Interview mit Rosalie Thomass (2020)
Im Rahmen des 17. Lübecker Bücherpiraten-Festivals hatten die Blaue Seite-Redakteurinnen Nike und Kathrin die Möglichkeit, die Schauspielerin Rosalie Thomass zu interviewen.
Blaue Seite: Was war die größere Ehre: Gott zu spielen oder die Verleihung des deutschen Schauspielpreises?
Rosalie Thomass: (lacht) Wenn es um Ehre geht, dann ist für mich dieser Preis die größere Ehre. Denn es ist ja ein sehr spezieller Preis, weil man nicht von einer Jury ausgesucht wird, wo dann vielleicht auch Politik eine Rolle spielt, sondern wirklich von Kolleginnen und Kollegen. Und das ist, finde ich, das Schönste, was man in Deutschland bekommen kann. Maria hieß ja nur Gott.
Blaue Seite: Meinen Sie denn, dass man durch das Schauspielern eine objektivere Sicht auf sich selbst gewinnt?
Rosalie Thomass: Wenn man den Beruf so betreibt, wie ich das mache, gewinnt man auf jeden Fall tiefe Einblicke in sich selbst. Das ist etwas, was ich total mag, was ich auch suche und sehr interessant finde, weil man ja immer mal wieder an Punkte kommt, an denen man sich fragt: „Warum handelt die Person so, warum verhält sie sich auf diese Art und Weise?“. Dann grabe ich herum und schaue, wo ich solche Anteile in mir habe. Man geht in der modernen Psychologie davon aus, dass wir verschiedene innere Anteile haben. Ich suche dann immer in mir nach diesem Anteil, deswegen weiß ich sehr viel über mich und vielleicht auch mehr als mir lieb ist. (lacht)
Blaue Seite: Das beinhaltet ja auch die Abgründe. Macht das nicht auch manchmal Angst vor sich selbst? Erschrickt man da nicht manchmal?
Rosalie Thomass: Ne, also ich habe generell nicht so viel Angst im Leben - Ich bin kein ängstlicher Mensch.
Blaue Seite: Wie war denn dann Corona für Sie? Hatten Sie da auch beruflich gesehen keine Angst?
Rosalie Thomass: Ne, also da muss man ja jetzt auch ein bisschen aufpassen, was man sagt. Denn das ist für ganz viele in der Kulturbranche eine ganz existenzielle Bedrohung. Für mich war es gerade noch okay, weil ich in den Jahren davor viel gearbeitet habe. Ich weiß ja, dass mein Beruf immer sehr unsicher ist, Corona hin oder her. Das heißt, ich lege immer ein bisschen was auf die Seite für schlechte Zeiten - was gut war. Das muss man aber können. Wenn du immer wenige Drehtage hast und von der Hand in den Mund lebst, oder eben am Theater super wenig verdienst, dann kannst du ja nicht immer einen Puffer anlegen. Aber Angst generell ist irgendwie ein Persönlichkeitsanteil, der bei mir nicht so ausgeprägt ist. Ich denke immer, wenn ich in eine Notsituation gerate, werde ich das schon merken. Dann muss ich schauen, wie es geht. Aber ich neige nicht dazu, schon vorher zu überlegen, was passieren könnte, wenn alles schiefginge, sondern ich warte erstmal ab, ob nicht vielleicht doch alles gut geht. Ich bin vom Grundcharakter her, glaube ich, sehr optimistisch. Vielleicht auch ein bisschen naiv und ein bisschen gutgläubig, aber ich komm damit echt gut durchs Leben. (lacht) Wenn man sich in mögliche Horrorszenarien reingräbt, dann nimmt das ja total viel Energie.
Blaue Seite: Gab es denn nie einen Moment, an dem sie daran gezweifelt haben, Schauspielerin zu werden?
Rosalie Thomass: So einen richtigen großen Zweifel, nein, das ist wirklich unverschämt, aber das hatte ich wirklich nicht so. Ich dachte, dass es einfach klappen muss, wenn ich alles auf eine Karte setze. Dann gibt es kein Backup, keinen Plan B, kein „Ich habe zur Sicherheit was studiert". Das hätte mich ja auch alles Energie, Zeit und Aufmerksamkeit gekostet, die mir dann wiederum gefehlt hätte, um mich so auf den Beruf zu fixieren. Ich hatte, als ich jung war, viele gute Chancen, die ich auch sehr konzentriert genutzt habe. Mir war das immer sehr wichtig. Ich habe irgendwie gedacht: „kein doppelter Boden - will ich nicht“. Das kann aber natürlich auch schiefgehen. Aber wie gesagt, ich denke immer, dass mir auch was einfallen wird, wenn es dann schiefgeht. Das ist natürlich auch die Unverschämtheit der Jugend - wisst ihr ja selber - dass man noch denkt: “Ach, alles ist möglich, die Welt liegt mir offen, das wird schon klappen”. Und dann wirst du älter und siehst um dich herum Leute, bei denen es überhaupt nicht klappt. Du realisierst: “Oh, es hätte ja auch schiefgehen können - Ist es aber nicht… bisher”.
Blaue Seite: Meinen Sie denn, dass sie von der Filmindustrie in eine bestimmte Schublade gesteckt werden? Also erkennen Sie ein Muster in all ihren Rollen?
Rosalie Thomass: Da finde ich, dass ich wirklich sehr, sehr viel Glück hatte, weil man mir sehr viel Unterschiedliches zugetraut hat. Ich glaube, gerade am Anfang, dass ich nicht in ein typisches Mädchen-Schema reinpasste. Als ich anfing, war ich schon fast 1,80 m groß. Das passt dann schon mal für vieles nicht, z.B. für viele seichtere romantische Sachen, weil die Jungs in dem Beruf relativ oft kleiner sind als ich, und das für unsere Sehgewohnheiten scheinbar immer noch unmöglich.
Wenn es etwas gab wie eine Schublade, dann ist es eher so, dass die Figuren, die ich angeboten bekomme, sehr kraftvoll sind, sehr positiv. Kämpferfiguren, und das finde ich total schön. Das geht dann durch alle Genres, von Komödie über heftiges Drama bis zur Tragikomödie. Ich habe aber auch selbst sehr darauf geachtet, dass ich nicht noch 5mal die gleiche Rolle in mittelgut oder schlecht spiele, wenn ich einmal einen Film mit einer zerrissenen Frau gemacht habe. Ich schaue dann stattdessen: “Okay, was wäre denn dann als nächstes interessant?” und nicht: „Das kann ich jetzt, das mache ich jetzt die ganze Zeit.“
Blaue Seite: Wenn wir schon bei Komödie sind: In einem Interview im März haben Sie gesagt, dass Sie selbst an einer schreiben - hat sich da was getan?
Rosalie Thomass: Ja, ich sitze gerade an der zweiten Fassung für dieses Drehbuch und es gefällt mir richtig gut. (lacht) Es macht richtig Spaß. Ich glaube, das war noch ein Grund, warum mich Corona bisher nicht so hart getroffen hat. Schließlich wusste ich, dass ich das jetzt schreibe. Ich hatte jetzt die Zeit und auch den Fokus, weil ich nicht durch hundert andere Sachen abgelenkt war. Dadurch bin ich gut vorangekommen - viel besser, als ich gedacht hätte, Wenn ich jetzt Gas gebe, dann könnte ich das vielleicht nächstes Jahr schon drehen.
Blaue Seite: Darf man denn schon fragen, worum es geht?
Rosalie Thomass: Das kann ich dir noch nicht sagen. Ich weiß, worum es geht und es wäre hoffentlich auch ein Film, der euch interessiert, aber da bin ich gerade noch vorsichtig.
Blaue Seite: Sehen wir ja dann. Gleich lesen Sie aus dem 35. Mai, also eine Lesung rund um Erich Kästner. Haben Sie auch einen persönlichen Bezug zu diesen Büchern?
Rosalie Thomass: Ich habe gemerkt, dass ich überhaupt nicht mit seinen Büchern aufgewachsen bin. Den 35. Mai kannte ich zum Beispiel nicht. Pünktchen und Anton schon, aber ich bin mit ganz anderen Figuren aufgewachsen und habe ehrlicherweise jetzt auch nicht gedacht: "Oh nein, das habe ich verpasst als Kind!" Als Mädchen kommt man im 35. Mai ja nun so gar nicht vor. Es gibt die Petersilie und das war´s. Das hat meine Mutter echt gut gemacht. Ich bin mit viel Astrid Lindgren und anderen tollen Mädchengeschichten aufgewachsen. Vielleicht hat mich Erich Kästner deswegen auch nicht so erwischt.
Blaue Seite: Hatten Sie denn auch immer ihre Vorbilder in den Büchern?
Rosalie Thomass: Also in den Kinderbüchern fand ich Ronja Räubertochter toll. Und Pippi Langstrumpf finde ich immer noch, auch zum Vorlesen selber, schön. Später kam dann “Die Triologie um den goldenen Kompass” von Philip Pullman, was auch heute noch eines meiner absoluten Lieblingsbücher ist. Da geht es um eine kindliche Heldin, die einen Krieg gegen das Universum führt, gegen andere Welten und höhere Mächte. Das fand ich damals unfassbar spannend. Ich habe das als erwachsene Frau wieder gelesen und es reißt mich immer noch vom Hocker. Ich bin ansonsten überhaupt kein Fantasy Fan, aber diese Bücher sind großartig. Die Menschen darin haben ihre Seele in Form eines „Dämon“, eines lebendigen Tieres, dabei - das fand ich als Kind eine schöne Vorstellung. Diese mutige Heldin Lyra hat mich damals so beeindruckt, dass ich mir damals immer geschworen habe, meine Tochter mal Lyra zu nennen. Das habe ich dann aber doch nicht gemacht, weil ich das später doch irgendwie doof fand. (lacht) Namen, die so stark behaftet sind, die eine so klare Assoziation mit sich bringen, das stell ich mir für ein Kind irgendwie blöd vor.
Blaue Seite: Haben Sie sich im Nachgang zu der Lektüre Gedanken gemacht, welches Tier Sie dabei hätten?
Rosalie Thomass: Ich hätte wahrscheinlich ein sehr fröhliches, sehr kompliziertes Tier. Auf jeden Fall keine Katze. Aber das ist eine gute Frage, da muss ich mal richtig drüber nachdenken. Das Coole ist ja, dass die während der Kindheit ihre Gestalt wechseln können und erst an der Schwelle zur Adoleszenz festigen und dann für den Rest des Lebens in einer Form bleiben. Ich hätte wahrscheinlich in echt ein großes Problem damit, dass sich das irgendwann festlegt. Deswegen mag ich meinen Beruf so gerne - weil ich das Gefühl habe, dass ich nie so richtig erwachsen werden musste. Ich habe ja einen Beruf, wo man immer noch Kinderkram macht. Wo man spielt, und Freude daran hat, sich Dinge vorzustellen, in andere Welten abzutauchen und dann sechs Wochen lang so zu tun, als wäre man eine andere Person. Das finde ich herrlich.
Blaue Seite: Schlüpfen Sie denn auch im Privatleben in eine Rolle, die Sie gerade länger in einem Film haben? Hören die Musik, die diese Rolle hört, und so weiter?
Rosalie Thomass: Ja, das mache ich schon. Also, spontan hätte ich jetzt nein gesagt, mein Mann dagegen wahrscheinlich ja. Es ist schon so, dass das immer ein bisschen auf mein Leben abfärbt. Bevor ich anfange zu drehen, sehe ich die Welt durch die Augen der Figur und nehme vieles anders wahr. Das kennt ihr vielleicht auch, wenn euch ein Thema im Leben sehr beschäftigt - wenn man zum Beispiel irgendwann anfängt sich mit Kindern zu beschäftigen, sieht man plötzlich nur noch Kinderwägen. Die Wahrnehmung verändert sich einfach und irgendwie kommen die Geschichten, die man braucht, dann immer wie kosmisch auf einen zu.
Blaue Seite: Bleibt dann auch manchmal was zurück?
Rosalie Thomass: Bleibende Schäden? (lacht) Hmm, ich glaube schon. Es bleibt die Geschichte. Zum Beispiel gibt es einen total intensiven, schönen Fernsehfilm, den ich gemacht habe. Der heißt “Eine unerhörte Frau”. Da geht es um eine Frau, und ihr Kind - es ist auch eine wahre Geschichte - keiner glaubt ihr, dass ihr Kind krank ist. Sie rennt von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus, es dauert ewig, bis ihr jemand glaubt. Schließlich hatte das Kind einen Hirntumor. Es ist schon kurz vor knapp, als sie es endlich feststellen. Und da bleibt schon was haften. Du lernst diese Frau kennen, die ihre Geschichte aufgeschrieben hat, bekommst die ganze Wucht dieses Dramas mit. Wenn der Film rauskommt, bekommst du ganz viele Nachrichten von Leuten, die sagen: “Wir haben ähnliches erlebt, danke für diesen Film, er hat mich getröstet.” Du hörst diese vielen Geschichten und klar bleibt da dann auch etwas zurück. Vielleich schaust du dann, wenn dein Kind krank ist, ob du dem Arzt oder der Ärztin wirklich vertraust. Oder als ich in Fukushima war, wo wir „Grüße aus Fukushima“ gemacht haben, mitten im Katastrophengebiet: natürlich nimmst du davon etwas mit nach Hause. Ich war auch vorher schon öko und gegen Atomkraft, aber nach so etwas bleibt ein ganz tiefes Gefühl der Dankbarkeit, weil wir in einem Land leben, wo es zufällig fast nie Naturkatastrophen gibt. Das ist Zufall. Dafür können wir nichts. Das ist einfach Glück. Da kann man einfach dankbar sein und es genießen. Das sind sehr starke Eindrücke, die ich auch nicht vergesse. Es bleibt manchmal auch eher etwas von dem Drumherum hängen, als von der Geschichte selbst.
Blaue Seite: Wie oft denken sie denn noch an Fukushima und die Dreharbeiten dort? Das war ja ein Film, der ganz anders war als viele andere.
Rosalie Thomass: Da denke ich schon viel dran. Auch wenn das paradox klingt, weil wir in einem Krisengebiet waren und die Menschen ihre unfassbar traurigen Geschichten mit uns teilten: das war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Sie erzählten, wo das Haus stand, wo wir gedreht haben, und dass das früher eben ein Ort direkt an der Küste war. Der Ort ist halt einfach weg. Und das war noch nicht aufgeräumt, obwohl es bereits ungefähr fünf Jahre nach der Katastrophe war. Die sind immer noch dabei, das alles aufzuräumen. Und wenn man dort spazieren ging, lagen dort Zahnbürsten, Kuscheltiere – das war gespenstisch, wie in einem Horrorfilm. Man sieht diese Leben, die dort gelebt wurden und die jetzt beendet sind. Obwohl das so heftig war, hat es mir trotzdem viel gegeben, weil ich so tief spüren konnte, wie gut es mir geht. Wie viel Glück ich habe und was mein ganzes Leben für ein Geschenk ist. Und wir hatten da auch als sehr kleines Team einfach echt eine sehr intensive, schöne Zeit.
Blaue Seite: Besteht da eigentlich noch Kontakt zu einigen Leuten?
Rosalie Thomass: Ja, Doris Dörrie zum Beispiel, die Regisseurin des Films, ist eine der ersten, die mein Drehbuch gegengelesen und Feedback gegeben hat. Klar, es verbindet schon sehr, sechs Wochen an so einem Ort zu sein. Dort war nichts außer dem Autobahn-Motel, in dem wir wohnten, und einem kleinen Shop gegenüber. Da lernst du einander schon gut kennen. Und ich glaube, dass das auch wichtig in dem Beruf ist, in dem man so viel reist und viel alleine ist. Du musst dich irgendwie selber mögen, und du musst mit dir selber eine richtig gute Zeit haben können, und das kann ich. Es ist mir auch egal, wo du mich hinsetzt, mir geht es immer gut. Das ist schon wichtig, weil man sonst traurig oder einsam wird und irgendwann leidet. Bei uns gab es auch nur recht ekliges Tex-Mex-Essen, nicht die feine japanische Küche, weil das eigentlich ein Container-Hotel für die Arbeiter war, die dort aufräumen. Es war also sehr "einfach", und trotzdem war es einfach schön.
Blaue Seite: Stichwort "ekliges Essen": Was waren die intensivsten Eindrücke, als Sie zurückkamen?
Rosalie Thomass: Als ich zurückkam, fand ich es einfach krass, dass es keine Erdbeben gibt. In den sechs Wochen, in denen wir dort waren, habe ich fünf Erdbeben erlebt. Eine völlig neue Erfahrung für mich, ich fand das wirklich richtig spooky. Die Japaner und Japanerinnen aus dem Team zucken da nicht mit der Wimper. Beim Mittagessen saßen wir einmal in einem kleinen Restaurant, und plötzlich ging es damit los, dass die Schüsseln zitterten. Und ich dann *panisches Atmen* "Was ist nochmal der Leitfaden? Was muss man nochmal machen?” Ich hatte mich - weil ich ja nicht drüber nachdenke, was schlimmes passieren könnte- damit nie wirklich beschäftigt. An den japanischen Handys summen die Alarmapps. Die Japaner und Japanerinnen essen aber einfach stur weiter, weil sie wissen, dass das Beben “nur” Stärke soundso hat.
Und dann gab es eins in Tokio, wo wir im Auto waren und ich auch einen richtigen Schreck bekommen habe. Ich hatte extreme Angst wegen dieser hohen Häuser, aber die sind ja so gebaut, dass sie nicht gleich umfallen. Wenn du nicht damit aufwächst, fehlt dir die Routine damit. Als ich zurückkam, fand ich es irre, zu wissen: “Ah, hier bebt die Erde nicht“.
Blaue Seite: Wie wurde das Erdbeben im Film eigentlich gedreht? Wurde dann einfach darauf gewartet?
Rosalie Thomass: Nein, das macht man nicht. Das sind die Situationen, die ich mit am lustigsten, aber auch am schwierigsten finde: An einem Ort, wo alles komplett ruhig ist, so zu tun, als gäbe es ein Erdbeben. Und du kommst dir total bescheuert vor, weil du so “Ein Erdbeben, ein Erdbeben!” rufst, während alle anderen dir zugucken und ganz ruhig sind. Das kostet mich immer ein bisschen Überwindung, aber es macht mir auch echt Spaß. Beispielsweise bei dem Dreh zu „Jackpot“, letzten Winter in Berlin: In dem Film geht es eigentlich die ganze Zeit um Todespanik, weil meine Figur Maren einem Bösewicht Geld geklaut hat, der sie dann natürlich verfolgt. Sie will sich und ihren Geliebten retten und dieses Geld mitnehmen. Es geht um Leben und Tod. Ich genieße den Spaß - weil ich zum Beispiel mit meinem Kollegen, mit Friedrich Mücke, im Auto saß und wir die ganze Zeit gespielt haben wie die Kinder. Im Film waren das Schießereien und Todesangst. Irgendwann denkst du, du bist bekloppt, weil alles in Wirklichkeit total ruhig ist. Jemand sagt: “Und bitte” also gehst du in die Vollen: "Oh mein Gott, oh mein Gott, Schießerei!!" Schließlich unterbricht jemand und sagt: “Ihr müsstet mehr in die Richtung gucken, weil da auf der Windschutzscheibe dann ein Schuss kommt, den wir nachträglich einbauen.” Das meine ich mit kindlich. Wir sind dann wie Kinder, die einfach so tun und sich mit Begeisterung reinwerfen. Die anderen drumherum müssen den erwachsenen Job machen.
Blaue Seite: Gab es mal eine Rolle, die Ihnen völlig fremd war? Dieses komische Gefühl, von wegen “Das fühlt sich irgendwie falsch an.”?
Rosalie Thomass: Nee, wenn dieses Gefühl nicht verschwindet, dann hätte ich ja komplett versagt. Das ist schon das Ziel, dass ich die Rolle in ihrer ganzen Tiefe verstehe, bis wir anfangen zu drehen. Was mir wirklich sehr fremd war und wo der Weg sehr weit war: meine Rolle in "Das Zeugenhaus". Der Film spielt während der Nürnberger Prozesse, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und da habe ich eine reale historische Figur gespielt, Henriette von Schirach. Sie war die Frau von Baldur von Schirach, der die Hitlerjugend aufgezogen hat - sozusagen der Chef der Hitlerjugend, überzeugter Nationalsozialist. Meine Figur hat Sachen vom Stapel gelassen, die natürlich vollkommen gegen meine Überzeugung gehen. Und da war der Weg ein bisschen länger. Erst mal in die Zeit einzutauchen, erst mal zu verstehen: “Wo kamen sie her?” Die haben schon einen Krieg erlebt. “Wie war das damals für Frauen? Wie sind die aufgewachsen? Welchen Zugang hatten sie zu Informationen, zu Bildung? Welchen Einfluss hatten sie?“ Die Unterschiede zu meiner eigenen Situation zu verstehen ist wichtig. Und dann auch zu gucken: was ist das für ein Mensch? der die Realität so stark ausblendet, dass man sagt: “Nein, das mit den Juden war bestimmt nicht so schlimm.” Denn meine Henriette würde sagen, dass sie ein ganz gutes Herz hat. Das war echt eine verrückte Reise, an den Punkt zu gelangen: Sie hat total recht. Es war aber besonders wichtig da auch wieder auszusteigen.
Blaue Seite: Wie haben Sie sich in diesem speziellen Fall weiter eingearbeitet?
Rosalie Thomass: Ein Teil besteht gerade bei historischen Figuren darin, dass ich lese, um zu recherchieren. Das mache ich gerne. Das habe ich auch schon immer gerne gemacht, auch als Jugendliche. Es gibt zum Beispiel auch ein Buch über Henriette von Schirach. Außerdem arbeite ich mit einem Coach, der darauf spezialisiert ist, mit Schauspielern und Schauspielerinnen Wege zu finden, die Figur in der Tiefe zu verstehen. In diesem Fall war es schon sehr wichtig, mit ihm zu arbeiten, weil ich gemerkt habe, dass ich sozusagen nicht alleine in diesen finsteren Keller gehen will. Da ist es gut, dass jemand dabei ist, der aufpasst, dass man nicht verrückt wird.
Blaue Seite: Hatten Sie schon mal Albträume?
Rosalie Thomass: Das hatte ich, als ich jung war. Als ich 17 war, hatte ich meine erste Hauptrolle. Ein Krimi, „Polizeiruf München“. Es ging um eine junge Prostituierte, die einen Mord begangen hat. Die findet aber eigentlich, dass sie daran nicht so richtig schuld ist. Das war echt heftig. Fast der ganze Film ist so aufgebaut, dass man eigentlich weiß: Sie war es. Im Zentrum stehen die Verhöre zwischen dem Kommissar und ihr, der irgendwie an sie rankommen, die Wahrheit aus ihr herausbekommen muss. Das hat mich einfach eiskalt erwischt, weil ich erst 17 Jahre alt war und noch gar keine Technik hatte - sondern wie bei einem Köpper einfach reingesprungen bin. Ich habe in der Zeit schlecht geschlafen und wirklich richtig heftige Albträume gehabt. Ich weiß noch, dass unser Kameramann irgendwann sagte, dass er auch schlecht träumt. Das hat mich dann etwas getröstet. Er war ja wesentlich älter und erfahrener als ich und hat als Kameramann „nur zugeguckt“. Also, ich meine nicht nur zugeguckt, er hat sehr interessiert zugesehen, das spürt man, und er hat sehr viel Anteil genommen. Aber ich dachte: wenn sogar er Albträume hat und ihn das so mitnimmt, dann ist das erst recht okay, wenn es bei mir so ist. Aber das ist inzwischen besser geworden, weil ich weiß wie ich mich schützen kann und trotzdem tief einsteigen. Also, wenn ihr es genau wissen wollt: Bei diesem Film, “Jackpot”, den ich letztes Jahr gedreht habe, hat meine Figur unglaubliche Angst, ihren Partner zu verlieren. Das passiert mir dann manchmal, dass ich plötzlich Verlustängste spüre - was ist denn, wenn meinen Liebsten was passiert? Ich muss erst realisieren: Warte mal, du beschäftigst dich gerade den ganzen Tag damit, dass du Todespanik hast, dass dein geliebter Partner stirbt. Klar macht das was mit dir. Wenn du das ein paar Wochen lang machst, dann ist es auch cool, wenn es irgendwann vorbei ist. Und dass man sich sagen kann: das ist nicht real, nur eine Vorstellung.
Blaue Seite: Und was ist dann eine der wenigen Situationen, wo sie doch Angst haben?
Rosalie Thomass: Das finde ich sehr interessant, dass wir immer sagen “Ich habe Angst” oder “Ich bin traurig”. Eigentlich ist das ja nicht so richtig das, was stattfindet. Das ist ja eigentlich ein Anteil in einem, der auf die eine Angst anspringt. Oder wenn man als Kind etwas erlebt hat, wo man traurig war und deswegen etwas in einem anspringt. Man besteht ja aus ganz vielen Seiten, glaube ich. Das ist das Schöne: Dann verbringe ich mal ein paar Wochen mehr mit der einen Seite von mir und dann sage ich: “Schön war’s, aber jetzt habe ich auch keinen Bock mehr, dann gehe ich wieder zurück zu der, die ich hauptsächlich bin.” Ich sage mal, der private Mensch, der ich bin, dem geht es ja gut. Es geht bei uns gerade nicht um Leben und Tod, zum Glück, und deswegen ist alles okay. Dann habe ich eigentlich keine Angst.
Blaue Seite: War das ein weiter Weg, sich diese Sicherheit der eigenen Persönlichkeit zu erarbeiten? Sie wirken gerade so, als wüssten Sie sehr genau, was Sie für ein Mensch sind. Wir sind ja gerade in einer Phase, wo das irgendwie gerade erst ausgelotet wird und da wollte ich fragen, ob das quasi ein langer Weg war…?
Rosalie Thomass: Ach, ich weiß nicht, ob das irgendwann aufhört. Also, da möchte ich euch jetzt keine Hoffnung machen. Ich glaube tatsächlich, wenn man sich dazu entscheidet, sich dafür zu interessieren, wer man ist... Das ist ja schon eine Entscheidung, das machen ja viele auch gar nicht. Man kann sich ja auch, warum auch immer, dafür entscheiden, komplett unreflektiert durch die Welt zu gehen. Donald Trump als Extrembeispiel. Das ist halt scheiße, weil man dann kein cooler Mensch ist. Ein Teil der zur Sicherheit beirträgt, ist einfach, dass die Zeit vergeht. Man wird älter, das hilft total. Also ich finde es herrlich, weil du irgendwann merkst: “Ah, cool, ich werde plötzlich ernst genommen! Woran liegt das denn? Das war früher nicht so, obwohl ich die gleichen Sachen gesagt habe.” Das ist wahrscheinlich so eine Mischung aus "Man wird einfach älter" und "Man erlebt etwas". Man wird dadurch sicherer, dass man sich selbst erlebt in der Welt. Irgendwann bist du nicht mehr nur in der Schule, wo du immer die gleichen Leute siehst und wo du dann ja auch irgendwann durch dein Umfeld festgelegt bist. Das ist dann irgendwann "Du bist die Coole, "Du bist die Schüchterne", "Du bist die Verrückte" oder so. Und dann kannst du gucken, wenn du aus diesem System Schule raus bist, was für Umfelder du dir dann selber aussuchst und wie du dich da definierst. Das hat man ja eigentlich letzten Endes selber in der Hand. Und dadurch, dass ich natürlich in dem Beruf von 16, 17 Jahren an immer wieder mit vielen komplett fremden älteren Leuten zu tun hatte, hat sich das natürlich geformt. Man lernt viel über sich und sieht viel bei anderen, wie man nicht werden möchte oder was einem gefällt, einen inspiriert. Oder man fragt bei erfahreneren Kolleginnen, wie sie bestimmte Sachen machen. Und dadurch wächst man einfach. Aber ich glaube, wenn man da Bock drauf hat, das zu lernen, kommt es von alleine. Ein bisschen Geduld braucht man, vielleicht Liebe. Irgendwann stellst du dann im Nachhinein fest: Häh, ich war eigentlich immer voll cool. Warum habe ich mich denn immer so gequält? Oft denkst du: ich müsste ein bisschen mehr so oder so sein. Oder: ob ich dem jetzt gefalle... Scheiß mal drauf, weil es ist eigentlich total egal. Es ist nur wichtig, dass du dich selber magst. Das kannst du nur selber machen. Also, das ist im guten Sinne gemeint, nicht im Sinne von “Ich verhalte mich wie die Axt im Walde”. Sondern ich glaube tatsächlich, mit dem bloßen Zeitvergehen und Älterwerden kommt einfach nur Freiheit.
Blaue Seite: Dann haben wir noch immer eine Abschlussfrage, die bekommt jede Person, die bei uns interview wird, gestellt. Woran denken Sie bei einer blauen Seite?
Rosalie Thomass: Ans Meer? Ans Meer, ans Meer, ans Meer.
Blaue Seite: Das ist schön.
Rosalie Thomass: Ich kriege gleich Sehnsucht nach dem Meer...
Blaue Seite: So weit ist es ja nicht weg, nur eine halbe Stunde.
Rosalie Thomass: Ja, das stimmt. Ihr habt es hier um die Ecke. Wir haben dafür die Berge. Auch schön.
Blaue Seite: Sind Sie morgen Abend noch hier?
Rosalie Thomass: Ich fahre morgen ganz früh.
Blaue Seite: Dann müssen Sie es heute Nacht machen.
Rosalie Thomass: Das wäre natürlich schon cool. Das Blau in den Bergen gefällt mir natürlich auch gut, der Himmel in den Bergen ist unfassbar schön.
Blaue Seite: Aber wenn Sie sich entscheiden müssten, Berge oder Meer?
Rosalie Thomass: Ja, das ist eine sehr schwierige Frage. Am besten wären Berge am Meer...
Blaue Seite: In Italien soll es das geben.
Rosalie Thomass: Ich bin wirklich sehr, sehr, sehr gerne in den Bergen. Deswegen lebe ich auch wieder in Bayern, weil mir das total gefehlt hat. Ich war ja lange in Berlin. Da kannst du lange suchen, es gibt einfach keine Berge in Berlin. Ich habe es wirklich überall probiert. Das ist natürlich schon toll bei uns, weil du zwei, drei Stunden nach Südtirol fährst und das ist einfach unfassbar schön. Wenn du noch weiter fährst kommst du auch irgendwann ans Meer. Die Weite ist ja das Tolle. Auf die Berge musst du halt rauf gehen. Das mag ich natürlich, die Arbeit und die Herausforderung. Ich mag das einfach, ich mag Arbeit. Also, wenn ich etwas tun muss. Und am Meer liegst du nur rum, da werde ich nach zwei Tagen komplett gaga.
Rosalie Thomass: Ihr habt hier auf jeden Fall wesentlich interessantere Fragen gestellt als eure Kolleg*innen von den großen Medien, die dann immer fragen: “Frau Thomass, wie machen Sie das? Familie und Beruf?”
Und ich frage zurück: wie viele Männer fragt ihr das? Gar keinen! Also: Es war sehr schön, vielen Dank!
Blaue Seite: Dankeschön für das Interview!