Interview mit Patrick Ness und Jim Kay
Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 hatten Ilka und Kim von der Blauen Seite die Gelegenheit, Patrick Ness und Jim Kay zu interviewen, die noch am selben Tag von der Jugendjury für ihren Roman „A monster calls“ = „Sieben Minuten nach Mitternacht“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurden.
Blaue Seite: Wir kommen von der Blauen Seite, einem Online-Literaturmagazin für Jugendliche. Unsere erste Frage lautet: Haben Sie von Monstern geträumt, als Sie jung waren?
Patrick Ness: Wie ist es mit dir?
BS: Nein nicht von Monstern, eher von anderen Dingen.
Patrick Ness: Es ist lustig, dass du das fragst, weil ich nicht wirklich von Monstern geträumt habe, aber Träume sind seltsam und ergeben keinen Sinn. Ich kann mich erinnern, dass ich, nachdem ich „Jurassic Park“ gesehen hatte, ständig von Dinosauriern geträumt habe, weil die Saurier im Film so lebendig, realistisch und groß dargestellt wurden. Die Dinosaurier tauchten in meinen Träumen auf, aber ich hatte keine Angst vor ihnen. Sie waren einfach nur da mit ihrem „Rarrrar“. Naja, vielleicht hatte ich doch ein kleines bisschen Angst …
BS: War es schwierig, ein Buch zu beenden, das jemand anderes angefangen hatte zu schreiben? [„Sieben Minuten nach Mitternacht“ fußt auf einer unvollendeten Romanidee der 2007 an Krebs verstorbenen Autorin Siobhan Dowd.]
Patrick Ness: Wenn man mich gebeten hätte, ein Buch für jemand anderen zu schreiben, hätte ich normalerweise immer abgelehnt. Ich denke, dass eine Geschichte ein Eigenleben entwickeln muss, sie muss wachsen, sie muss einen selber überraschen, sie sollte einen an unbekannte Orte führen. Und ich fürchte, dass, wenn du eine Idee von jemand anderem übernimmst, genau das nicht passieren wird. Du machst dir die ganze Zeit Gedanken darüber, was die andere Person schreiben würde. In diesem Fall gab es aber nur den Anfang und ein paar Charaktere, also Conor und Lily und das Monster. Und es gab die Idee, die Struktur für diese drei Geschichten. Das war alles, nicht viel, aber das, was da war, war interessant genug. Und ich habe angefangen zu denken: „Okay, das könnte passieren und ich könnte das passieren lassen.“ Und ich habe z.B. die Großmutter neu dazu erfunden. Und habe mir gedacht, vielleicht hätte sie das auch gemacht. Die Geschichte geht ihren eigenen Weg. Aber ja, das Ganze ist seltsam, es ist ungewöhnlich.
BS: Hat es Ihnen Schwierigkeiten bereitet, den richtigen Ton, den richtigen Stil zu treffen?
Patrick Ness: Meinst du, weil es ein trauriges Buch ist?
BS: Ja, genau.
Patrick Ness: Hast du es gelesen?
BS: Ja.
Patrick Ness: Und? Hast du geweint?
BS: Nein.
Patrick Ness: Dann hast du ein Herz aus Stein! [lacht]
Den Ton und Stil für diese Geschichte habe ich früh gefunden. Es war so, dass ich recht schnell sagen konnte und wusste, dass das Buch funktionieren würde. Es ist die Art und Weise, wie das Buch zu dir spricht und erzählt. Wenn ich diesen Ton nicht gefunden hätte, dann hätte ich das Buch vermutlich nicht schreiben können, aber so hat es sich von Anfang an richtig angefühlt.
Und was das Schreiben von traurigen Dingen angeht, da habe ich eine Theorie: Wenn du eine Komödie schreibst und dabei selbst nicht lachst, dann ist sie nicht lustig. Wenn du Witze schreibst und sie selber nicht lustig findest, wird auch sonst niemand darüber lachen können. Und wenn du etwas Trauriges schreibst, und du wirst selber beim Schreiben nicht traurig, wird auch niemand anders traurig sein. Das ist nicht so leicht, man muss darauf achten, genug von der Wahrheit zu erzählen, dass man auch selber traurig wird.
BS: Als Sie angefangen haben, das Buch zu schreiben, wussten Sie da schon, dass Jim Kay die Bilder machen würde?
Patrick Ness: Ich wusste, dass dieses Buch – im Unterschied zu meinen früheren Büchern – Illustrationen haben würde, aber ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, wer die Bilder machen würde. Ich hatte die Geschichte zu Ende geschrieben und meine Lektorin sagte: „Wie wäre es mit Jim?“ Jim hat die Bilder zu „Bugs“, einem Insektenbuch gemacht, aber er hatte nie zuvor ein ganzes Buch illustriert. Also haben wir ihm das Buch geschickt und er zeichnete ein Bild. Er hat dieses gemalt [zeigt das Bild]. Ich denke, dass dieses Bild das Beste ist, es ist ein großartiges Bild. Er hat von Anfang an alles richtig gemacht, und wir sagten: „Er ist unser Mann. Er ist der Richtige für diesen Job.“
BS: Wie gefallen Ihnen die Bilder?
Patrick Ness: Naja, sie sind ganz in Ordnung [lacht]. Nein, sie sind großartig, fantastisch, total tolles Zeug! Dieses Bild auf Seite 105, ein einziges großes Bild, ist einfach nur toll. Wie oft sieht man so etwas schon in Büchern? Ich liebe es.
BS: Mochten Sie das Buch, als Sie es gelesen haben?
Jim Kay: Ich habe geweint und geweint … Und ich liebe es immer noch. Ich habe es inzwischen ein paar Mal gelesen. Ich denke, es ist wichtig, dass man ein Buch, das man illustriert, mag. Man verbringt so viel Zeit mit ihm. Jeden Tag denkt man darüber nach. Es hilft, wenn du das Buch magst. Ja, ich liebe dieses Buch. Das Illustrieren hat viel Spaß gemacht, es war einfach.
BS: Haben Sie die Illustrationen alleine gemacht?
Jim Kay: Ja, sehr alleine.
BS: Also gab es keine Zusammenarbeit zwischen Ihnen?
Jim Kay: Wir hatten einen wunderbaren Art-Director, das ist sehr wichtig. Über ihn haben wir kommuniziert, was sehr gut funktioniert hat. Ich habe ihm meine Arbeiten geschickt, Patrick hat seine Meinung dazu gesagt und andersherum. Und das hat gut geklappt.
Patrick Ness: Es gab manchmal Meinungsverschiedenheiten. Aber wir haben nie direkt miteinander kommuniziert, auch nicht über E-Mail und haben einander nie getroffen, bis das Buch fertig war. Also, waren wir nur über jemand Drittes miteinander in Kontakt.
BS: Liegt dem Buch eine wahre Geschichte zugrunde?
Patrick Ness: Ich denke, dass die Wahrheit dieser Geschichte darin besteht, dass Siobhan Krebs hatte und dass sie ein Buch über einen Jungen geschrieben hat, dessen Mutter Krebs hatte. Das ist mir so nicht passiert, aber hierin liegt die Wahrheit der Geschichte. Wir werden niemals wissen, was sie geschrieben hätte, aber indem sie angefangen hat, ein Buch über einen Dreizehnjährigen zu schreiben, wollte sie zeigen, wie das für einen dreizehnjährigen Jungen und seine Freunde ist. Sie hatte keine Kinder, aber es war klar, dass sie diesen Teil der Geschichte erzählen wollte.
BS: Wie würden Sie beide Ihren Kindern erklären, dass Sie Krebs haben?
Patrick Ness: Na ja … Oh Gott!
Jim Kay: Also, meine Mutter hatte Krebs und mein Vater musste es mir sagen, weil sie Angst davor hatte, anderen Leuten Kummer zu bereiten. Die Leute, die ich kenne, die Krebs haben – und ich kenne viele –, machen sich seltsamerweise mehr Sorgen um die Leute in ihrer Umgebung als um sich selbst. Es ist wie in dem Buch, sie hinterlassen sehr viele traurige Leute und sie fühlen sich dafür verantwortlich, das ist schon für sich alleine betrachtet traurig, weil sie doch eigentlich diejenigen sind, die krank sind und um die man sich Sorgen machen sollte. So habe ich es erlebt, als mir das damals von meinem Dad mitgeteilt wurde.
BS: Wie sind Sie mit dem Thema Krebs umgegangen, haben Sie viel recherchiert, um sich auf das Schreiben vorzubereiten?
Patrick Ness: Ich habe medizinische Recherchen angestellt, da ich nichts falsch machen wollte und ich habe eine Onkologin gebeten, also eine Ärztin mit dem Fachgebiet Krebs, das Buch auf die Fakten hin zu prüfen, also sicher zu stellen, dass die medizinischen Dinge richtig sind. Auf der einen Seite sollten diese Dinge richtig und exakt sein, aber auf der anderen Seite wollte ich auch nicht, dass sich die Handlung nur darum dreht. Ich wollte, dass sich dieser Teil eher im Hintergrund hält. Was die Gefühlsebene angeht war meine Idee, dass nicht jeder die Erfahrung gemacht hat, jemanden zu verlieren, aber jeder hat schon mal Angst davor gehabt, jemanden zu verlieren. Jeder hat sich schon einmal gefragt, was passieren würde, wenn er die Person verlöre, die ihm am wichtigsten ist, wenn diese Person krank würde. Ich denke, dass jeder auf der Welt dieses Gefühl kennt. Es ist ein Buch über den Verlust, aber es handelt auch davon, dass man fürchtet, jemanden zu verlieren. Und dieses Gefühl kenne ich sehr gut. Für mich ist es also mehr ein Buch über Angst, weniger über Verlust.
BS: Denken Sie, dass es eher ein Buch für Jugendliche als für Kinder ist oder vielleicht sind Sie ja auch der Ansicht, dass es ein Buch für Erwachsene ist?
Patrick Ness: Wenn ich schreibe, denke ich niemals darüber nach, ob das ein Buch für Kinder, für Teenager oder für Erwachsene werden soll. Ich denke wirklich nur darüber nach, ob ich es mag. Und ich hoffe, dass wenn ich es mag, es auch von jedem anderen gemocht werden kann. Es ist großartig, dass es für die Jugend-Kategorien von jungen Lesern ausgesucht worden ist. Es gibt aber auch eine Ausgabe für Erwachsene, die im Goldmann-Verlag erschienen ist. Auch in England gibt es eine Erwachsenen-Ausgabe und eine für Jugendliche. In welcher Rubrik es nominiert ist, ist mir eigentlich egal. Ich bin glücklich, wenn jeder es liest. Wenn ich schreibe, ist es wichtig, dass ich es mag, denn wenn ich es nicht mag, dann wird es keiner mögen, dann steckt kein Herz in dem Buch. Ich möchte mich nicht für eine Lieblings-Kategorie entscheiden müssen.
BS: Mögen Sie den deutschen Titel?
Patrick Ness: Er ist großartig. Wir haben oft über ihn geredet, weil sich ein Titel wie „Ein Monster ruft“ auf Deutsch nach einer Horrorgeschichte anhört, wie ein Alptraum. Mein deutscher Verlag war dagegen. Im Englischen ist „An inspector calls“ ein berühmtes Theaterstück. Jeder kennt es und der englische Titel [= „A monster calls“] bezieht sich darauf. Ich war damit einverstanden, dass sie den Titel geändert haben. Für englische Ohren hört sich hingegen der deutsche Titel wie der einer Schauergeschichte an. Aber ich habe dem Verlag vertraut. Das Ergebnis ist gut, es ist ein sehr guter Titel. Andere Länder haben den deutschen Titel übernommen, also in der entsprechenden Sprache bedeutet er immer „7 Minuten nach Mitternacht“. Die Deutschen haben den Titel eingeführt, alle anderen haben ihn kopiert.
BS: Waren Sie derjenige, der den Titel „A Monster calls“ ausgesucht hat?
Patrick Ness: Ja, weil es sich richtig angefühlt hat. Ich habe es „A monster calls“ genannt. Im Englischen hatte mein vorheriges Buch den Titel „Monsters of Men“, das heißt, dass ich zwei Bücher hintereinander geschrieben habe, die das Wort „Monster“ im Titel haben, obwohl es in keinem der beiden wirklich um Monster geht – das ist schon irgendwie verwirrend. Aber der richtige Titel ist nun mal richtig, daran ist nichts zu machen.
BS: Wir haben jetzt noch eine letzte Frage. Was hat für Sie eine blaue Seite?
Patrick Ness: Das allererste, was mir gerade in den Sinn kam, ist, das, was im Englischen „The Endpapers“ [= Vorsatzpapier] genannt wird. Sie sind das letzte, über das bei der Frage des Designs eines Buches entschieden wird, wenn alles andere an einem Buch schon fertig ist. Es ist alles fertig organisiert, also auch das Cover und die Illustrationen sind fertig, das letzte, über das entschieden werden muss, ist das. Das scheint nur eine Kleinigkeit zu sein, aber es ist sehr wichtig, denn diese Seiten sind die ersten, die vom Leser gesehen werden, sie vermitteln die Stimmung des Buches. Wenn ich an „Blaue Seite“ denke, dann denke ich an diesen Teil eines Buches, dieser Teil, den du glaubst nicht wahrzunehmen, den du aber trotzdem immer wahrnimmst. Also spielt es eine wichtige Rolle. Das war mein erster Gedanke.
BS: Und wie steht es mit Ihnen?
Jim Kay: Ich dachte an etwas Gegenteiliges, ich dachte an „Blue Prints“ [= Bauplan]. Sie sind das erste, an dem ein Architekt arbeitet, wenn er eine Idee für ein neues Gebäude hat. Das ist ein blaues Papier mit weißen Markierungen. Ich dachte also eher an den Anfang einer Arbeit, einer Idee.
Patrick Ness: Du denkst an den Anfang und ich ans Ende, von A bis Z.
BS: Vielen Dank für das Interview.