Interview mit Kirsten Boie (2020)
Im Rahmen des 17. Lübecker Bücherpiraten-Festivals hatte die Blaue Seite die Gelegenheit, der Autorin Kirsten Boie einige Fragen zu stellen.
Blaue Seite: Welches ungeschriebene Buch würden Sie gerne lesen?
Kirsten Boie: Das ist eine kluge Frage. Dooferweise kann man in einem Interview nicht so lange darüber nachdenken, aber ich würde gerne den 21. Teil der Reihe von Elizabeth George über Inspektor Lynley lesen. Erst gestern habe ich gegoogelt, ob es einen weiteren Teil geben wird, aber da taucht nichts auf und der letzte ist vor zwei Jahren erschienen.
(Anm. d. Red.: Der nächste Band der Reihe soll 2021 erscheinen.)
Blaue Seite: Wenn Sie in die Vergangenheit zu dem Schreibtisch von einem Autor oder einer Autorin reisen und dort eine Nachricht hinterlassen könnten, wessen Schreibtisch und welche Nachricht wären das?
Kirsten Boie: Ich würde zu Astrid Lindgrens Schreibtisch gehen, den ich übrigens schon gesehen habe. Ich war mit ihrer Tochter in ihrer Wohnung, bevor sie öffentlich zugängig wurde. Das war kurz nachdem sie verstorben war, aber da habe ich keine Nachricht hinterlassen. Ich würde schreiben, dass ihre Bücher für mich als Kind unglaublich wichtig waren, und mich dafür bedanken, dass sie mir bis heute beim Schreiben helfen. Ich würde meine Bücher nicht so schreiben wie ich sie heute schreibe, wenn ich als Kind und Jugendliche nicht Astrid Lindgren gelesen hätte.
Blaue Seite: Hatten Sie einmal eine Buchidee, von der Sie später erfahren haben, dass es sie bereits gibt und jemand anderes sie schon veröffentlicht hat?
Kirsten Boie: Nein, das hatte ich zum Glück noch nicht. Aber mir ist etwas ähnliches passiert, da habe ich noch nicht lange geschrieben. Ich war das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse. Da sind viele Kilometer mit Bücherständen und ich bin angekommen, habe die Bücher gesehen und gedacht: „Okay, es gibt alles schon. Egal, was ich jetzt schreibe, das wird es schon geben. Ich schreibe nicht mehr.“ Das hat mich richtig fertig gemacht. Als ich zurück nach Hamburg gekommen bin, habe ich das meiner Lektorin erzählt und sie hat gesagt: "Bist du verrückt? Dann hätte nach „Romeo und Julia“ niemand mehr eine Liebesgeschichte schreiben können. Jeder Autor schreibt es doch anders." Und das stimmt natürlich.
Blaue Seite: Ihr erstes Buch war „Paule ist ein Glücksgriff“. War es damals schwer, einen Verlag zu finden?
Kirsten Boie: Überhaupt nicht. Ich habe die ersten drei Kapitel geschrieben und sie an fünf Verlage geschickt. Ich habe gesagt, wenn ich einen Vertrag bekomme, dann würde ich das auch zu Ende schreiben. Und es gab zwei positive Antworten: eine von Rowohlt und eine von Oetinger, wo ich hingegangen bin. Ich glaube, einer hat abgelehnt und zwei haben gar nicht geantwortet. Damit muss man immer rechnen.
Ich hatte unglaubliches Glück; ich konnte mein erstes Buch zu Ende schreiben und hatte schon einen Vertrag unterzeichnet. Das ist irre. Heute würde das niemandem mehr passieren, vor allem nicht ohne Agenten. Ein Verlag guckt euer Manuskript ganz anders an, wenn ein Agent es einreicht, weil der schon gesagt hat: „Das ist gut.“ Dann ist die erste Hürde genommen.
Blaue Seite: Mit der Hamburger Erklärung setzen Sie sich dafür ein, dass Kinder beim Verlassen der Grundschule lesen können. Wie nimmt die Digitalisierung Einfluss darauf?
Kirsten Boie: Das ist eine sehr komplexe Frage - ich glaube, viele Kinder nutzen digitale Möglichkeiten, die nicht primär Lesen sind, und schränken ihre Zeit so ein, dass das Lesen weniger wird. Das passiert, weil diese digitalen Medien mehr oder weniger ohne Anstrengung zugänglich sind, während Lesen zu Anfang mühsam ist. Wir haben das vergessen, weil wir inzwischen so schnell lesen können, aber über diese Hürde muss man erst einmal hinüber. Ich denke, dass die Nutzung von digitalen Geräten das für Kinder sehr viel schwerer gemacht hat.
Was wir jetzt jedoch sehen - und das finde ich spannend –, ist, dass durch die Nutzung solcher Geräte plötzlich neue Möglichkeiten entstehen, um den Kindern das Lesen beizubringen. In der Hamburger Erklärung habe ich noch geschrieben, das ganze Geld soll nicht in die Digitalisierung gesteckt werden, sondern ins Lesenlernen. Bei Corona haben wir jetzt gesehen, dass es enorm helfen kann, digital Kontakt zu halten, wenn Kinder nicht in die Schule gehen. Es wurden Sachen über die Schulnetzwerke geschickt und dabei ist herausgekommen, dass ganz viele Kinder zu Hause zum Beispiel kein WLAN haben. Leute, die kein Geld haben, haben kein WLAN. Und viele Familien haben tatsächlich nur das Handy von Papa. Das funktioniert nicht. Deshalb haben die Politiker jetzt begriffen - an dieser Stelle bin ich natürlich für die Digitalisierung -, dass in der Schule jedem Kind ein Tablet zur Verfügung gestellt werden muss, damit man in solchen Situationen kommunizieren kann. Aber dafür müssen die Kinder lesen können, was der Lehrer an Aufgaben stellt. Das Lesenlernen wird nicht weniger wichtig.
Blaue Seite: In „Ein Sommer in Sommerby“ und „Zurück in Sommerby“ kommt Oma Inge vor, die Probleme mit der Digitalisierung hat. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Kirsten Boie: (lacht) Nee, überhaupt nicht. Wenn du meine Mailadresse siehst, merkst du etwas: Ich habe eine steinalte Mailadresse, von der ich nicht wegkomme, weil das jetzt alle Leute nutzen. Sobald man als normaler Mensch ins Internet konnte, hatte ich Internetzugang und habe das genutzt. Damals gab es noch kein Google, sondern Yahoo! . Wenn du etwas gegoogelt, also dementsprechend über Yahoo! gesucht, hast, dann kamen drei Links - mehr nicht. Ich weiß es noch genau, weil ich ein Buch geschrieben habe, das im Jahr 1955 spielt. Da habe ich oft Dinge aus dem Jahr 1955 gesucht und dann "Filme 1955"eingegeben. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen: Man musste nichts präzise eingeben, weil es so wenig gab, dass man immer alles bekam, was da war, aber das war eben nichts. Dann habe ich ein Handy bekommen, mit dem man ins Netz konnte. Das war ein Blackberry, etwas anderes gab es nicht. Mein Mann ist fast durchgedreht, weil es immer, wenn wir spazieren gegangen sind, geplingt hat. Da hat er gesagt: „Du bist ein Junkie, du kannst nicht ohne das Gerät sein".
Also ich habe ganz früh ganz viel gemacht, weil ich glaube, dass es viele Möglichkeiten gibt. Außerdem kann ich mich abgrenzen: Ich kenne das Leben davor und ich weiß, was ich alles machen will, das nicht digital stattfindet, und das mache ich auch. Es ist viel schwerer für jüngere Leute.
Blaue Seite: Um bei Oma Inge zu bleiben; die kann Plattdeutsch sprechen, können Sie das auch?
Kirsten Boie: Lütt beten kann ick dat, ober ni so dull. Ich bin in einer großen Familie mit vielen Onkeln und Tanten und Cousins und Cousinen aufgewachsen und wir haben viele Familienfeste gefeiert. Da wurde nur Plattdeutsch geredet, aber mit meinem Bruder und mir wurde Hochdeutsch gesprochen. Das heißt, ich habe als Kind ganz normal Plattdeutsch vom Hören gelernt, es aber nie gesprochen und das hat dazu geführt, dass ich es ohne Probleme schreiben kann, weil mir das nicht peinlich ist. Wenn ich allerdings irgendwo bin, wo die Leute im Alltag Plattdeutsch sprechen, ist es mir peinlich wie es bei einer Fremdsprache. Aber ja, ich kann das und ich wünsche mir, dass es nicht ausstirbt, weil es eine witzige Sprache ist.
Blaue Seite: Nochmal zu den Sommerby-Büchern: In denen ist der Bösewicht ein Makler, haben Sie persönlich schlechte Erfahrungen mit einem Makler gemacht?
Kirsten Boie: Nein, (lacht) das habe ich nicht und eine sehr gute Freundin meiner Tochter ist sogar Maklerin geworden. Aber es gibt schon ziemlich fiese Makler und die machen viel Geld mit zum Teil wenig Arbeit. Wir haben früher im Reihenhaus gewohnt, wodurch ich auf die Idee der Möwenweg-Reihe gekommen bin, und in einem Reihenhaus ist eine neue Familie eingezogen; die haben es über einen Makler gekauft und hinterher festgestellt, dass der ganze Keller feucht ist. Die müssen sehr, sehr viel Geld da hineinstecken, über 10.000 Euro, wurde mir erzählt. Das hat der Makler bestimmt gewusst, aber der hat auch gewusst, dass er es nicht so verkaufen kann. Solche Tricks gibt es bei Maklern, aber ich selbst habe zum Glück keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Blaue Seite: Sie haben Englisch studiert - würden Sie sich zutrauen, ein Buch zu übersetzen?
Kirsten Boie: Vom Deutschen ins Englische oder vom Englischen ins Deutsche?
Blaue Seite: Für beide Richtungen.
Kirsten Boie: Vom Deutschen ins Englische überhaupt nicht, weil ich auch Fehler mache und das nicht so präzise ausdrücken kann wie es bei Literatur nötig ist. Vom Englischen ins Deutsche: Ja, aber ich weiß, dass das unglaublich schwierig ist. Was machst du zum Beispiel mit Dialekt? Den gibt es so in anderen Sprachen nicht. Oder Namen: Martha, Mikkel und Mats zum Beispiel signalisieren bei uns Bildungsbürgertum. Es wäre anders, wenn sie Kevin und Jaqueline heißen würden. Dabei gibt es sehr nette Kevins und Jaquelines, aber ihr wisst, was ich meine. Wie soll das ins Englische übersetzt werden? Und umgekehrt würde das ja auch gelten. Übersetzen ist unglaublich schwierig, deshalb vermeide ich es. Aber mal einen normalen Text vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen würde ich mir zutrauen.
Blaue Seite: Thabo, die Hauptfigur einiger Bücher von Ihnen, ist ein großer Miss Marple-Fan. Teilen Sie diese Eigenschaft?
Kirsten Boie: Ja, ich finde die alten Miss Marple-Filme grandios, weil ich auch die Schauspielerin so toll finde. Margaret Rutherford ist einfach toll, genau wie ihr Freund Mr. Stringer, der tatsächlich wie ein String ist: ein dünnes kleines Männchen. Da bin ich mir mit Thabo total einig.
Blaue Seite: In „Erwachsene reden. Marco hat was getan.“ lassen Sie die Personen aus Marcos Umfeld reden, aber nie Marcos Familie oder ihn selbst. Wieso haben Sie sich dazu entschieden?
Kirsten Boie: Das ist schon sehr lange her, aber ich glaube, für mich hat es damals eine Rolle gespielt, wie unterschiedlich man diesen Jungen sehen kann. Alle sehen ihn völlig verschieden, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie ihn erlebt haben, und ich denke, Eltern sind da nicht so furchtbar aussagekräftig. Eltern würden wahrscheinlich ihr Kind immer verteidigen. Außerdem gehören sie indirekt mit zu den Angeklagten, weil jeder sagt, die Eltern sind schuld an dem, was ihre Kinder tun. Das ist ja naiv. Kinder werden nicht nur von den Eltern geprägt.
Blaue Seite: Sie haben erwähnt, dass Sie in einem Reihenhaus wohnten und deshalb den Möwenweg geschrieben haben. Ich wohne auch in einem Reihenhaus und wegen der netten, alten und den komischen Nachbarn passen die Bücher sehr gut. Deswegen war das bei uns immer ein Lieblingsbuch.
Kirsten Boie: Das ist toll. Habt ihr auch solche wie die blöden Voisins?
Blaue Seite: Ja, schon.
Kirsten Boie: Ich glaube, die gibt es überall. Du kannst nicht so viele Häuser beisammen haben und erwarten, dass alle nett sind. Solche hatten wir nämlich auch, die waren aber zum Glück schon ausgezogen, als ich das Buch geschrieben habe. Es gibt sowieso Leute, die glauben, sie würden sich wiedererkennen. Da sage ich immer „Nein, das stimmt nicht.“ Aber es ist trotzdem doof.
Ohne diese Erfahrung hätte ich das nicht schreiben können. Meine Tochter hat einmal gesagt, dass ihr nicht die Kinder leidtun, die nicht in Bullerbü wohnen können; ihr tun die Kinder leid, die nicht bei uns wohnen können. Und ich glaube, der Grund war, dass die Kinder immer kreuz und quer durch Gärten laufen und sich treffen konnten. Eigentlich war es mehr wie eine Familie bis auf die Voisins.
Blaue Seite: Am 5.9. war in Deutschland der Gratis-Comic-Tag. Was halten Sie vom Medium Comic?
Kirsten Boie: Ich durfte als Kind keine Comics haben. Damals gab es auch nicht ansatzweise so viele wie heute. Nur wenn ich krank war und im Bett lag, dann hat meine Mutter mir ein Heft „Fix und Foxi“ gekauft. Das war etwas Besonderes. Das heißt aber, dass ich nicht wirklich mit Comics aufgewachsen bin und nicht gelernt habe, Comics zu lesen. Das muss man genauso lernen wie Bücher zu lesen, diese Kombination aus Bild und Text ist gar nicht so einfach. Deshalb denke ich, man sollte Comics nicht unterschätzen. Ich muss sie sehr analytisch lesen, Bild angucken, Text lesen, Bild angucken, Text lesen, das ist nicht derselbe Fluss, als wenn ich einen Text lese. Ich weiß aber, dass es großartige Comics gibt, zum Beispiel „Der Traum von Olympia“, eine Fluchtgeschichte. Das ist eher eine Graphic Novel, das sind eigentlich nur Comics für Erwachsene. Und da zeigt sich, was eine Graphic Novel oder ein Comic kann. Deshalb will ich, dass es beides gibt. Nur ich selbst bin da einfach nicht kompetent genug.
Blaue Seite: Einige Autoren schreiben unter einem Pseudonym. Haben Sie mal darüber nachgedacht, unter einem anderen bzw. falschen Namen zu veröffentlichen und was halten Sie davon?
Kirsten Boie: Ich finde, das darf man. Es kann so viele Gründe dafür geben. Es gibt Autoren, die unterschiedliche Arten von Büchern schreiben und für die eine Art von Buch den einen Namen und für die andere Art von Buch den anderen Namen verwenden. Es gibt Buchhändler, die mir sagen, jemand ist nach einem ernsten Buch von mir enttäuscht zurückgekommen, weil er eigentlich dachte, das sei ein unterhaltsames Buch. Und dann war es so ernst. Unter anderem Namen schreiben kann man machen; ich habe es bisher nicht gemacht. Ich glaube aber, ich würde es machen. Soll ich jetzt ehrlich sein?
Blaue Seite: Ja.
Kirsten Boie: Ich würde es machen, wenn ich Bücher schreiben würde, von denen ich selber denke, die sind ziemlich bescheuert. Und es ist natürlich so, dass gerade im Kinderbuch-Bereich Menschen Bücher schreiben, von denen sie selbst wissen, dass sie nicht das Gelbe vom Ei sind. Sollte ich das mal machen - und ich hoffe sehr, dass ich das nicht tue - wäre das doppelt feige. Wenn ich das getan hätte, müsste ich erst recht dazu stehen.
Blaue Seite: Wir haben noch die Frage, die es immer am Ende eines Blaue-Seite-Interviews gibt. Was ist für Sie persönlich eine Blaue Seite?
Kirsten Boie: Eindeutig der Himmel. Keine Frage.