Interview

Interview mit Ulrich Pröfrock

Im Oktober 2014 hatte Linnea auf der Frankfurter Buchmesse die Möglichkeit, Ulrich Pröfrock – dem Übersetzer von „Wie ein leeres Blatt“ – ein paar Fragen zu stellen.

BS: Sie haben einen Comicbuchladen und sind auch Übersetzer.  Das heißt, Sie sind tagtäglich von Comics umgeben. Entwickelt man da im  Kopf von manchen Leuten ein Bild als Comicfigur? Wenn Sie mich jetzt  angucken: Haben Sie dann eine Idee, wie ich als Comicfigur aussehen  könnte?

Ulrich Pröfrock: Nein, das geht mir nicht so. So tief tauche ich dann  doch nicht ein. Ich habe zwar schon sehr lange mit Comics zu tun – sehr  viel länger, als ich den Laden habe. Aber mir ist es ganz wichtig, dass  man Distanz bewahrt zu dem, was man macht. Ich kann mich nicht daran  erinnern, dass ich in Comicbildern gedacht habe. So etwas ist mir noch  nicht passiert.

BS: Wenn Sie eine Comicfigur wären, was würden Sie erleben? Wären das Abenteuergeschichten?

Ulrich Pröfrock: Das ist schwierig. Der Hauptgrund, warum ich  Comicbuchhändler geworden bin, ist der große Zeichner Moebius, der  letztes Jahr gestorben ist. Der hat bei mir im Kopf  sehr früh etwas  ausgelöst, das ganz wichtig war. Das war die Zeit, als es eher  Science-Fiction Comics und nicht unbedingt linear erzählte Geschichten  gab. Moebius war jemand, der das Ziel des Comics neu geformt hat. In  diesem Kosmos von Moebius unterwegs zu sein, wo die Figuren zum Teil Tag  für Tag eine andere Ausprägung angenommen haben, mal so und mal anders  gezeichnet wurden: So eine variable Figur würde mir vermutlich am  meisten Spaß machen. Aber eigentlich will ich gar keine Comicfigur sein.

BS: Lesen Sie die Comics auch auf Französisch?

Ulrich Pröfrock: Ja.

BS: Wie kam es zu dem Entschluss, nach Frankreich zu gehen?

Ulrich Pröfrock: Mein Vater hat dort gearbeitet. Erst nur ein Jahr,  aber dann war klar, dass wir für länger gehen. So bin ich im Alter von  zehn Jahren, ob ich wollte oder nicht, dahin geschleppt worden. Aus den  paar geplanten kurzen Jahren sind dann bei mir neun Jahre geworden. Ich  habe meine ganze Gymnasialschulzeit in der deutschen Auslandsschule in  Paris verbracht, bis zum Abitur. Danach bin ich dann wieder nach  Deutschland zurückgekehrt. Dabei ist es fast unvermeidlich, dass man  einigermaßen ordentlich Französisch spricht.

BS: Ich habe gelesen, dass Sie, wenn Sie Bücher übersetzen,  oft mit Muttersprachlern zusammenarbeiten. War das bei der Graphic Novel  „Wie ein leeres Blatt“ auch so?

Ulrich  Pröfrock: Das bezieht sich auf die zwei, drei, vier Mal, die ich aus  dem Deutschen in eine Fremdsprache übersetzt habe. Dabei geht das nicht  anders. Es gibt zwar in der Übersetzungswelt Leute, die so komplett  zweisprachig sind, dass sie auch gut von der Muttersprache in eine  Fremdsprache übersetzen können. Aber die Regel ist, dass man die bessere  Sprachkompetenz in der Muttersprache hat.

Ich lebe jetzt seit vierzig Jahren nicht mehr in Frankreich und  Französisch ist eine Sprache, die sich im Alltagsgebrauch schnell  wandelt, – mehr als das Deutsche. Gerade, was die Umgangssprache angeht.  Ich würde es mir nie anmaßen, autonom etwas ins Französische zu  übersetzen. Ich kann ein Textgerüst liefern. Das habe ich aber immer nur  gemacht, wenn ein befreundeter Autor oder jemand sehr sprachkompetentes  dabei war, der auch Interesse an der Sache hatte. Jemand, der dann die  Endredaktion gemacht hat. Das hat in diesen Fällen sehr gut geklappt.  Das sind zwei sehr gute Freunde, aber so etwas ist eine Ausnahme.

BS: Denken Sie, diese Geschichte hätte auch als Roman funktioniert? Wäre die Botschaft da auch so gut rübergekommen?

Ulrich Pröfrock: Schlechter, glaube ich. Das ist schon eine Geschichte, die von einem guten Comicszenaristen für diese Erzählform  gebaut ist. Es gibt einen ganz alten Satz in der Comictheorie, wenn es  darum geht: Wie funktioniert Comic? Wie funktioniert die Narration, das  Erzählerische? Dann gibt es immer wieder den Satz: Die Geschichte wird  zwischen den „Panels“ erzählt. Das sagt man gerne, weil das sehr  plakativ ist. Da ist aber wirklich sehr viel Wahres dran. Wenn die  Geschichte eben gleich für diese Erzählform gebaut wird, berücksichtigt  sie das.

Zum Beispiel die Seiten, wenn die Hauptperson Eloise alles, was sie  in ihrer Wohnung vorfindet, sortiert und ausbreitet, das ist eine große  Doppelseite, die Unmittelbarkeit des Erlebens. Das Gefühl, wenn man  diese Doppelseite sieht, ist so in der linearen Literatur nicht  darstellbar. Dass ich mit einem Blick erfasse, was sie sortiert hat, wie  sie sortiert hat, all diese Hinweise, die darauf sind, das geht in  dieser Form nur im Comic. So etwas müsste ein Autor auf zehn oder  zwanzig Seiten beschreiben.

Ein guter Comicszenarist denkt in der Zähleinheit der Doppelseite.  Denn der erste visuelle Eindruck ist immer der mit der Doppelseite. Es  gibt schöne Untersuchungen über Augenbewegungen beim Comiclesen. Das  Auge kann unbewusst bis zu zehn Mal pro Sekunde zurückblicken und das  Panel immer wieder neu in den Kontext setzen. Das geht ganz automatisch,  das merkt man selber gar nicht. Aber das Panel darf nie als Einzelpanel  betrachtet werden, sondern immer als Teil des kompletten Kontextes  der Doppelseite. Diesen Effekt und die Wirkung, die das beim Leser hat,  kann die lineare Literatur nicht erfüllen. Da müsste ich wieder  erzählen: Warum ist denn das jetzt wichtig? Warum hat sie genau diese  fünf Objekte hier zusammen angeordnet? Ich sehe das im Comic und kann  mir meinen Vers dazu denken. Aber der Autor muss erst mal eine halbe  Seite lang erzählen, was das denn alles ist und welche Form und welche  Farbe es hat. Dass ich darüber dann dazu komme, das auf einmal auch als  Einheit zu begreifen, das kann Literatur nicht leisten. In Bilder  umgesetzte Literatur ist keine Schwäche, sondern das ist eine eigene  Form von Sprache. Eine, die völlig für sich steht und ihre eigene  Qualität entwickelt. Wobei man immer ganz klar sagen muss, dass auch bei  Comics 70% Banales und 20% Vollschrott unterwegs ist. Die richtig guten  Sachen sind auch dort prozentual nicht besser verteilt als bei  sonstiger Literatur.

BS: In einem Comic ist relativ wenig Text im Gegensatz zu  einem ganzen Roman, den man übersetzen muss. Wie lange brauchen Sie, bis  Sie einen Comic übersetzt haben?

Ulrich Pröfrock: Das kann man nicht so pauschal sagen. Die Textmenge  kann sehr unterschiedlich sein. In diesem Fall ging es relativ schnell,  weil es keine sehr literarische Sprache ist. Da liegt das Geheimnis eher  darin, die Figuren sowohl im direkten Dialog als auch im inneren  Monolog so sprechen zu lassen, dass niemand denkt: „So redet doch  keiner.“ Es geht also eher darum, diesen Ton zu treffen. Wenn man den  einmal gefunden hat, geht die Arbeit relativ schnell. Ein großes Problem  beim Übersetzen generell ist, dass es so schlecht bezahlt ist. Man kann  es sich eigentlich nicht leisten, über eine bestimmte Zeit hinaus zu  arbeiten.

Ich lebe nicht nur vom Übersetzen. Deswegen kann ich mir den Luxus  erlauben, Dinge auch mal liegen zu lassen. Drei Wochen ganz andere  Sachen machen, mit einem neuen Blick wieder rangehen, dann die  Sackgassen finden, in denen ich vielleicht hängengeblieben bin, die  Geschmeidigkeit des Tons herstellen.

Letztes Jahr hat eine meiner Lektorinnen zu einem Vortrag eine Übersetzung, an der wir zusammen gearbeitet haben, mitgenommen.  Das Publikum hatte mit Comics bis dahin nichts zu tun gehabt. Sie  fanden das sehr spannend und toll – aber als letzter Satz kam dann doch:  „Alles ganz schön und auch ganz aufregend. Aber man muss doch ein  bisschen mehr auf das Syntaktische und das Grammatikalische achten.“ Das  ist ein zentraler Fehler, nicht zu begreifen, worum es geht. Der Comic  ist doch überwiegend vom menschlichen Alltag geprägt.

Und mit Verlaub: Keiner von uns spricht korrektes Deutsch. Es würde  einem völlig seltsam vorkommen, wenn ich jetzt hier grammatikalisch,  syntaktisch alles richtig machen würde. Das würde total künstlich  klingen. Wir reden so nicht miteinander. In Comics sprechen echte  Menschen. Und die müssen so sprechen, dass du beim Lesen nicht das  Gefühl hast, dass das künstlich wirkt. Es muss oftmals im Comic  grammatikalisch und syntaktisch falsch sein, um richtig zu klingen.

Das ist oft die Herausforderung. Da sind Dinge, die klingen zu  sperrig und zu eckig. Es gibt andere, die sind zu flapsig, das geht auch  wieder nicht. Aber vieles könnte besser gemacht werden, wenn die  Übersetzer mehr Zeit hätten und ein bisschen besser bezahlt würden. Aber  das ist eine allgemeine Klage beim literarischen Übersetzen. Ich kann  mir zum Glück den Luxus erlauben, nach einzelnen Wörtern mal drei Tage  lang zu forschen.

RedakteurRedakteur: Linnea
FotosFotos: Bjarne
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