Ein surrealer Horrortrip?
Surrealer musikalischer Abend oder doch höchstmoderne Sichtweise auf Kafkas Verwandlung? – So oder so hat der Abend im Lübecker Theater uns zweifellos auch noch lange danach stark beschäftigt.
Die eigentliche Verwandlung des Gregor Samsa nahm zwar lediglich die ersten paar Minuten der gesamten Vorstellung ein, trotzdem behielt der Abend seinen rot-glitzernden Faden der Metamorphose bei und wandte sich nicht vollständig oder gar zusammenhangslos vom Original ab.
Nachdem der von seiner Arbeit vollkommen eingenommene Gregor Samsa eines Morgens in ein Insekt verwandelt aufwacht, ist seine erste Sorge, zu spät ins Büro zu kommen. Logischerweise gelingt ihm das nicht und kurz darauf wird er mit noch dringenderen Problemen konfrontiert: Wie soll er seine Familie weiterhin finanziell unterstützen? Wie soll er sein bedauernswertes Schicksal vor seinen Angehörigen und seinem Vorgesetzten verbergen? Und wie soll er seine eigentliche Gestalt wiedererlangen? Diese und andere Konflikte und Fragen werden letztendlich aufgelöst, als Gregor von seinem eigenen Vater mit einem Apfel beworfen wird und an den Folgen auf dem Boden seiner engen Kammer elendig verendet. All das darf der Zuschauer unter einem gigantischen Bett verfolgen, ein beeindruckendes Bühnenbild, welches ein Gefühl der Unterlegenheit und Machtlosigkeit wie durch die Augen von Gregor Samsa vermittelt.
An diesem Punkt sollte Kafkas Verwandlung eigentlich beendet sein, doch das Kammerspiel des Lübecker Theaters beginnt hier erst…
Die folgende Performance lässt sich tatsächlich ohne Weiteres als „surrealen Horrortrip“ bezeichnen, um die Website des Lübecker Theaters zu zitieren. Eine wahrhaftige Achterbahnfahrt der Gefühle voll gepackt mit Musikalischen Einlagen, feministischen Bekundungen und modernen Akzenten wie Kritik an der heutzutage oft ungesunden aber üblichen Work-Life-Balance. Nach dem Tod ihres Bruders muss sich nun Grete etwas einfallen lassen, wie sie ihre Familie unterstützen kann. Sie beginnt eine Karriere als Influencerin und kocht für ihre Haustier-Kakerlaken, die zwischendurch mit ihr Musik machen. Sie bekommt sogar ihre eigene Fernsehshow und thematisiert dort die Haltung und Pflege von Insekten, doch die nimmt ein unerwartet schnelles Ende, das wieder an den Anfang des Stücks zurückführt – mit einem kleinen Unterschied: Die Rolle von Gregor Samsa wird weitergegeben. An seine Schwester Grete, die nun anstelle ihres Bruders als Vertreter seine Produkte anpreist.
Immer wieder wird die Handlung dabei von musikalischen Darbietungen unterbrochen, die stets erfrischend und unterhaltsam dem Stück einen extrem vielseitigen Charakter verleihen. Ganz besonders beeindruckt hat uns die Tatsache, dass die Songs allein von der Hauptdarstellerin Sonja Cariaso komponiert und geschrieben wurden. Auch ihr enormer Beitrag zum eigentlichen Stück, bei dem sie beinahe selbstständig Regie führte und jegliche Vorbereitung leistete. Laut Regisseur Robert Teufel war das Stück zu dem Zeitpunkt, an dem er zur Crew stoß „schon so gut wie fertig“ und er habe „fast nichts mehr machen müssen“, was uns die beiden in einem vorangehenden Interview berichteten.
Alles in allem war der Theaterbesuch eine einzigartige Erfahrung, die recht schwer in Worte zu fassen ist. Ein höchst interessantes Erlebnis, das, obwohl zum Teil etwas überladen und leicht verstörend, definitiv lohnenswert war. Ein wenig verwundert waren wir darüber, dass auf den Plakaten eines so feministisch behafteten Stücks ein Regisseur genannt wird, der erst zu den Proben stößt, wenn bereits das gesamte Stück von der Frau konzipiert wurde, die unter „Idee“ und „Besetzung“ zu finden ist. Na ja…
Dennoch war den gesamten Abend hindurch das zweifellos große künstlerische Talent aller Beteiligten zu erkennen und die Darbietung hat uns auch lange danach noch beschäftigt. Dieser Programmpunkt des Lübecker Theaters ist also definitiv sehenswert, ob es einem nun nach einer Neuinterpretation von Kafkas „Verwandlung“ oder einem chaotischen und teils verstörenden, wenn auch lustigen und musikalisch unterlegten Abend dürstet.