Interview

Interview mit Raifk Schami

Fee-Rose Strohschehn und Bona-Katharina Dommert interviewten Rafik Schami u.a. über sein neues Kinderbuch „Das Herz der Puppe“ am 15. März  auf der Leipziger Buchmesse.

Blaue Seite: Eines Ihrer Bücher ist die arabische Märchensammlung mit dem Titel „Malula-Märchen und Märchenhaftes aus meinem Dorf“. Wo sehen Sie die Parallelen und Unterschiede von arabischen und deutschen Märchen? 

Rafik Schami: Die arabischen, orientalischen Märchen sind in einer Zeit aufgenommen worden, wo Pädagogik noch keine Rolle gespielt hat. Das heißt, dass die sich nicht zu einem guten Ende verpflichten.

Die Gebrüder Grimm zum Beispiel haben im 18. /19. Jahrhundert beim Versuch ein pädagogisches Mittel für Kinder zu finden, mit wunderbarem Verdienste schriftliche Niederlegungen angefertigt und dadurch viele Märchen vor dem Verlust gerettet. Aber wenn man eine Niederschrift legt, verändert man das Märchen, macht es modern und passend zu der Zeit. Und letztlich siegt der Gute und der Böse verliert und am Ende kommt immer ’die Moral der Geschicht’.

Im Arabischen gibt es nicht diese  Moral der Geschichte. Das heißt, die konnten offen ausgehen oder negativ enden.

Das ist das Eine, zweitens ist es natürlich eine andere Gesellschaft.

Es ist eine Gesellschaft, in der viele Religionsgemeinschaften leben, das heißt es war nie eine Monokultur wie die europäisch-christlich-abendländische, deshalb sind die Werte sehr gleichmäßig verteilt. Die europäischen Märchen haben immer irgendwelche bösen Gestalten, aber im arabischen wechselt das. Es kann auch ein Nachbar der Böse sein. In den europäischen gibt es immer einen Sündenbock, das kennen wir nicht. Die Märchen im Orient haben mehr indische Elemente, mehr Zauberelemente, mehr magische Elemente. In Richtung Norden sind diese verloren gegangen.


BS: Also muss man da einen guten Mittelweg finden? 

RS: Nicht Mittelweg, sondern das Beste aus beiden herausholen. Ein multikulturelles Kind, und das ist meine Hoffnung gegen alle Rassisten, hat die Möglichkeit die Gesellschaft mit den besten Elementen seiner Eltern, die er in sich trägt, zu bereichern.

BS: Warum? 

RS: Er hat etwas von beiden Kulturen, lebt hier und kennt das Land von Kindesbeinen an und hat Werte im Hinterkopf, die aus einer fremden Kultur stammen, z.B. das seine Mutter oder Vater Gäste sehr lieben. Weil in ihrer Kultur die Gäste als heilige gelten, die man gut behandelt, damit sie das Haus segnen.  Solche Kinder sind die beste Abwehr gegen alle Rassisten der Welt.

BS: Inwiefern wirkt sich die politische Lage in Syrien auf Ihr Schreiben aus? 

RS: Sehr viel, weil ich seit dem 15. März 2011 nichts mehr geschrieben habe außer für diese Revolution. Interviews, Essays, warum die Diktatur weg muss. Anstatt Rache sollte sich versöhnt werden, damit die Opfer minimalisiert werden, da es bisher 8000 davon und 50000 Verschleppte gibt. Aber je länger der Bürgerkrieg und die Brutalität des Regimes andauern und die Welt nur zuschaut und dem Diktatur Fristen verlängert, um so einsamer wird meine Stimme. Es gibt Racheaufrufe und ich merke, dass das zu einem noch längeren Bürgerkrieg führen wird. Ich rufe zur Versöhnung und zum Handreichen und zum Verhandeln nicht mit den Mördern, sondern mit Leuten aus dem herrschenden Clan, die ihre Hände noch nicht mit Blut besudelt haben. Aber wie macht man das und der Verbrecher Assad hat noch so viele Truppen und Waffen? Die Suche nach einer Antwort beschäftigt mich, deshalb habe ich einen angefangenen Roman bei der Hälfte aufgehört.

Ich kann mich nicht auf eine fiktive Welt konzentrieren, während ich nicht mal eine Stunde zuvor mit Damaskus, Beirut, Paris und London, wo meine Freunde sind, telefoniert habe und einer mir erzählt, dass sein Bruder erschossen wurde, den ich als Kind kannte. Den Tag kannst du dann vergessen. Da kann ich nicht mehr schwelgen und fantasieren.  Dafür gebe ich am laufenden Band Interviews, schreibe Essays…Ich wurde zum freien Mitarbeiter der deutschen Medien und ich mache das gerne. Ich bekomme aktuelle Nachrichten per YouTube, Internet und Handy aus erster Hand und das übersetze ich und gebe es weiter.

BS: Wir haben ihre Lesung zum Kinderbuch „Das Herz der Puppe“ gesehen und sie haben die Geschichte komplett frei erzählt. Ist es für Sie wichtig alles frei zu erzählen? 

RS: Ja, das ist meine Art zu erzählen. Ich habe 1982 meinen Job als Doktor der Chemie hingelegt und bin auf Reisen gegangen und ich liebe es frei zu erzählen. Ich muss aber viel Arbeiten, wenn ich hier in einer fremden Sprache erzähle und das Übersetzen im Kopf dauert.Aber ich habe Spaß daran, weil ich mit jeder Lesung ein Unikat hervorbringe – nie eine Lesung! Das ist der Unterschied zwischen rezitieren und frei erzählen (ausführlich nachzulesen in „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“). Rezitatoren stehen da und erzählen eins zu eins von Heine oder von Tucholsky und die  können noch in 10 Jahren dasselbe Gedicht sagen, wie auch wir das in der Schule gelernt haben. Ich aber erzähle frei entlang eines roten Fadens. Ich habe den roten Faden verinnerlicht, aber nicht auswendig gelernt. Das ist das Geheimnis der mündlichen Erzählkunst.

Und trotz meiner 30 Jahre Erfahrung, bin ich immer misstrauisch und habe eine kleine Stütze für den Zug, womit ich mir zumindest diese Punkte des roten Fadens merke. Die habe ich im Vorfeld vorbereitet. Und egal wie stressig, aufregend, traurig oder ärgerlich der Tag für mich persönlich ist, hat das Publikum immer das Recht auf eine perfekte Erzählstunde. Auf der Bühne vergesse ich alles und bin nur bei meinen Heldinnen und Helden. Hätte ich  den Text in so einer stressigen Situation wie heute (an diesem Tag hat der Zug eine Verspätung und mein Taxi steckte in Leipzig im Stau. Ich kam fünf Minuten vor dem angesetzten Termin an) auswendig gelernt, wäre ich aufgeschmissen. Diese Art zu erzählen macht auch mir Spaß und das reflektiert sich auf das Publikum. Die Zuhörer merken schon den Unterschied, ob der Autor seinen Text herunterleiert oder ob der Autor Freude daran hat. Ich selbst bin als Zuhörer in unzähligen Lesungen und Erzählabenden gewesen und lernte schnell den Unterschied zu sehen.

BS: Wenn Sie sich entscheiden müssen, zwischen freiem Erzählen und Schreiben, was würden sie wählen? 

RS: Frei Erzählen. Schreiben quält. Ich hätte gerne ein Kaffeehaus, wo ich Abend für Abend auftreten könnte und das Publikum kommt und geht. Aber ich muss Schreiben, damit ich auch Orte erreiche, die ich nicht persönlich erreiche. Meine Bücher sind jetzt in 25 Sprachen übersetzt und ich habe begriffen, dass das auch eine Chance ist – dass ich durch die Bücher andere Einladungen bekomme. So habe ich zum Beispiel auch Tourneen nach Finnland ins Goethe-Institut gemacht.

BS: Sie haben vorhin erzählt, dass arabische Märchen keine wirkliche Moral haben. Ist es denn für Sie wichtig, dass eine Geschichte eine Moral hat? 

RS: Die Frage ist wunderbar. Was ich kritisiere ist das, was hier in Europa im Namen der Pädagogik passiert ist. Das ist dieses aufgesetzte moralische Ende.

Eine Geschichte hat immer eine Moral. Sie erzählt was vom Leben und sie erstellt eine Skala von Werten: Der eine hat dem Armen geholfen – schon ist da Moral drinnen. Der eine gibt dem Hungernden ein Stück Brot – das kennen wir doch aus anderen Religionsbüchern. Ob das von China, Japan oder auch hier in Europa ist – alle Geschichten hatten ihre Moral, lange bevor die Pädagogen geboren wurden . Aber was hier in Europa passiert ist, ist dass man pädagogisch noch eins daraufgesetzt hat, und der Leser soll sich ja vor dem Ende der Geschichte in Acht nehmen: „Und die Moral der Geschichte ist, sei immer ehrlich und gehorsam, dann kommst du durch.“ Die arabischen Geschichten zeigen eher, dass wenn man immer ehrlich und gehorsam ist, eher einen auf den Deckel bekommt. Stimmt ja, denn so ist das im wirklichen Leben!

BS: Sie haben ja einige Bücher für Erwachsene und auch welche für Kinder geschrieben. Was gefällt Ihnen persönlich am liebsten? Wo sehen Sie die Vor- oder auch Nachteile? 

RS: Oh, das ist wirklich schwer. Ich schreibe für beide gerne. Manchmal habe ich auf das eine Lust und manchmal auf das andere. Aber ich sage Ihnen den Unterschied: Kinderbücher sind für mich wie Konzentrate. „Das Herz der Puppe“ ist eigentlich ein Philosophiebuch. Bei diesem Buch hatte ich sehr viel Arbeit, das in diese ganzen kleinen spannenden Geschichten zu verfassen. Was ist Freundschaft, was ist Treue, was ist Verrat? Was ist Tod? Das heißt, die Kinderbücher kosten mich mehr Arbeit, als es danach aussieht. Es gibt einen wunderbaren Satz von dem französischen Karikaturisten  Sempé, den ich sehr schätze. Er sagte in einem Interview: „Wenn man mein Resultat am Ende sieht, dann schäme ich mich, dass ich eine Woche daran gesessen habe.“ Und das passiert mir bei Kinderbüchern immer! Bei meinem Buch gegen Rassismus „Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm“ war es wie die Arbeit an einem Roman. Bis ich fertig war…Dabei ist der Text weniger als fünf Seiten lang gewesen.

Weil ich immer versucht habe, die Geschichte zu erzählen, ohne den Zeigefinger zu erheben. Und dann war mein Zeigefinger plötzlich doch da! Und dann habe ich es noch einmal neu geschrieben. Das heißt, man sieht bei guten Kinderbüchern – ich hoffe, dass ich gute Kinderbücher schreibe – nicht die Mühe, die man bei Erwachsenromanen sieht. Die Kinderbücher sehen leichter aus, als sie sind und das ist auch gut so.

BS: Gibt es denn eine Hauptbotschaft hinter „Das Herz der Puppe?“

RS: Ja, vielleicht: die Kinder sollen selbständig sein und keine Angst haben. Sie sollen sich Freunde suchen, auch wenn das nicht kl appen sollte. Und vor allem sie sollen ihre Kindheit genießen und soweit es geht verlängern.

BS: Was hat für Sie eine blaue Seite?

RS: Ich habe eine besondere Sympathie für diese Farbe. Als ich mein Haus gekauft habe, war es braun und schwarz und ich habe es mittelmeerblau und weiß angestrichen. Ich habe dafür eine Anzeige bekommen, aber ich habe es so gelassen. Blau, wie in Griechenland habe ich es gemacht. Blau ist für mich eine Farbe, die sehr mit meiner Herkunft verbunden ist. Blau ist eine fröhliche Farbe, eine energische Farbe und deshalb mag ich blau. Und die blaue Seite heißt nicht die betrunkene Seite, das ist ein Vorurteil. Es hat nichts mit Saufen zu tun, sondern mit der Färberei, aber das ist eine andere Geschichte.

RedakteurRedakteur: Fee, Bona
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