Interview mit Mirjam Pressler 2010

Interview

Zunächst haben wir ein paar Fragen zu „Nathan und seine Kinder“:
Wie kommt es dazu, dass Sie gerade Lessings „Nathan der Weise“ als Vorlage für Ihr Buch verwendet haben?

Ja, dazu gibt es ein paar Gründe: Ich glaube, einer der Gründe waren ursprünglich, obwohl ich es damals noch nicht gedacht habe, die Reaktionen meiner Töchter auf Lessings „Nathan“. Als sie das Stück in der Schule lesen mussten, waren sie ziemlich entsetzt und haben gesagt: „So ein Gelaber!“ Das hat mir sehr Leid getan, denn ich denke, dass es Geschichten gibt, die man unbedingt erhalten muss, die man tradieren muss. Dazu gehört für mich die Ringparabel. Nun, und irgendwann kam dann die Idee! Und ich dachte mir auch Folgendes: Beim Theaterstück sind die Figuren keine wirklich lebendigen Figuren, sie treten nur auf, um ihre Thesen zu vertreten. Ich wollte sie lebendig machen und ihr Leben erzählen.

War es aufwendig, die vielen geschichtlichen Details, die Sie in die Handlung mit einfließen lassen, zu recherchieren?

Ja! Das war aufwendig, aber es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich hab sehr viele Bücher über die Kreuzzüge gelesen – worüber heute auch nicht mehr jeder Bescheid weiß. Ich wollte, dass jede Figur eine Biographie hat. Ich habe auch zwei wunderbare Bücher gefunden. Eines davon ist ein altes, das um 1200 geschrieben wurde, also zur richtigen Zeit, und zwar von einem Bischof von Tyrus, also auch aus der richtigen Gegend. Er hat über die Kreuzzüge und die Stadt Jerusalem geschrieben. In diesem Buch habe ich sehr, sehr viele Details gefunden, die mir geholfen haben. Eigentlich stimmt alles, was ich geschrieben.
Außerdem gibt es noch ein Buch von Maalouf, ich weiß den Titel nicht mehr, aber es geht um die Kreuzzüge aus muslimischer Sicht. Das hat mir auch sehr viel gebracht. Es war Arbeit! (lacht)

Warum haben Sie Charaktere wie Geschem und Abu Hassan zu Lessings Version ergänzt?

Bei einem Roman braucht man, anders als bei einem Theaterstück, auch Alltag, und zum Alltag gehören mehr Menschen. Bei einem Theaterstück hat man eine begrenzte Anzahl an Figuren, die kommen auf die Bühne, die sagen, was sie zu sagen haben. Ich war also gezwungen, zusätzliche Personen einzuführen. Und Geschem ist mir eigentlich der allerliebste! (lacht) Ich glaube, ich bringe immer irgendwo so jemanden rein, der mit seiner eigenen Identität kämpft.

Also ist Geschem Ihre Lieblingsfigur in „Nathan und seine Kinder“. Warum gerade er?

Weil es mich immer interessiert, ob es jemand schafft, aus „Schutt und Scherben“ etwas aufzubauen.

Gut, dies waren unsere Fragen zu „Nathan und seine Kinder“, nun möchten wir auf „Grüße und Küsse an alle“ zu sprechen kommen.
 Wie sind Sie darauf gekommen, der Biographie der Familie von Anne Frank den Titel „Grüße und Küsse an alle“ zu geben?

Das liegt daran, dass dieses Buch im Grunde auf Briefen basiert. Und „Grüße und Küsse“ ist eine normale Briefunterschrift. „An alle“ musste – abgesehen davon, dass es ein Zitat aus etlichen Briefen ist, unbedingt dazu, weil es den erstaunlichen Zusammenhalt dieser Familie zeigt. Sie haben sehr eng zusammengehalten , und selbst wenn sie getrennt waren, wurde sofort an alle geschrieben, wenn einem etwas passierte. Deshalb schien es einfach ein sehr passender Titel für diese Familie zu sein.

Was ging in Ihnen vor, als man mit der Frage, ob Sie die Biographie schreiben würden, an Sie herantrat?

Zuerst wollte ich gar nicht.
Diese Briefe, die gefunden wurden, sind ja keine Korrespondenz. Es ist ja nicht wirklich so, dass es um ein Thema geht, dass man schreibt, eine Antwort bekommt und wieder schreibt. Es sind nur die Briefe, die an die Familie gerichtet sind. Und sie haben einfach nichts weggeworfen.

Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass man in dem Buch nur die interessanten Briefe untereinander abdruckt und dann als Zwischentext schreibt, welche Beziehung der Absender zur Familie hat. Das, dachte ich, wird keiner lesen, das ist einfach langweilig.
Und ich wollte, dass es so etwas wird wie ein Familienroman.
Aber dazu brauchte ich einen Trick dazu! (lacht) Und den habe ich dann – Gott sei Dank! – auch gefunden, und zwar indem ich mich auf drei Personen konzentriert habe, Hauptfiguren von drei Großkapiteln. Die Anfangsgeschichte der Familie wird von Alice Frank aus erzählt, der Großmutter von Anne Frank., der mittlere Teil von Leni Frank aus, der Tante, die eine sehr bemerkenswerte Frau war, und die dritte von Buddy Elias aus, dem Einzigen, der noch lebt.
Und nachdem mir das eingefallen war, konnte ich die einzelnen Briefe und Ereignisse auch zuordnen.


Wie haben Sie es geschafft, aus der großen Fülle an Dokumenten der Familie von Anne Frank eine Auswahl zu treffen?

Das war wirklich schwer!
Ich habe allerdings schon eine Vorauswahl bekommen. Gerti Elias, die Frau von Buddy Elias, hat alle Briefe aussortiert, die keine Rolle spielten. Also so Briefe wie: „Uns geht’s gut, wie geht’s euch?“ und so weiter, dazu auch Mahnungen und Geschäftsbriefe, die habe ich nicht bekommen.
Trotzdem hatte ich zwei große Stapel. Es waren wirklich sehr viele!

Ich habe sie natürlich alle durchgelesen und die ausgesucht, die ich für besonders schön, besonders aussagekräftig oder besonders wichtig gehalten habe.
Diese Briefe habe ich meinen drei Großkapiteln zugeordnet und immer wieder neu sortiert. Aber es waren immer noch viel zu viele, viel mehr, als ich verwenden konnte.
Dann habe ich ganz allmählich immer wieder einen genommen, habe ihn woanders hingelegt, oder habe gedacht: „Nein, den brauch ich nicht!“ und weggelegt.
Wie z.B. die Briefe von Buddy Elias, der 14 Jahre bei „Holiday On Ice“ Eiskunstläufer, bzw. Komiker, war. Er ist in diesen 14 Jahren auf der ganzen Welt herumgefahren und hat mindestens ein- bis zweimal in der Woche an seine Familie in Basel geschrieben.
Es gibt bergeweise Briefe von ihm und viele sind wunderschön, zum Teil auch sehr spannend. Das hat mich wirklich in Schwierigkeiten gebracht, bis ich mir klar machte: „Das geht nicht! Auch wenn sie mir gefallen, kann ich diese nicht aufnehmen, weil sonst die Gewichtung des Buches verloren geht.“ Schließlich habe ich mich darauf beschränkt, jene Briefe zu nehmen, in denen er über das Tagebuch oder das Theaterstück schreibt.

Das Buch ist trotz der Tatsache, dass es eine Biographie ist, sehr lebendig geschrieben. Hängt das vor allem mit den Briefen zusammen? War es schwierig, das so hinzukriegen?

Es war schon schwierig, aber ich glaube, das hängt eher mit der Fülle des Stoffs zusammen, mit den vielen Briefen, die ich gelesen habe. Ich war auch oft bei Buddy und Gerti und habe sie interviewt, ich hatte also auch so ein Ding (zeigt auf das Diktiergerät), bin nach Basel gefahren, war tagelang dort und habe dauernd Fragen gestellt.
Ich wollte, dass es sich lebendig liest. Und die beiden waren wirklich großartig, die haben mir ganz geduldig Antworten gegeben. Und Buddy hat dann hinterher gesagt, er hätte schon ganz viele Sachen vergessen, nur weil ich soviel gefragt habe, ist es ihm wieder eingefallen.

Wie war es für Sie, mit Gerti Elias, einer Frau, die so eng mit der Familie Anne Franks verbunden ist, zusammen zu arbeiten?

Es war sehr schön! Wie gerade gesagt, mit Gerti und Buddy war es einfach wunderbar. Und sie sind meine Freunde geworden in der Zeit.

Sie haben ja gerade gesagt, dass Sie alle Briefe selbst gelesen haben. Haben Sie diese in Sütterlin- Schrift gelesen?

Das hatte ein Historiker schon digitalisiert, es war also schon alles in Normaldruck da. Trotzdem habe ich alle gelesen, weil ich zum Beispiel den Brief, den Michael Franks Mutter an Alice schrieb, mit allen Rechtschreibfehlern abdrucken wollte. Deswegen habe ich wirklich alles kontrolliert. Ich kann es also einigermaßen lesen.

Dann haben wir noch ein paar allgemeine Fragen zu Ihnen.
 Was inspiriert Sie zu Ihren Büchern? Was möchten Sie mit deren Inhalten vermitteln?

Was mich inspiriert, kann ich gar nicht sagen, das ist bei jedem Buch eine andere Geschichte.
Ich weiß das nie wirklich vorher. Ich weiß ja auch oft nicht, wie die Handlung weitergeht oder wie das Buch endet. Ich denke auch nicht groß darüber nach. Ich schreibe einfach, lese, ändere, schreibe, lese und ändere. Das ist meine Art zu arbeiten.
Was ich damit will? Ich denke, ich will damit das, was jeder will, wenn er Geschichten erzählt, oder sich auch nur unterhält. Man will das Bild der Welt ein bisschen erweitern. Man will sagen: „Das gibt es auch noch!“ und gerade bei diesem „Grüße und Küsse an alle“ ist mir das wichtig.
Es ist eine verlorene Welt. Wenn man nichts von dieser Welt erzählt, wird sie vergessen.
Also, ich möchte eigentlich wirklich eher nur informieren.

Was für eine Umgebung und Atmosphäre ist Ihnen zum Schreiben am liebsten?
Am liebsten Zuhause, in meinem Arbeitszimmer, an meinem Tisch. Ganz einfach!

Welches Ihrer Bücher finden Sie am Besten gelungen?

Das ist natürlich immer das letzte, ganz klar! (lacht) Bis man die Distanz hat. Ich habe viele Bücher, die ich besonders gern habe. Das sind natürlich nicht alle, aber es ist eine ganze Reihe.

Wenn Sie Bücher übersetzen, haben Sie manchmal Ideen für eine andere Wendung der Handlung oder ein alternatives Ende im Kopf?

Natürlich! Na klar, denkt man manchmal: „So hätte man das auch machen können!“ Aber das ist nur vorübergehend und spielt keine große Rolle.

Ich hatte vorher gar nicht gewusst, wie viel Spaß mir das macht, zu recherchieren und zu lesen.
Bei Golem war es ähnlich. Die Figur des Golem hat mich schon immer interessiert, und jedes Mal, wenn ich zum Beispiel von Robotern, von geklonten Schafen und künstlicher Intelligenz gehört habe, dachte ich an den Golem. Das ist die alte Sehnsucht der Menschen, Leben zu erschaffen. Aber ich wollte nicht nur einfach die alten Sagen von Golem nacherzählen, sondern sie in eine historische Geschichte einbetten. Und so ist es halt geworden.

Was für Geschichten lesen Sie selber gern?

Ich lese alles gerne, ich bin also nicht auf bestimmte Genres fixiert. Aber es gibt eine Sache, die ich nicht lese: Science Fiction. Auch bei Fantasy steige ich eher aus, da gib es wenige Sachen die mir wirklich gefallen.

Wie sind Sie dazu gekommen, Bücher zu übersetzen?

Das erste, das ich übersetzt habe, war ein Kinderbuch aus dem Niederländischen, und wie ich dazu gekommen bin, ist sehr typisch für mich. Ich war in München bei einem Verlag, bei einer Weihnachtsfeier.
Da hat ein Übersetzer angerufen und gesagt, er könne ein bestimmtes Buch nicht übersetzen, weil er keine Zeit habe. Und auf einmal fingen wir alle – wir hatten ein bisschen was getrunken, haben viel geredet – und plötzlich ging´s ums Übersetzen.
Da kam aber einer auf die Idee und hat zu dem Verleger gesagt: „Du könntest einen Muttersprachler daransetzen und ihn eine wörtliche Übersetzung machen lassen, dann gibst du das Ganze einem deutschen Autor und der macht ein Buch daraus?“.
Der Verleger hat mich sofort angesprochen und gefragt: „Machst Du das?“ Ich habe ihm gesagt: „Gib mir zwei Wochen.“ und habe in den zwei Wochen eine Niederländerin gesucht – auch eine gefunden, die sehr gut Deutsch konnte, die wirklich in der Lage war, eine wörtliche Übersetzung zu machen. Aber ich habe sofort nach den ersten Sätzen gemerkt: So kann ich nicht arbeiten.
Wenn der Satz auf Deutsch dasteht, kann ich natürlich einen schönen Satz daraus machen, aber ich weiß nicht wirklich, was gemeint ist. Die Wortfelder stimmen ja nie überein. Bei jedem Übersetzen ist immer ein bisschen Interpretation dabei, welches Wort man denn wählt.

Also habe ich mir ein Wörterbuch gekauft und bei der Übersetzung jedes Wort nachgeschlagen. Das geht natürlich nur mit einer Nahsprache, mit völlig fremden Sprachen kann man so etwas nicht machen.
Die Niederländerin habe ich nur zum Kontrollieren gebraucht, damit ich keine Fehler machte. Diese Übersetzung hat natürlich ewig lang gedauert. Als das Buch erschien, stand es im „Börsenblatt“, das ist eine Fachzeitschrift für Buchhandlungen und Verlage, und auf einmal haben mich Verlage angerufen und gefragt, ob ich für sie Gutachten mache. Gutachten heißt also, das niederländische Buch lesen, eine Inhaltsangabe schreiben und sagen, ob man das übersetzen soll oder nicht.
Das fand ich auch spannend, ich habe damals über eine Woche gebraucht, bis ich ein Buch gelesen hatte. Ich habe dauernd nachschauen müssen. Heute bin ich froh, wenn ich einmal ein Wort nachschlagen kann.

Wir haben bisher nur über das Niederländische gesprochen, Sie übersetzen ja auch aus dem Hebräischen.

Ja, Hebräisch habe ich schon sehr früh angefangen zu lernen, vielleicht mit zwölf oder dreizehn. Später habe ich dann einmal ein Jahr in Israel gelebt, danach konnte ich die Sprache auch gut sprechen.
Ein bestimmter Verleger hat mich immer dazu gedrängt, zu übersetzen. Ich habe es abgelehnt, weil Hebräisch zu übersetzen sehr zeitaufwendig ist.
Ich habe gesagt, ich kann mir das nicht leisten! Übersetzen ist ein sehr schlecht bezahlter Job, und ich hatte drei Kinder, die ich aufziehen musste. Ich kann es mir nicht leisten, so eine aufwendige Übersetzung zu machen, für so wenig Geld.
Er hat drei Jahre lang, auf mich eingeredet und irgendwann habe ich dann gesagt, gut, ich übersetze ein Jugendbuch und ein Erwachsenenbuch und dann ist Schluss!
Dann war nicht Schluss, dann habe ich immer weiter übersetzt. (lacht)

Wann haben Sie zum ersten Mal eine Geschichte selber verfasst?

Ich habe im Herbst 1979 angefangen zu schreiben. Das war mein erstes Buch. Es ist 1980 erschienen. Davor habe ich nicht geschrieben, sondern gemalt. Ich wollte immer Malerin werden. Ich habe Gedichte mit 14 oder 15 Jahren gemacht, wie so viele.

Was hat für Sie eine blaue Seite?
Ich kann euch nur sagen, was für mich „blaue Stunde“ bedeutet. Das ist die Zeit zwischen Tag und Abend, wenn man sich noch mal ganz ruhig zurückzieht und sich auf den Abend vorbereitet. Ich sehe es sehr gerne, wie der Himmel dunkel wird. Das ist für mich „blaue Stunde“.

Vielen Dank für das Interview!

RedakteurRedakteur: Kerrin, Mara
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