auch keine unrealistische Angst.

Blaue Seite: Sie haben sehr viele Kinder getroffen. Was hat Sie dazu bewogen, gerade diese vier Geschichten aufzuschreiben?

Kirsten Boie: Die ihnen zugrunde liegenden Erlebnisse waren für mich besonders eindringlich. In der ersten Geschichte geht es z.B. um einen Jungen, der mit seiner Schwester bei der gelähmten Großmutter lebt. Ich habe diese Familie bei meiner ersten Reise nach Swasiland am letzten Tag vor der Rückreise getroffen. Verblüffender Weise stand in der Hütte ein zusammengefalteter Rollstuhl, den sie auf dem engen Raum gar nicht benutzen konnten. Ich weiß bis heute nicht, wozu sie den Rollstuhl hatten, denn es gab auch draußen überall Geröll und man musste über Berge und durch einen Bach gehen, um zur Hütte zu gelangen. Sie haben ihn wohl freundlicherweise geschenkt bekommen. Aber dieses Elend hat mich so erschreckt, dass ich dann auf dem Flughafen die erste Geschichte geschrieben habe.

BS: Fällt es Ihnen leichter, reale Geschichten aufzuschreiben, als komplett ausgedachte?

Kirsten Boie: Eigentlich nicht. Ich brauche beides. Gerade für Jüngere habe ich viele Geschichten geschrieben, die lustig und vollkommen fiktiv sind, wie z.B. „Der kleine Ritter Trenk“. Aber das ist ja nun leider nicht das ganze Leben und deshalb denke ich, man kann beides schreiben. Es ist völlig naiv, zu erwarten, dass jemand nur traurige oder nur lustige Bücher schreibt.

BS: War es schwer den Verlag zu überzeugen, dass das Buch gedruckt werden soll?

Kirsten Boie: Komischerweise nicht. Der Verlag hat sogar eine Leseprobe gedruckt. So etwas macht man sonst nur bei Büchern, von denen man weiß, dass man später extrem viele Exemplare verkaufen wird und so das Geld wieder einnehmen kann. Und das wird bei diesem Buch niemals passieren, das weiß auch der Verlag. Dafür ist es viel zu ernst. Aber sie haben es trotzdem gemacht.

BS: Extremes Elend gibt es ja nicht nur im Swasiland. Gibt es etwas, dass man von den Menschen dort lernen kann? Gerade in Bezug auf den Umgang mit dem unvorstellbaren Leid, mit dem sie konfrontiert sind?

Kirsten Boie: Man könnte jetzt sagen, man kann natürlich davon lernen, dass die Kinder wie selbstverständlich mit ihrem traurigen Leben umgehen, wenig jammern und trotzdem in der Lage sind, Spaß zu haben oder zu Lachen. Aber ich glaube, dass jede schreckliche Situation anders ist. Wenn ein Kind hier seine Eltern verliert, womöglich beide, dann ist es in seiner Klasse vermutlich das Einzige. In Swasiland geht es allen mehr oder weniger so. Es ist dann zwar trotzdem schrecklich, aber man ist nicht so alleine. Das hilft vermutlich enorm.

BS: Hilft es auch, dass die Kinder von der Dorfgemeinde aufgefangen werden?

Kirsten Boie: Das sicherlich. Das sind extrem arme Menschen, aber sie kümmern sich, weil sie denken, das ist ihre Pflicht. Ich weiß nicht, ob das hier im gleichen Maß passieren würde. Aber es gibt natürlich auch in Deutschland ausgeprägte Hilfsbereitschaft und viel ehrenamtliches Engagement.

BS: Sie haben von den sogenannten Memory-Books erzählt, in denen Eltern für ihre Kinder ihre eigene Lebensgeschichte aufschreiben. Aus einem solchen Buch stammt der Satz „Du bist meine wunderbare Tochter“, der in einer Ihrer Geschichten zum Mantra eines verwaisten Mädchens wird. Glauben Sie, dass solche Wörter und Geschichten eine wichtige Kraftquelle für die Kinder sind?

Kirsten Boie: Ja, das glaube ich. Wenn die Menschen vor ihrem Tod diese Bücher für ihre Kinder schreiben, wollen sie ihre Kinder stärken und ihnen noch etwas Positives mitgeben. So ein Buch soll ja nicht nur informativ sein. Es wird vorgeschlagen über Dinge zu schreiben, wie „mein schönstes Erlebnis mit dir“ oder „Was ich mir für dich wünsche“. Das sind Überschriften aus einer Anleitung zum Schreiben von Memory-Books. Und da geht es genau darum: Den Kindern zu vermitteln, wie wichtig sie für ihre Eltern waren, und sie so zu stärken

RedakteurRedakteur: Linnea
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