Hat die Welt noch einen Roman in einer Zauberschule in Großbritannien gebraucht? Nachdem ich “Carry On” (im deutschen “Aufstieg und Fall des außerordentlichen Simon Snow”) von Rainbow Rowell gelesen habe, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie groß das Manko war.
“Carry On” hat nicht den Anspruch, komplett anders zu sein, als andere Fantasy Bücher, ist es aber absolut. So sehr ich auch riesige ultra komplexe Fantasywelten mag, den Fokus mal auf die Charaktere und deren Verhältnisse zu setzen, war einfach unglaublich viel berührender, als es andere Fantasybücher bis jetzt geschafft haben. Man denkt sich vielleicht nicht “Wow, diese Komplexität; dieses Detailreichtum! Ich muss jetzt sofort das entsprechende Wiki auswendig lernen!” aber die Welt ist so rund wie sie nur sein kann. In “Carry On”, welches der erste Teil der “Simon Snow”-Reihe ist wird mit Sprache gezaubert. Das Prinzip: Je relevanter ein Ausdruck, Sprichwort, Gedicht, Songtext etc. in der Welt ist, desto mehr Magie wohnt den Worten inne. So öffnet man Türen nicht mit Alohomora sondern mit “Open Sesame” und findet sachen mit “Scooby-Dooby-Do, where are you!”. Ein Schutzzauber wäre “U can't touch this!”. Ich finde das eine unglaublich gute Idee, fürchterlich amüsant und es gibt der Zauberwelt etwas Nahbares. Das Buch ist im Präsens geschrieben, was kombiniert mit den Ich-Perspektiven aller wichtigen Charaktere so unglaublich nah und persönlich wirkt, wie ich es selten gelesen habe. Wir wissen was in den Köpfen von den meisten vorgeht und es schmerzt, dass die anderen Charaktere keine Ahnung haben.
Jetzt kommen wir mal zu der Handlung und den Charakteren: Die Hauptperson Simon, total unbegabt wenn es ums Zaubern geht, aber leider der Auserwählte, der die gesamte Zauberwelt retten soll, was verständlicherweise sehr belastend für ihn ist. Er hat zwar gefühlt unbegrenzte Mengen an Magie in sicht, weiß aber damit nichts anzufangen.
Simon ist so menschlich wie man nur sein kann: Er ist tollpatschig, verdrängt seine wahren Gefühle und trifft dumme Entscheidungen. Er ist zwar unglaublich sympatisch, aber das hilft ihm weniger bei beim Kampf gegen den Bösewicht der Geschichte der “Humdrum”; eine mysteriöse Gestalt, die an den immer größer werdenden Löchern in der magischen Atmosphäre Schuld sein soll und böse Monster schickt.
Dann gibt es noch Penelope, die beste Freundin und der wichtigste Mensch für Simon und irgendwie auch gefühltes Elternteil, weil sie es schafft Simons verplantes Leben zusammenzuhalten. Dann gibt es noch Agatha, Simons Freudin, deren Beziehung auf der Kippe steht, da Simon sie vor dem Sommer mit seinem bösen Mitbewohner (und höchstwahrscheinlich Vampir) Baz gesehen hat. Baz und Simon teilen sich seit dem ersten Schultag ein Zimmer und sind absolute Erzfeinde, was ich einfach nur unglaublich toll finde. Als Baz aber auch lange nach Schulbeginn des letzten Schuljahres nicht auftaucht, wird Simon gerade zu verrückt, und fängt an, ihn jede Nacht zu suchen, da er eine geheime Verschwörung befürchtet. Dann gibt es noch den Schuldirektor, der nur “The Mage” also der Magier, genannt wird und für Simon, der schon immer Weise war, eine Art Vater ist. Auch alle weiteren Charaktere wirken so absolut real, was für mich definitiv die größte Stärke der Autorin ist.
Das ist also das Setting und ich möchte eigentlich nichts über die Handlung sagen außer dass sie so rund wie ein Kreis und so unerwartet wie etwas wirklich sehr Unerwartbares ist. Ich will euch alles sagen aber jedes Wort wäre ein Wort weniger, das euch dieses absolut perfekte Buch geben könnte.
Das Buch hat mich zum Zittern, zum Weinen, zum Lachen, schreien und stundenlangen Nachdenken gebracht. Ich bin wirklich an meine Emotionalen Grenzen gekommen und brauchte viel Verarbeitungszeit, aber die Erfahrung war krasser als bei jedem anderen Buch, das ich je gelesen habe. Es war vielleicht nicht so poetisch oder gehoben wie andere Bücher, die ich sehr liebe, und es ist auch keine komplizierte Metapher für das Leben, und vielleicht war es genau das was mich so direkt bewegt hat. Ungefilterte unvergangene Emotionen eingebettet in eine Geschichte, die weniger Gut und Böse behandelt, sondern die verkorkste Psychologie der Menschen.
Ich hoffe ich traue mich bald den zweiten Band zu lesen. Ich hoffe, dass alle Menschen dieser Welt Carry On lesen.
Nicht um schlauer zu werden, aber weiser.