Interview mit T.A. Wegberg

Interview

Auf der Leipziger Buchmesse dieses Jahres hatte unsere Blaue Seite Redakteurin Linnea Müller die Gelegenheit T. A. Wegberg zu interviewen. T.A. Wegberg ist Autor von „Klassenziel“ und engagiert sich in seiner Freizeit bei der der Internet-Plattform „Junoma“ als Online-Berater für Jugendliche in Notsituationen.

BS: Ihr Buch „Klassenziel“ ist sehr außergewöhnlich. Hatten Sie dafür eine Vorlage? Wie kommt man darauf, so ein Buch zu schreiben?

T. A. Wegberg: Nein, eine Vorlage hatte ich nicht. Aber ich habe mich von dem Amoklauf in Winnenden inspirieren lassen.Nicht von der Tat als solche, sondern von einer Pressemeldung. Es ging im Nachhinein darum, ob die Eltern eine Mitschuld tragen, weil die Waffen nicht weggeschlossen waren. Da wurde ganz kurz erwähnt, dass der Täter eine Schwester hat. Es wurde noch nicht einmal gesagt, ob diese jünger oder älter ist.

Das habe ich gelesen und mich gefragt: Wie ist das wohl für diese Schwester? Was ist das für ein Gefühl, wenn der eigene Bruder etliche Menschenleben auf dem Gewissen hat? Da fing es an, bei mir im Kopf zu ticken. Ich habe mir gedacht, dass das ein tolles Thema für einen Roman wäre.

Es gibt natürlich schon Bücher über Amokläufe, aber die sind aus einer anderen Perspektive geschrieben. Über diesen Familienhintergrund hat eigentlich noch keiner so richtig geschrieben. Das geht auch in den Presseberichten immer unter. Die Schwester wurde nur kurz erwähnt. Es wurde aber nicht thematisiert, was in ihr vorgeht oder was das in ihr auslöst. Ich hingegen fand das total spannend.

BS: Haben Sie denn, nachdem Sie das Buch jetzt geschrieben und sich sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, auch einen anderen Blick auf das Thema Amoklauf?

T.A.Wegberg: Ja, ich glaube schon. Natürlich: Wenn man so tief in ein Thema einsteigt, kriegt man auf jeden Fall einen anderen Blickwinkel. Aber man kann jetzt nicht sagen, vorher fand ich Amokläufe scheiße und jetzt finde ich sie toll. Es ist nach wie vor ein Verbrechen, das man auf gar keinen Fall gutheißen kann. Aber wenn man die Motive versteht oder weiß, was überhaupt so weit führen kann, dass jemand so verzweifelt ist oder auch so festgefahren in seiner Situation, dass er sich auf diese Weise irgendwie Luft verschaffen muss, gibt einem das einen anderen Blick. Wenn ich heute von so einer Tat höre, steht für mich nicht im Vordergrund, wie viele Tote es gegeben hat oder welche Waffe der Täter benutzte. Sondern: Wie ist es dazu gekommen? Was ist das für ein Täter? Welche Kindheit, welche Jugend hat er hinter sich? Und natürlich auch: Wie gehen die Hinterbliebenen mit dieser Situation um? Also die, die ein Kind verloren haben oder einen Bruder oder einen Freund oder was auch immer.

BS: Ich habe gelesen, dass Sie für das Jugendportal „Junoma“ arbeiten und dass Sie sich sehr für Psychologie interessieren. Woher kommt dieses Interesse?

T.A.Wegberg: Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann es aber zurückverfolgen. Ich habe mir mit 13 Jahren ein Buch gekauft, das „Schizophrenie und Kunst“ hieß. Ich weiß gar nicht, warum ich es gekauft habe – vermutlich, weil es ein Angebot war. Vielleicht auch wegen des Covers. Ich hab es mir auf jeden Fall gekauft, habe es gelesen und war total fasziniert. Da ging es um einen Psychiater, der seine schizophrenen Patienten dazu angehalten hat, zu zeichnen, als therapeutische Maßnahme. Diese Zeichnungen wurden in dem Buch abgebildet. Die hat der Arzt kommentiert und der Leser konnte anhand der Bilder deutlich erkennen, wenn es dem Patienten schlechter ging.

Das hat mich so fasziniert, dass ich von dem Zeitpunkt an alle möglichen Bücher über Psychiatrie verschlungen habe. Es hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Aber woher das nun kommt, weiß ich nicht. Ich denke mal, jeder von uns kennt Sachen, die ihn einfach total faszinieren und begeistern. Da kann man sich dran festbeißen und es bleibt ein unerschöpfliches Thema.

Im Moment schreibe ich ein Buch über einen Jungen, der eine soziale Phobie hat: Angst vor Menschen. Dem fällt es zum Beispiel ganz schwer, einkaufen zu gehen. Die Buchmesse hier, das wäre für ihn der absolute „Super GAU“. So viele Menschen um ihn herum, er fühlt sich immer beobachtet und alle starren ihn natürlich an, weil jeder sieht, dass er vor Angst schwitzt. Da kann ich total reinversinken. Ich versuche, mich wirklich in die Person hineinzudenken und mir vorzustellen, wie sich das anfühlt, wenn man an so einer Störung leidet.

BS: Hilft es Ihnen, wenn Sie darüber schreiben? Hilft es Ihnen auch dabei, die Jugendlichen zu unterstützen?

T.A.Wegberg: Das glaube ich schon. Mir persönlich hilft es nicht in dem Sinne, dass ich irgendwas verarbeiten müsste. Ich glaube, ein Psychologe, als der ich mich manchmal verstehe, muss eine gewisse Distanz haben. Natürlich guckt man sich mit großer Neugier Krankheitsbilder oder auch Charakterbilder an, findet das faszinierend. Aber man darf das nicht so nahe an sich herankommen lassen, dass man daran zerbrechen könnte. Natürlich schreiben mich Jugendliche an und es tut mir weh, wenn ich sehe, was die für Schwierigkeiten haben. Aber ich kann es trotzdem so weit ausblenden, dass das keine Auswirkungen auf mein Privatleben hat.

Deswegen muss ich mir auch nichts von der Seele schreiben. Wenn ich über so was schreibe, dann, weil es mich fasziniert. Oder weil ich denke, dass diese kleinen Versatzstücke und dieses Wissen sich sehr gut in Literatur umsetzen lassen. Das sind Themen, über die nicht jeder schreibt. Über Liebe kann jeder schreiben, weil jeder in seinem Leben das mal erlebt. Aber mit Sozialphobie oder einer Essstörung kommen die wenigsten Menschen in ihrem Leben in Kontakt. Deswegen ist es sinnvoll, darüber zu schreiben. Um das Thema präsenter zu machen und bei Leuten Reaktionen auszulösen.

BS: Wurden Sie von Eltern schon mal für die außergewöhnlichen Themen Ihrer Jugendbücher kritisiert?

T.A.Wegberg: Nein, das habe ich noch nie erlebt. Das wäre aber auch ganz schön heftig. Einmal hatte ich eine Lesung an einer Schweizer Schule. In der Klasse war ein Schüler, der war bei den Zeugen Jehovas. Seine Eltern haben ihm verboten, an diesem Tag am Unterricht teilzunehmen. Da das Buch Teil des Unterrichts war, haben die Eltern ihn auch von diesen Schulstunden suspendieren lassen. Ich kann gar nicht genau sagen, warum. Denn ich kenne mich mit den Zeugen Jehovas ganz gut aus, weil ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis einige Anhänger habe. Und es gibt meines Wissens nichts, was denen verbietet, sich mit dem Thema Amoklauf zu beschäftigen.

Vielleicht dachten die Eltern, der Junge sei damit überfordert, der muss so vierzehn gewesen sein.

Das war aber das einzige Mal, dass Eltern sich eingeschaltet haben.

BS: Ich habe das Buch „Klassenziel“ mehrere Male gelesen und es ging mir immer wieder sehr nahe. Ich hatte immer das Bedürfnis, Jamie (Hauptperson in „Klassenziel“) in den Arm zu nehmen. Hatten Sie das Gefühl beim Schreiben auch?

T. A. Wegberg: Ja, das kann man so sagen. Die Figuren, über die man schreibt, werden sehr lebendig. Das ist fast so, als würden sie bei mir auf der Couch sitzen. Sie begleiten mich durch den Alltag. Während ich an einem Buch arbeite, sind die Figuren ständig bei mir.

Ich arbeite gerade an einem Text und sehe die Buchmesse mit den Augen meines aktuellen Protagonisten. Zum Beispiel fällt manchmal etwas auf, von dem ich weiß, das würde ihn interessieren. Dann interessiere ich mich auch dafür. Ein bisschen lebe ich sein Leben, fange an, mit seinen Augen zu sehen, mit seinen Ohren zu hören.

Man nimmt Dinge dann anders wahr. Deswegen will ich ihn nicht mal unbedingt in den Arm nehmen. Ich erlebe das mehr mit ihm. Es ist nicht so, als würde ich jetzt sagen wollen: „Du Armer und wie kann ich dich davor beschützen?“ Sondern ich erlebe das aus seiner Sicht. Er ist dann ein Teil von mir, wird dann aber auch wieder entlassen, wenn das Buch erschienen ist.

BS: Sind Sie traurig, wenn Ihr Buch erscheint, weil es dann abgeschlossen ist? Oder freuen Sie sich, sich wieder mit etwas anderem beschäftigen zu können?

T.A.Wegberg: Bei meinem allerersten Buch, „Memory Error“, hatte ich vorher keinen Verlag, da war der Trennungsprozess wirklich sehr schwer. Das war wie ein Baby, das man in fremde Hände geben muss, wenn man das Manuskript dann an den Verlag schickt. Das ist mir wirklich sehr schwer gefallen.

Inzwischen ist es nicht mehr so, da man schon während des Schreibens mit dem Verlag in Kontakt steht. Man lässt den Lektoren z. B. erste Manuskriptteile lesen. Da ist die Bindung zum Buch nicht mehr so eng.

Mein erstes Buch habe ich sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschrieben. Es wusste praktisch niemand, dass ich daran gearbeitet habe. Plötzlich hatte ich einen Ausdruck von dreihundert Seiten und musste ihn jetzt der Welt präsentieren.

Ich lerne auch dazu. Damals war ich wirklich sehr blauäugig und naiv und wusste nicht, wie das Verlagsgeschäft funktioniert.

BS: Dann habe ich noch eine letzte Frage an Sie: Was assoziieren Sie mit einer Blauen Seite?

T.A.Wegberg: Auf jeden Fall etwas Angenehmes. Blau ist eine meiner Lieblingsfarben. Das ist etwas Kreatives, etwas Veränderbares, was man beeinflussen kann. Ich habe mir die Website ja angeschaut. Aber wenn ich jetzt nur auf den Begriff abziele, dann sind das so meine Gedanken. Es hat auch noch was von Freizeit, Himmel und draußen sein.

BS: Dann bedanke ich mich ganz herzlich für das Interview!

T.A.Wegberg: Sehr gerne.

Im September 2014 ist im Arena Verlag ein weiteres Buch von T. A. Wegberg erschienen: "Ich kannte kein Limit" (mit Sascha K.), eine Romanbiografie über einen alkoholgefährdeten Jugendlichen. Mitte November erscheint bei dead soft der Psychothriller "Du weißt es nur noch nicht".

RedakteurRedakteur: Linnea
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