Interview

Interview mit Ruta Sepetys

Die Blaue-Seite-Redakteure Julia und Charlotte hatten die Gelegenheit, die amerikanische Autorin Ruta Sepetys zu ihrem Buch "Salz für die See" zu interviewen.

Blaue Seite: Bei Ihrem Buch „Ein Glück für immer“ hatten Sie beim Schreiben immer ein Opernglas bei sich. Gab es so einen Gegenstand auch bei „Salz für die See“?

Ruta Sepetys: Es hab einen sehr besonderen Gegenstand bei „Salz für die See“: Während meiner Recherche habe ich in Museen mehrere Briefe als Flaschenpost gefunden. In einer Flasche war ein Brief auf Deutsch, von einer Frau. Darin stand, sie sei auf einem Flüchtlingsschiff während der Evakuierung und sie schätze, dass über 7000 Leute an Bord waren, die sich wie Ölsardinen drängten. Sie wisse nicht, wo ihr Ehemann war, sie sei mit ihren Kindern unterwegs, sie wisse nicht, wohin das Schiff unterwegs war und ob sie überleben würde. Und am Ende schrieb sie: „Und ich weiß nicht, ob irgendwer je meine Geschichte kennen wird.“ Diese Zeilen haben mich sehr tief berührt. Die Leute fragen mich oft: „Warum interessierst du dich so für unbekannte Geschichten, warum verbringst du so viel Zeit mit Recherche?“ Der Brief hat gezeigt, dass diese Leute alle eine Geschichte haben. Und sie dachten, dass nie irgendjemand diese Geschichte erzählen würde. Aber ich hatte die Chance, genau das zu tun. Diese Flaschenpost war also mein spezieller Gegenstand.

Es gab viele solcher Briefe. Dieser war natürlich in einem Museum ausgestellt, deshalb konnte ich sie nicht mitnehmen. Aber ich habe eine andere Flaschenpost gefunden, die ich einem Sammler abgekauft habe. Sie steht auf einem Regal in meinem Büro. Immer, wenn ich sie anschaue, denke ich daran, dass diese Geschichten irgendwo da draußen sind – Flaschen, die noch im Wasser treiben.

Blaue Seite: Was hat Sie im Laufe Ihrer Recherche am meisten überrascht? Diese Flaschen?


Ruta Sepetys: Nein, mich hat am meisten überrascht, dass es diesen Teil unserer Geschichte gab und ich fast nichts darüber wusste. Und als ich angefangen habe, intensiv zu recherchieren, habe ich mich immer wieder gefragt: Warum? Warum gibt es Teile der Geschichte, die weltweit bekannt sind, während andere versteckt bleiben? Die Mühen und der Kampf und das Elend dieser Familien, denen die Evakuierung vor Hitler so lange verboten wurde, bis es zu spät war, gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf: Kleine Kinder, die ihre Eltern verloren hatten. Der Gedanke an diese Kinder bewegt mich immer noch. Wer waren diese Kinder, die alles verlassen mussten, das sie kannten und liebten, und denen keine Wahl gelassen wurde?

Blaue Seite: Ein anderes Detail, das mir aufgefallen ist: das Klavier, das im Ballsaal steht, sogar noch, als das Schiff untergeht. Gab es dieses Klavier wirklich?

Ruta Sepetys: Ja. In einem Text habe ich gelesen, dass das Schiff sich so schnell zur Seite neigte, dass das Klavier durch den Raum und über ein Kind rollte, das in seinem Weg war. Als das Klavier dann gegen die Wand schlug, gab es ein Geräusch von sich, fast wie ein Schrei. Und als ich das las, habe ich gedacht: Sogar das Klavier hatte Schmerzen. Nicht nur das Kind, sondern auch das Klavier hat geschrien und das hat mich sehr beeindruckt, deshalb wollte ich es mit in das Buch aufnehmen.

Blaue Seite: Ich schreibe selbst und habe immer wieder Probleme damit, die richtigen Namen für die Charaktere zu finden. Woher kommen Ihre Ideen, wenn Sie Figuren benennen?

Ruta Sepetys: Ich glaube, dass Namen für einen Autoren sehr wichtig sind und dass sie auch für den Leser wichtig werden, wenn er eine Figur mag. Auch wenn es ein sehr schlechter Charakter ist, färbt das auf den Namen ab. Deshalb sind Namen von großer Bedeutung. Wie ich den Namen Florian gefunden habe, ist tatsächlich eine interessante Geschichte. Vor sieben Jahren war ich auf Lesetour in Deutschland für mein erstes Buch „Und in mir der unbesiegbare Sommer“. Ich habe in einer Schule signiert, und einer der Jungs dort hatte einen Sticker mit „Florian“ auf seinem Buch. Ich habe ihn gefragt: „Heißt du so?“ Und er meinte: „Ja!“ Daraufhin meinte ich: „Das ist ein echt cooler Name.“ Und er sagte: „Na, warum schreiben Sie mich nicht in ein Buch?“ Da habe ich geantwortet: „Okay, werde ich machen.“ Eine Sekunde später habe ich dann gedacht: Was habe ich da bloß gesagt?, aber er sah so hoffnungsvoll aus und fragte: „Wirklich?“ Da habe ich gesagt: „Na klar, mach‘ ich.“
Na ja, dann dachte ich natürlich: „Wozu habe ich mich hier gerade verpflichtet? Denn mein Buch spielt im Jahre 1945 und Florian ist ein eher moderner Name. Deshalb musste ich mich erst hinsetzten und recherchieren, um einen Grund zu finden, diese Figur Florian zu nennen. Wenn Joana ihn also im Buch fragt, was das für ein Name ist, erzählt er ihr, dass seine Mutter ihn nach einem Maler benannt hat. Denn der Name passt eigentlich nicht in die Zeit. Aber ich hatte es dem Jungen in München versprochen. Und seine Lehrerin hat das Buch gelesen und meinte nur: „Sie haben es tatsächlich getan!“ Sie hat ihn angerufen (er studiert mittlerweile schon), und wenn ich im März wieder hier bin, werde ich Florian wieder treffen – was mich unglaublich freut. Daher also Florian.

Joana war eine Figur in meinem ersten Buch – ich hoffe das ist jetzt kein Spoiler für die, die es noch lesen wollen. Sie ist die Cousine von Lina aus „Und in mir der unbesiegbare Sommer“. Ich habe sie also als Charakter einfach übernommen. Emilia war der Name meiner Urgroßmutter, sie war sehr selbstlos und ich fand, dass das Emilia und auch den Geist Polens gut widerspiegelte. Und Alfred – wisst ihr, ich wollte einfach einen Namen haben, der historisch korrekt war. Deshalb habe ich ein paar Militärakten durchgesehen und mich für Alfred entschieden.


Blaue Seite: Das bringt mich zu meiner nächsten Frage: An einer Stelle wird erwähnt, dass Alfred ein Soziopath ist. Warum haben Sie sich dazu entschieden, ihn so zu gestalten?


Ruta Sepetys: Da sind wir wieder bei dem Thema: Was der Autor sich denkt und was der Leser sieht, sind zwei vollkommen verschiedene Sachen. Und der Leser hat immer Recht. Ich weiß, dass mir da viele widersprechen werden und sagen, dass der Autor Recht hat. Aber das ist nicht so. Als Autor weiß ich, was ich rüberbringen will: manchmal schaffe ich es aber nicht, das zu vermitteln.
Ich wollte aus Alfred eine Studie über Aufmerksamkeit machen. Ich wollte zeigen, was mit einem Jungen passiert, der immer ausgeschlossen wird, keine Freunde hat – der gewissermaßen unsichtbar ist. Was passiert, wenn man ihm eine Uniform gibt und er auf einmal sehr sichtbar ist? Auch in seinem eigenen Selbstverständnis? Bei Alfred wurde ich auch vom jungen Adolf Hitler inspiriert. Der hat sehr großspurige Briefe an ein Mädchen namens Stephanie geschrieben, aber nie abgeschickt. Hitler hatte eine schwierige Beziehung zu seinem Vater, genau wie Alfred. Und er war von den Händen anderer Leute fasziniert: Er hatte ein Album, in dem er Fotos und Zeichnungen von den Händen berühmter Leute aufbewahrte. Der Ausschlag, den Alfred an den Händen kriegt, ist also ein Bezug auf Hitler. Seine Erkennungsnummer, von der er Hannelore schreibt, ist Hitlers Geburtstag.
Ich wollte, dass der Leser sich fragt, ob er ein Soziopath ist, wie Florian im Buch behauptet. In den USA gibt es eine Theorie zur Erkennung von Soziopathen, den McDonald-Trial. Demnach sollen spätere Soziopathen im Alter von 5 Jahren gerne am Feuer sitzen, regelmäßig ins Bett urinieren und Tiere quälen. Deshalb habe ich Alfred zwei dieser Merkmale zugeschrieben – weil ich ihn nicht zum Soziopathen machen wollte. Ich wollte verdeutlichen, dass es für ihn in Ordnung ist, Schönheit in Gefangenschaft zu halten (deshalb hat der die Schmetterlinge an der Wand). Aber die LeserInnen sollten sich fragen: Ist das ein Junge, der verzweifelt nach einer Identität und das Gefühl von Macht sucht? Und hat der Krieg ihn böse gemacht, oder trug er die Bosheit schon vorher in sich? Ich wollte, dass Alfred zum Nachdenken anregt. Ich dachte nicht, dass ich ihn zum Soziopathen gemacht habe – aber wenn du das so siehst, werden dir bestimmt viele andere zustimmen.

Blaue Seite: Ich habe ihn nicht unbedingt als Soziopathen gesehen. Es wurde von Florian erwähnt und ich konnte ihn nur sehr schwer einordnen.

Ruta Sepetys: Nun, es war gar nicht meine Absicht zu viele Fragen entstehen zu lassen. Ich glaube, dass wir Menschen oft sehr schnell beurteilen, sie in bestimmte Schubladen stecken. Aber meistens gibt es da sehr viel mehr, das wir nicht kennen, eine große Grauzone. Und viele LeserInnen waren sehr enttäuscht, dass Alfred am Ende nicht versucht, Emilia zu retten. Im Gegenteil: Er versucht, sie vom Floß zu stoßen und sie umzubringen. Das ist eine sehr faszinierende Diskussion, die da stattfindet.

Blaue Seite: Welche Szene haben Sie zuerst geschrieben?

Ruta Sepetys: In allen meinen Büchern ist die erste Zeile, die ich geschrieben habe, tatsächlich die erste Zeile des Buches geblieben. Jede andere Zeile wurde wahrscheinlich mal verändert. Aber die erste Zeile, „Die Schuld ist ein Jäger“ in Joanas Kapitel, war das Erste, was ich geschrieben habe und sie blieb unverändert. Es war mir wichtig, dass die erste Szene die Fluchterfahrung verdeutlicht, nicht schon das Schiff. Euch ist vielleicht aufgefallen, dass sich Dreiviertel des Buches um die Flucht drehen und nicht um den Untergang des Schiffes, das war mir sehr wichtig. Ich glaube, dass der Untergang zwar ein Teil der Geschichte ist. Aber der Flüchtlingszug war etwas, worüber ich unbedingt schreiben wollte.

Blaue Seite: Wie sieht Ihr Schreibtisch aus? So chaotisch wie diese Geschichte oder so geradlinig wie die anderen?


Ruta Sepetys: Das ist eine sehr gute Frage, das hat mich noch niemand gefragt. Ich glaube, für manche Autoren ist ihre Arbeitsumgebung sehr wichtig. Aber ich habe mehrere Tische, an denen ich schreibe. Mein Schreibtisch zu Hause ist aufgeräumt, nur an den Seiten sind überall Stapel von Büchern, die ich für die Recherche verwende. Mein Computerbildschirm ist der Mittelpunkt und der Rest ist ziemlich ordentlich. Wir haben außerdem eine kleine Hütte am See und mein zweiter Schreibtisch ist der Küchentisch dort. Da steht nichts drauf außer meinem Laptop und vielleicht ein paar Notizbüchern und vom Fenster aus sieht man das Wasser. Und mein dritter Schreibtisch ist der „Unterwegsschreibtisch“: Das kann der Sitz in einem Flugzeug sein oder ein Hotel. Den Unterwegsschreibtisch mag ich am wenigsten.


Blaue Seite: Am Ende des Buches bedanken Sie sich bei vielen Leuten und Sie listen auch eine ganze Menge Bücher auf, eines von Günter Grass beispielsweise oder, was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, ein Buch über Herrenschuhe. Haben Sie für diesen einen Charakter des Schuhpoeten wirklich das ganze Buch gelesen?


Ruta Sepetys: Nicht nur das eine. Ja, ich habe diesen Charakter, den Schuhpoeten, und sein Mantra ist „Die Schuhe erzählen die Geschichte“. Er hat seinen eigenen Rhythmus und um diese Figur zu beschreiben, musste ich einfach wissen, wie er an seine Arbeit herangehen würde. Mental, emotional, spirituell – was fließt alles in die Herstellung eines Paars Schuhe? Ich habe so viel gelernt, und wie der Poet im Buch sagt: Man kann viel über einen Menschen herausfinden, indem man sich seine Schuhe anschaut. Ich habe mich auch mit Schustern unterhalten und Einzelteile von Schuhen angeschaut.

Blaue Seite: Sie sagen, dass Sie die Geschichte von denen erzählen wollen, die nie eine Stimme hatten. Gibt es einen Ort oder mehrere Orte, die die LeserInnen Ihres Buches aufsuchen sollten?

Ruta Sepetys: Wunderschöne Frage. Ja! Ich möchte, dass sie an den Küchentisch ihrer Großeltern gehen, sich hinsetzen und fragen: „Was ist eure Geschichte?“ Denn meine Bücher sind ausgedacht. Natürlich basieren sie auf tatsächlichen Begebenheiten und ich habe unzählige Leute interviewt und recherchiert und all diese Einzelteile in die Figuren hineingeschrieben – aber sie sind ausgedacht. Doch jeder Mensch hat eine wahre Geschichte und eine eigene Erzählweise. Selbst wenn sie ein bisschen ausgedacht ist – solche Geschichten werden in der Familie ja von Person zu Person weitergegeben und hier und da spielt die Fantasie mit hinein. Aber die eigene Familiengeschichte zu kennen und darüber zu sprechen, stärkt auch den Zusammenhalt. Stellt euch vor, dass Großeltern bestimmte Verhaltensweisen haben und wir sie eigentlich ziemlich seltsam und nervig finden. Aber wenn man dann mehr über ihre Geschichte erfährt, gewinnt man auch mehr Einsicht, warum sie so sind – und auch, wer man selbst ist. Ich bin in unserer Familie die einzige, der im Auto, Zug, Flugzeug oder Schiff immer schlecht wird – für eine Autorin ist das ein echter Fluch – und wusste nicht warum. Dann habe ich meine Verwandten in Litauen besucht und die sagten: „Oh, wie deine arme Großmutter! Bei der war es so schlimm, dass sie nur Autos vorbeifahren sehen musste und schon wurde ihr schlecht.“ Ob das nun wirklich der Grund war oder nicht: Es hat mir Halt gegeben und half mir, mich selbst besser zu verstehen.

Also sollten alle LeserInnen durch ihr Familienarchiv gehen. Wenn sie keines haben, können sie vielleicht eins zusammenstellen. Ich muss zugeben, dass das ein bisschen eigennützig ist, denn solche Familienarchive sind großartig für mich, noch mehr als ein Sachbuch. Wenn jemand sagt: „Oh, ich glaube meine Oma hat während der Evakuation Tagebuch geführt“, kommt mehr Wahrheit in das Buch als wenn ich mich durch Fakten und Sachbücher informiere. Also setzt euch an euren Küchentisch und redet mit euren Eltern und Großeltern.

Blaue Seite: Für all Ihre Bücher sind Sie viel gereist und haben bestimmt viele Spezialitäten aus verschiedenen Ländern probiert. Gab es etwas, das Sie besonders mochten?

Ruta Sepetys: Ooooh, zuallererst: Ich liebe Essen. Wenn ich früher Geschenke bekam, auch von Jungs, habe ich nie auf Blumen, sondern immer auf Essen gehofft. In Deutschland gibt es diese … Es sind nicht wirklich Gummibärchen, die sind in so einer rosa Tüte und sehen aus wie Hasen …

Blaue Seite: Ach, diese Katjes-Häschen.

Ruta Sepetys: Und als ich in Berlin war, habe ich eine kulinarische Tour gemacht. Das klingt total albern, aber dieser Herr hat mich herumgeführt und wir haben alle möglichen Würstchen und Biere probiert. Schließlich sind wir in einen Laden gegangen, in denen es nur Gummibärchen gab und er sagte zu mir: „Die müssen Sie probieren.“ Und ich habe gesagt, dass ich Gummibärchen und Haribo nicht besonders mag, aber wow: Die in dem Laden habe ich geliebt. Zu dem Zeitpunkt war es mir peinlich, den ganzen Laden leerzukaufen. Deshalb habe ich nur eine Tüte gekauft und bin dann jeden Tag wieder hingegangen und habe noch eine Tüte gekauft. Als ich dann wieder zuhause war, habe ich sie meinen Neffen und Patenkindern gegeben und sie habe sie auch geliebt. Es war wirklich seltsam, denn eigentlich bin ich keine Naschkatze.

RedakteurRedakteur: Julia, Charlotte
FotosFotos: Katharina
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