Interview mit Melvin Burgess 2011

Interview

Nach einer Lesung in Hamburg interviewte Freya Schwachenwald den Autoren Melvin Burgess zu seinem neuen Roman Nicholas Dane.

Für Ihren Roman „Nicholas Dane“ haben Sie sich von Charles Dickens Oliver Twist inspirieren lassen. Wie kam es dazu?

Charles Dickens ist in Großbritannien immer noch ein sehr wichtiger Schriftsteller. Er war Schriftsteller zu Beginn unserer Epoche, dem Industriezeitalter, und somit einer, der die britische Literatur entscheidend beeinflusste.Er schrieb unter anderem über Kinder in sehr schwierigen Verhältnissen, aber er tat es so, dass es zwar sehr bewegend, aber nicht depressiv war. Er machte das sehr klug, indem er einprägsame Charaktere schuf, fast schon karikaturistisch (?).

Als ich Ihr Buch „Nicholas Dane“ das allererste Mal las, fiel mir sofort eine ähnliche Atmosphäre in Ihrer Geschichte auf.

Tatsächlich? Nun, es gibt schon einige Unterschiede zwischen Oliver Twist und Nicholas Dane. Oliver flieht aus dem Armenhaus, schon ziemlich zu Beginn der Geschichte. Nicholas Dane verbringt hingegen den Großteil seiner Geschichte im Heim. Aber zum Ende hin ähneln sich die beiden Bücher dann doch.

Was wollten Sie mit dem Schreiben von „Nicholas Dane“ erreichen?

Es gab zwei Gründe das Buch zu schreiben: Zunächst einmal wollte ich den Menschen die Thematik des sexuellen Missbrauchs näher bringen und sie zur Diskussion anregen, auf eine intelligente, interessante und spannende Art und Weise. Ich wollte Licht ins Dunkel bringen. Ich liebe Bücher, die das tun, denn sie helfen Menschen zu verstehen, was geschieht. Und wenn man etwas versteht, kann man auch besser damit umgehen. Sexueller Missbrauch ist ein Thema, das Menschen normalerweise vermeiden oder von sich weisen. Ich weiß nicht genau, wie es in Deutschland ist, aber in England gibt es viele Diskussionen darüber, wie so etwas geschehen kann und was für Schritte dagegen unternommen werden können. Ich wollte etwas dazu beitragen.

Nach dem Tod seiner Mutter muss Nicholas in ein Heim für schwer erziehbare Jungen, wo er auf Gewalt und Missbrauch trifft. Für wie realistisch schätzen Sie seine Situation ein?

Nicholas Geschichte ist ein Mosaik aus Geschichten, die mir von Menschen erzählt wurden, die so etwas tatsächlich erlebt haben. Alles, was in dem Heim vorfällt, ist real. Von der Struktur des Heimes bis hin zu den einzelnen Vorfällen unter den Jungen ist alles tatsächlich passiert. Der Fluchtversuch, das Weglaufen aus dem Heim – es gab nur sehr wenige Teile in dem Buch, die ich mir ausdenken musste.

Wie haben Sie Kontakt mit Ihren Interviewpartnern für das Buch aufgenommen?

Ich kontaktierte einen Anwalt, der die Opfer von Vergewaltigungen in einem Heim in Manchester betreute. Dieser gab meinen Namen an seinen Klienten weiter und es fanden sich einige, die mit mir reden wollten.

Was mussten Sie während der Recherchearbeiten außer den Interviews noch tun?

Hauptsächlich habe ich tatsächlich Interviews geführt. Zusätzlich habe ich eine Menge über das Thema gelesen. Ich redete auch mit Sozialarbeitern und versuchte sogar, zu einigen der Täter Kontakt aufzunehmen, doch sie weigerten sich, sich mit mir zu treffen. Ich lernte viel über die Struktur und Organisation eines Heimes.

Was haben Sie während der Interviews erlebt?

Ich habe eine Menge beeindruckender Menschen kennengelernt. Sie haben viel durchgemacht, sie haben ihren Fall vor Gericht gebracht und sind damit an die Öffentlichkeit gegangen. Die Prozesse verliefen alle erfolgreich. Es gab leider eine Menge Vorfälle in den Heimen rund um Manchester, aber viele der Täter blieben unentdeckt.
Einige meiner Interviewpartner hatten aber auch Probleme, z. B. mit Alkohol, aber viele führen ein mehr oder weniger normales Leben. Sie kommen alle aus sehr einfachen Verhältnissen. Es gab auch Fälle von Missbrauch in britischen Internaten. Auch hier wurden Kinder misshandelt, doch sie hatten einfach mehr Hilfe und Unterstützung durch ihre Familie und Geld. Die Kinder in den Heimen haben dagegen nichts. Ein Mann, mit dem ich sprach, war nur ein paar Mal vergewaltigt worden und hatte es dann geschafft zu fliehen. Er hat geschafft, die Vorfälle zu verarbeiten und mit ihnen abzuschließen. Mir fiel während der Recherchearbeiten auf, dass der Schaden, den die Vergewaltigungen in den Menschen hinterlassen, meist damit zusammenhingen, wie oft und wie lange sie stattgefunden haben.

Denken Sie, dass Nicholas Dane ein positives Ende braucht?

Das ist schwer zu sagen. Würdest du sagen, dass das Buch ein Happy End hat?

Es ist nicht das perfekte Ende, aber es ist doch positiv.

Ja, Nicholas findet eine Art Erlösung. Während des Schreibens fühlte ich, dass bereits genug schreckliche Dinge geschehen waren. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Nicholas lebt zusammen mit der Frau, die ihm hilft, seine Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Natürlich ist das nicht hundertprozentig realistisch, denn eine stabile Beziehung ist häufig das, was die Opfer in ihrem weiteren Leben nicht mehr erreichen. Denn genau an dieser Stelle, dem ganz intimen Vertrauen einer anderen Person gegenüber ist oft der größte Schaden entstanden. Viele der Opfer lernen nie, dass sexuelle Erfahrungen auch positiv sein können.

Was denken Ihre Kinder über Ihre Bücher?

Ich schreibe schon seit vielen Jahren und meine Kinder sind mit meinen Büchern aufgewachsen. Meine Tochter liebt „Sarahs Gesicht“. Sie muss fünfzehn gewesen sein, als das Buch herauskam und sie meinte, es sei mein bestes Buch. Inzwischen sind alle meine Kinder erwachsen. Als „Doing it“ erschien, war mein Sohn vierzehn und nachdem er es gelesen hatte, war er geschockt. Ich fragte ihn, warum, und er meinte nur, ihn erstaune die Tatsache, dass ich überhaupt noch so über Sex denken könne. Das störte ihn irgendwie. (lacht)

Es gab schon zahlreiche Diskussionen darüber, ob Ihre Bücher überhaupt für Jugendliche geeignet sind. Was halten Sie davon?

Diese Diskussionen sind Unsinn und jeder weiß das. Jugendliche können sich zu allem Zutritt verschaffen, was sie haben wollen, die Sache ist nur, dass die Erwachsenen es ihnen nicht geben wollen. Das ist meiner Meinung nach eine falsche und heuchlerische Einstellung gegenüber Jugendlichen.
Eines meiner Bücher sollte verfilmt werden, dann hat man sich aber doch dagegen entschieden. Als ich fragte, warum, meinte man, dass der Film erst ab achtzehn freigegeben werden könne, so dass die Zielgruppe ihn überhaupt nicht sehen könnte. Die heutige Gesellschaft scheint sich irgendwie unwohl gegenüber Teenagern zu fühlen. Sie mag sie nicht, sie respektiert sie nicht. Also ist alles, was man tun kann, ein paar Jahre zu warten, bis man kein Teenager mehr ist.

Sie haben bereits viele verschiedene Bücher geschrieben. Realistische, Science-Fiction, Fantasy … Haben Sie ein Lieblings-Genre?

Das ist eine schwierige Frage, da mein Lieblings-Genre wechselt. Bis vor kurzem hätte ich vielleicht Fantasy gesagt, diese Bücher, die auf den Mythen der Wikinger beruhen. Aber im Augenblick liebe ich es, Menschen zu interviewen und ihre Geschichten zu hören, echte Geschichten. Wenn man Leuten richtig zuhört – und es kann sein, dass man sie bereits sein ganzes Leben lang gekannt hat – ist es oftmals wie eine Offenbarung zu erfahren, was ihnen durch den Kopf geht und was sie alles erlebt haben. Geschichten von Menschen sind sehr aufregend, wenn man sie zum Sprechen bringen kann.

Also sind diese Interviews auch das, was Sie in Zukunft machen wollen?

Ja. In England gibt es Bücher für Jugendliche und Bücher für Erwachsene aber keine für Studenten, für junge Menschen Anfang zwanzig. Ich würde gerne einmal ausprobieren, für diese Altersgruppe zu schreiben. Das würde mich schon interessieren.

Und woran denken Sie, wenn Sie für diese Generation schreiben wollen?

Ich habe bereits ein paar Studenten dazu befragt, was sie beschäftigt. Ein Mädchen, mit dem ich vor einigen Jahren sprach, kam aus ziemlich harten Arbeiterverhältnissen und studierte nun an der Universität. Sie erzählte mir ihr Leben. Viele Geschichten sind oft sehr überraschend. Ihre positive Lebenseinstellung war beeindruckend.

Was ist Ihr größter persönlicher Erfolg als Schriftsteller?

Das weiß ich nicht. Das müssen andere Leute beurteilen. Aber ich denke, dass ich einiges in der Literatur für Jugendliche in Großbritannien verändert habe. Als ich anfing, gab es vor allem Bücher für Zehn- bis Elfjährige. Ich habe mich immer bemüht, für ältere Jugendliche zu schreiben.

Woher bekommen Sie Ihre Ideen?

Häufig beginnt es damit, dass ich über ein Thema stolpere und es interessant finde. Man bekommt nicht von einem Tag auf den anderen die komplette Idee für ein Buch, man baut diese Idee nach und nach auf. Meist beginnt es nur mit einer Frage. Zum Beispiel: Jung sein in Hamburg. Wie ist das so? Was kann einem geschehen?

Wo schreiben Sie für gewöhnlich?


Ich habe immer ein Büro gehabt. Aber seit wir umgezogen sind, habe ich etwas, das sich viele Schriftsteller zugelegt haben: Ein kleines Häuschen im Garten. Vielmehr eine Hütte, mit einer Heizung.

Wie und wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Ich habe schon immer das Schreiben geliebt. Ich habe schon immer das Lesen geliebt und ich habe auch schon immer Geschichten geliebt. Schon immer hat mich die Macht der Wörter fasziniert, so lange ich mich daran erinnern kann. Da musste ich einfach Schriftsteller werden, von dem Moment an, in dem ich schreiben lernte.

Was hat für Sie eine Blaue Seite?

Für mich hat der Himmel eine blaue Seite.

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