Interview mit Kirsten Boie (2021)
Im Rahmen eines Workshops bekamen Charlotte, Isabelle, Leo und Michelle die Möglichkeit hinter die Kulissen der Blauen Seite zu gucken und Autoren wie unter anderen Kirsten Boie zu interviewen. Das fertige Interview könnt ihr hier lesen:
Blaue Seite: Gerade wurde eine Schule in Freiburg nach Ihnen benannt. Wie fühlt sich das an? Sind Sie stolz darauf?
Kirsten Boie: Ja,darüber freue ich mich unheimlich! Ich war ja selber einmal Lehrerin und ich weiß deshalb, wieschwierig es bei solchen Themen ist,dass sich alle in der Schule einigen: die Lehrerkonferenz, die Eltern, die Schüler. Dass sich alle auf den Namen einigen konnten, ist supertoll. Es gibt bereits drei normale Grundschulen, die nach mir benannt sind. Doch diese ist eine Sprachheilschule, das finde ich besonders toll.Die beiden Schulsprecher haben mir einen ganz langen Brief geschrieben, in dem sie sehr gut begründethaben, weshalb sie „Kirsten-Boie-Schule“ heißen soll. Blaue Seite:Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Kirsten Boie: Ich habe es mir schon als Kind und als Jugendliche gewünscht, zu schreiben. Dann bin ich aber nicht Autorin geworden, weil ich einen Beruf haben wollte, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das ist für Autoren und Autorinnen nicht ganz einfach. Dafür braucht man eine bestimmte Anzahl von Büchern. Deshalb bin ich Lehrerin geworden. Das hatmir gefallen und ich wäre gerne dabei geblieben. Dann haben mein Mann und ich ein Kind adoptiert und wollten noch mehr Kinder adoptieren. Aber das zuständige Jugendamt hat damals gesagt, dass ich nicht berufstätig und gleichzeitig Mutter sein kann. Dahabe ich gedacht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist und mit dem Schreiben begonnen.
Blaue Seite: Was bedeutet Schreiben für Sie?
Kirsten Boie: Es ist ja inzwischen ein Beruf und ich erwarte von mir auch, dass ich ab und zu ein neues Buch schreibe. Es ist aber immer auch eine Auseinandersetzung mit der Welt, mit der Gesellschaft und mit mir selbst. Ich denke, beim Schreiben muss etwas mit mir passieren–sogar bei den Erstlesebüchern. Wenn bei mir nichts passiert, kann es kein gutes Buch werden. Ich glaube, der Autor muss wirklich etwas einfließen lassen, das ihn selbst berührt hat. Wie soll ein Buch, dass nicht mal den Autor oder die Autorin berührt hat, den Leser berühren?
Blaue Seite:Funktioniert es für Sie besser, wenn Sie das Schreiben planen oder wenn Sie es nicht planen?
Kirsten Boie: Ich brauche beides. Wenn ein Buch länger und komplexer ist, muss ich vorher relativ genau planen. Das dauert eine ganze Weile. Erst wenn ich nach einer abstrakten Planung weiß, wie das Buch sein soll, kann ich darauf warten, dass mir die ersten Sätze einfallen. Von dem Zeitpunkt an lasse ichmich sozusagen vom Schreiben tragen. Mein Unterbewusstsein weiß, was ich mir an Strukturen überlegt habe,und das trägt mich weiter. Nur geplant zu schreiben wäre sehr nüchtern. Für mich ist wichtig, dass es eher automatisch passiert. Manchmal schreibe ich etwas anderes, als die Planung vorgegeben hat–einfach, weil ich in der Zwischenzeit mehr über meine Charaktere oder die Gesamtsituation weiß als in der Planungsphase. Es ist immer eine Mischform aus Planung und sich-tragen-lassen. Erste Sätze können manchmal spontan sein, ohne dass ich überhaupt weiß, welches Buch das werden wird.
Blaue Seite: Haben Sie einen bestimmten Platz zum Schreiben?
Kirsten Boie: Ja, ich habe ein Arbeitszimmer. Das ist unter dem Dach das ehemalige Zimmer meines Sohnes. Der ist inzwischen erwachsen und längst ausgezogen. In diesem Zimmer war eine Trennwand zum Wintergarten, die haben wir rausgenommen. Das heißt, ich habe jetzt ein sehr großes Arbeitszimmer mit Pflanzen und mit Licht von oben. Allerdings ist es bei warmen Temperaturen nicht auszuhalten und umgekehrt im Winter auch nicht. Trotzdem schreibe ich hier am liebsten.Ich kann aber auch woanders schreiben.Es ist natürlich schön, wenn man immer in dieselbe Schreibatmosphäre kommt.
Blaue Seite: Haben Sie schon einmal Gedichte geschrieben?
Kirsten Boie: Ja, als Kind und als Jugendliche habe ich viele Gedichte geschrieben und ich habe es gerne gemacht. Doch ich weiß, dass ich nicht gut darin bin. Andere Leute wie Paul Maar sind da sehr viel besser. Wenn jemand Geburtstag hat oder wenn irgendwo ein Kind geboren wird, verschicke ich kleine Gedichte. Aber um sie zu veröffentlichen, sind meine Gedichte einfach nicht gut genug.
Blaue Seite:Wie sind Sie zu dem Thema Waisen in eSwatini gekommen?
Kirsten Boie: Ich habe eine Stiftung namens „Möwenweg-Stiftung“ und die finanziert zusammen mit einer anderen kleinen Stiftung ein sehr großes Projekt für Kinder–ursprünglich nur für Waisen in eSwatini. Ich bin dazu gekommen, weil mir 2007 derdeutsche Jugendliteraturpreis für das Gesamtwerk verliehen wurde. Ich habe mich wahnsinnig gefreut. Das Preisgeld war sehr hoch und ich habe meine Preisgelder immer gespendet. Ich wollte dann sicher sein, dass die Spende wirklich etwas bringt. In derselben Woche war in der Wochenzeitung „Die Zeit“ein Artikel, der hieß „Das Land ohne Eltern“. Darin ging es um eSwatini und dass über 50Prozentder Kinder keine Eltern mehr haben. In dem Artikel wurde ein Projekt genannt. Darüber habe ich mich schlauer gemacht und habe für dieses Projekt gespendet. Im nächsten Jahr habe ich zwei große Preise bekommen. Die Preisgelder habe ich erneut gespendet. Deshalb beschloss ich, dass ich mir das vor Ort angucken musste. Also bin ich dahingereist und ich war total erschüttert und beeindruckt. Ich wusste, dass ich mich da weiter engagierenmusste. Danach habe ich viele Jahre weiter an diese Organisation gespendet, die das Projekt getragen hat. Die hatallerdings vor sieben Jahren von einem Tag zum andern das Projekt aufgegeben. Alles, was sie bisher erreicht hat, wäre weggebrochen. Daraufhin haben die andere kleine Stiftung –die „Thomas-Engel-Stiftung“ und mein Mann und ich mit der „Möwenweg-Stiftung“ das Projekt übernommen. Wir sind seitdem alle acht Monate hingefahren. Ich habe eSwatini in den elf Jahren so gut kennengelernt, dass ich irgendwann dachte, ich darf auch darüber schreiben.
Blaue Seite: Sie sind viel auf Instagram unterwegs. Ist es anstrengend,so viel zu posten?
Kirsten Boie: Anstrengend ist es nicht. Ich poste immer dann, wenn ich das Gefühl habe, ich habe etwas zu posten. Es ist ja mein beruflicher Account und nichts Privates. Alles, was in irgendeiner Form mit meinem Beruf zu tun hat, poste ich. Das geht eher schnell.
Blaue Seite: Wie gehen Sie mit Hate-Kommentaren um?
Kirsten Boie: Die habe ich relativ wenig! Das ist ein großes Glück, denn die wenigen Hate-Kommentare, die ich hatte, haben mich schon persönlich getroffen. Ich hatte mal vor drei Jahren einen richtigen Shitstorm –ungefähr drei Tage lang. Da hatte ich von einer tollen Lesung an einer Brennpunktschule geschrieben, wo die Eltern der Kinder wahrscheinlich noch nicht in Deutschland gelebt hatten. Da ging ein Shitstorm los: Warum sollte es an einer Schule mit Kindern mit Migrationshintergrund nicht toll sein?Und woher ich denn wüsste, welche Eltern in Deutschland leben würden? Seitdem bin ich mit meinen Beiträgen sehr vorsichtig geworden. Auch zu meinen Büchern übere Swatini und den Waisen gibt es böse Kommentare.
Blaue Seite: Sie sprechen Plattdeutsch. Was bedeutet Ihnen Plattdeutsch?
Kirsten Boie: Ich wünschte, ich könnte es besser. Ich komme aus einer großen plattdeutschen Familie. Wir hatten immer viele Familientreffen, auf denen wurde Plattdeutsch gesprochen. Nur mit meinem Bruder, meiner Cousine und mir haben alle Hochdeutsch gesprochen. Denn sie wussten, wie schwierig es ist, wenn man bei der Einschulung kein Hochdeutsch kann. Das wollten uns die Erwachsenen ersparen. Ich habe sehr viel Plattdeutsch gehört, vor allem in der Zeit, in der man Sprachen am leichtesten lernt, nämlich als Kind. Das heißt, ick kann dat lütt beten, aber ick föhl mi nichso good, wenn ick dat do. Dar bünn ick meist een beten schüchtern, wenn ick dat doon mutt.
Blaue Seite: In welche literarische Welt würden Sie gerne einmal eintauchen, um da zu leben?
Kirsten Boie: Da würde man sich ja am ehesten in eine spannende Welt wünschen. Nehmen wir jetzt mal Harry Potter. Da könnte man wirklich viel Interessantes erleben. Doch das wäre auch nicht immer harmlos. Das ist das Schwierige in den literarischen Welten spannender Bücher: Da passieren eben auch gefährliche Dinge. Insofern würde ich lieber in irgendwelche idyllischen Welten abtauchen, um da zu entspannen. Darum lesen wir wohl oft romantische oder idyllische Bücher: weil es so schön ist, sich da hineinzuversetzen–viel schöner als das Alltagsleben.
Blaue Seite: Und von Ihren Büchern?
Kirsten Boie:Na ja, nach dem, was ich eben gesagt habe, ist es ja schon klar. Ich würde nach Sommerby gehen wollen, in die Idylle an der Schlei, wirklich gerne Oma Inge kennenlernen