Die Minute der Wahrheit
Die Minute der Wahrheit
24. Oktober 2010
von Marie B.
4 Sterne
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Wohin wollen wir jetzt?“, frage ich.
„Etwas nach Süden und dann nach Westen“, sagt Jakob.
„Oder etwas nach Norden und dann nach Westen.“
„Hört sich an wie ein Märchen“, sage ich.

Die 17-jährige Frida erfährt, dass die Hornhäute ihrer Augen beschädigt sind. Sie hat Angst zu erblinden und macht sich überstürzt von Oslo, wo sie lebt, auf den Weg nach Florenz, in die Stadt, die sie schon immer besuchen wollte, um noch einmal die Welt in all ihrer Pracht zu sehen.

Doch in Italien angekommen fühlt Frida sich plötzlich völlig verloren und eigentlich will sie schon wieder zurückfahren, als sie eine norwegische Stimme hört. Jakob ist zwei Jahre älter als Frida und er reist durch ganz Europa, um sich Werke der berühmtesten Maler der Welt anzusehen. Im Grunde besucht Jakob aber nur Bilder, die ein bestimmtes Motiv zeugen: Die Kreuzigungsszene von Jesus. Als Frida ihn fragt, warum er sich genau für diese Bilder interessiert, erklärt Jakob ihr, dass er für eine Jugendzeitschrift einen Bericht über all diese Werke verfasst.

Anfangs ist Frida vor allem von Jakobs braunen Augen und nicht dem, was er sagt, fasziniert, deshalb heuchelt sie Interesse an der Kunst, doch Jakob merkt schnell, dass Frida in Sachen Kunst keinen Plan hat und er erklärt ihr geduldig, wie alles mit Giotto, der schon 1290 die Kreuzigung Jesus gemalt hat, begann.
Es stellt sich heraus, dass Jakob nicht nur ein leidenschaftlicher Betrachter ist, sondern dass er auch unglaublich viel über Kunst weiß. Er kann Frida nicht nur von Giotto erzählen, auch von Vasari, Raffael, El Greco und vielen mehr. Er bringt Frida dazu, die Bilder mit seinen Augen zu sehen und sie beginnt zu begreifen, was ihm an der Kunst so gefällt. Frida folgt Jakob nach San Gimignano, Turin und schließlich nach Paris. Die beiden wandeln auf den Spuren der größten Maler, die es je gegeben hat, sie philosophieren über die Bilder, die Kunst und das Leben im Allgemeinen und verlieben sich allmählich ineinander.

Alles wäre perfekt, wenn Jakob nicht eigentlich so etwas wie eine Freundin hätte und Fridas Augen nicht mit jedem Tag mehr schmerzen würden…

Auszug aus „Die Minute der Wahrheit“:

„Warum glaubst du an Gott?“, frage ich. „Das tust du doch, oder?“
Jakob zündet sich eine Zigarette an.
„Ja, doch, ich denke schon. Darauf kann ich keine vernünftige Antwort geben, ich glaube an Gott, weil, ja, weil es das Licht gibt, Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, den Meeresgeruch, den Geruch eines kleinen Mädchens vor einem Monat, dessen Onkel ich Ende Februar geworden bin, und wegen der Kunst, wegen Giotto und Rembrandt, und ja, vor allem wegen der Kunst, wegen Bob Dylan und Johann Sebastian Bach natürlich und all den tollen Mädchen, die es gibt, vor allem ihretwegen, und ich glaube, wegen der Kraft des Johannes-Evangeliums, das vor zweitausend Jahren geschrieben wurde, und mich trotzdem mitten im Bauch trifft.“
„Zweifelst du nie?“

Zwei Jugendliche reisen durch die schönsten Städte Europas, begegnen der Kunst, verlieben sich und finden sich dabei selbst…klingt nach einer ganzen Menge Kitsch! Aber Die Minute der Wahrheit ist nicht kitschig. Der Autor erzählt die Liebesgeschichte von Frida und Jakob sehr behutsam, manchmal beinahe ungeschickt, so wie auch die beiden im Umgang miteinander sind. Das ist für mich das Schönste an diesem Buch. Diese imperfekte Liebesgeschichte. Frida und Jakob erleben keinen leidenschaftlichen ersten Kuss womöglich auch noch bei einem Sonnenuntergang in Paris, ihr erster Kuss findet in einem ungemütlichen Zugabteil statt und er ist schüchtern, beinahe flüchtig. Die beiden bewegen sich so vorsichtig aufeinander zu, als sei der Weg zum jeweils anderen aus Glas und genau das berührt den Leser. Das und die Leidenschaft, mit der Jakob von der Kunst erzählt. Und Manche berühren vielleicht auch die Bilder, die Jakob und Frida sich ansehen und die in einem Bildband in der Mitte des Buches abgedruckt sind.

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