Interview

Interview mit RT Acron

Auf der Leibiger Buchmesse hatten wir die Chance RT Acron zu treffen!

Blaue Seite: In „Ocean City“ dreht sich viel um Zeit, Zeiteffizienz und Zeitverschwendung. Was war die größte Zeitverschwendung Ihres Lebens?



Tielmann: Schule! Das wäre auf anderen Wegen schneller und schmerzfreier gegangen. Es gab nicht einmal bestimmte Fächer, die besonders schlimm waren – es war jeder Tag Zeitverschwendung. 14 Jahre lang!


Reifenberg: Bei mir waren es vor allem Griechisch und Latein. Aber wer weiß, ob es wirklich Zeitverschwendung war. Vielleicht werde ich es eines Tages doch noch brauchen.


Blaue Seite: Wo wir gerade beim Thema Schule sind: In „Ocean City“ werden Recycling und Umweltschutz als Schulfächer unterrichtet. Sollte man das bei uns auch einführen?


Reifenberg: Ocean City ist ja vordergründig eine sehr ideale Welt, in der beispielsweise das Meer wieder von Plastik gesäubert wird. Es wird alles recycelt. Es gibt Plastikstaubsauger, die auf dem Meer schwimmen.


Tielmann: Das ist gerade die Frage: Wann verabschiedet man sich vom humboldtschen Bildungsideal? Die bisherigen Reformversuche, zum Beispiel das Bologna-Programm an Universitäten, machen nicht gerade Lust auf mehr. Wir haben eine Vielzahl an neuen Fächern – vieles von den alten ist aber auch kein Schwachsinn. Aber natürlich muss man sich als Gesellschaft in der Zeit, in der wir leben und in der die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Erde gestellt werden, auch fragen: Wohin gehen wir mit dem Bildungssystem? Und sollten wir an der Schule etwas ändern? Das muss aber nicht unbedingt der Fächerkanon sein, denn Schüler haben wahnsinnig viele Fächer. Für jedes Fach, das neu dazukommt, müsste man ein altes streichen. 

Tielmann: Es gab einen besonderen Fall, als Frank eiskalt weitergeschrieben hat, während ich noch überarbeitet habe. Er hat eine Wendung eingebaut, die wirklich sehr überraschend kam. Auf die Idee wäre ich nicht gekommen, obwohl ich gleichzeitig mit derselben Figur gearbeitet habe. Das heißt, die Wendungen in der Geschichte kamen auch für uns Autoren manchmal überraschend. Aber trotzdem mussten wir für diese neue Facette der Figur nur sehr wenig des bisherigen Textes überarbeiten. Obwohl wir natürlich in vielen Überarbeitungsgängen den Text geschliffen haben, wurde an den entscheidenden Stellen meist nur wenig geändert. Das war ganz toll.


Reifenberg: Das bezog sich auf eine Figur, die sich in einer solchen Situation komplett umdrehte. Obwohl man sich die Figur selbst ausgedacht hat, überrascht einen so etwas. Ich darf natürlich nicht verraten, um welche Figur es ging, aber an einem bestimmten Punkt fragte ich mich plötzlich: „Was wäre, wenn die Figur jetzt das genaue Gegenteil von dem tut, was wir erwarten würden?“


Blaue Seite: Ändert sich die Figur dadurch komplett oder bekommt sie nur eine neue Facette?


Tielmann: Nein, die Figur wurde komplett gedreht. Das Tolle ist, dass sie im Nachhinein ein Geheimnis bekommt, das erst beim zweiten Lesen offensichtlich wird. Ocean City ist eben voll überraschender Wendungen und in diesem Fall kam es eben auch für einen Teil der Autorenschaft sehr überraschend.  


Blaue Seite: Die Hauptfiguren werden im Laufe die Geschichte in eine Revolutionsbewegung in Ocean City verwickelt, deren Motto „Freizeit ist Freiheit“ lautet. Unterschreiben Sie diesen Slogan?


Reifenberg: Absolut!


Reifenberg : Ja! Manch einer merkt das sein ganzes Leben lang nicht. Ich persönlich habe in letzter Zeit versucht, einen Gang zurückzuschalten, weniger Lesungen zu machen, auch mal abzusagen. Da taten sich auf einmal riesige Zeitfenster auf und ich war total verunsichert, weil ich nicht genau wusste, was ich damit machen soll. Ich habe sehr viele Interessen und mache alles Mögliche, aber mit einem Mal war die Zeit nicht mehr bis zum Rand gefüllt. So hatte ich die Möglichkeit, neue Sachen auszuprobieren. Das ist wirklich ein Stück Freiheit, ein großes Stück sogar.


Tielmann: Das sagen schon die alten Griechen, Aristoteles beispielsweise: „Der Ausgangspunkt des philosophischen Lebens ist die Muße.“ Die Langeweile, die freie Zeit, darin steckt die Freiheit des Seins. Wenn wir ständig hinter dem nächsten Bestseller, dem Erfolg im Beruf hinterherlaufen, dann sind wir getrieben. Zum einen von den eigenen Zielen, zum anderen durch den äußeren Druck. Das ist unfrei. Obwohl wir natürlich in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat leben. Wir begeben uns schnell in Strukturen, in denen wir nicht mehr das Gefühl haben, machen zu können, was wir wollen. Sartre hat Recht, wenn er sagt, wir sind dazu verdammt frei zu sein – denn natürlich kann ich jederzeit aufhören mit dem, was ich tue. Aber auf einer höheren Ebene sind wir in vielen Zwängen gefangen und in „Ocean City“ ist das auf die Spitze getrieben. Man gibt die Grundbedingungen seiner Existenz für das Unternehmen auf und dann ist die Freiheit weg. Sicherheit ist da, Grundversorgung ist da, die Bedürfnisse werden gedeckt, aber Freiheit ist ein schwieriges Thema. 

Reifenberg: Wichtig ist dabei natürlich vor allem die Einbindung in das System. Die Zeit als Währung ergibt wenig Sinn, wenn man nicht diese Grundversorgung hat. Das wird bei uns jetzt ja auch diskutiert: bedingungsloses Grundeinkommen. Wir haben hier ein Grundeinkommen mit Bedingungen, sogar mit ziemlich harten Bedingungen. Ein gutes Grundeinkommen, denn alle in der Stadt sind gut versorgt. Natürlich geht es manchen besser und manchen schlechter, aber man bekommt alles, wenn man sich völlig der Firma verschreibt. Denn es ist ja eine Firma und kein Staat.


Blaue Seite: Wenn Sie ein Zeitkonto hacken würden, wie die Protagonisten der Geschichte, und auf einmal unendlich viel Freizeit hätten, würden Sie weiterhin schreiben?


Tielmann: Ja, auf jeden Fall! Ich würde sicherlich anderes schreiben, mehr Experimentelles wagen, aber ganz, ganz sicher auch weiter für Kinder schreiben. Für mich ist Lesen und Schreiben wie ein- und ausatmen. Damit hört man ja nicht auf, nur weil man nicht mehr muss.


Blaue Seite: Was wären das für Experimente, die Sie reizen würden?


Tielmann: Das weiß ich noch nicht. Gemischtere Textformen oder Bücher, die in den Dimensionen neu sind: beispielsweise mit Löchern in den Seiten, die eine Rolle spielen, oder mit Karten, die man aufklappen muss. All so unverkäufliches Zeug. Oder eine Geschichte, in die man hineingehen muss und der Text steht überall an den Wänden. So etwas würde ich machen, wenn ich viel Zeit hätte.  


Reifenberg: Ich würde nicht so entschieden sagen, dass ich weiterschreiben würde. Wahrscheinlich würde ich erstmal eine Zeit im Garten in der Hängematte liegen und Blumen und Schmetterlinge angucken. Ich vermute allerdings, da mein Gehirn ja so darauf trainiert ist, sich Geschichten auszudenken, dass da trotzdem schnell etwas in Gang käme. Und dann ist es natürlich super, wenn man das einfach machen kann, unabhängig davon, wer es kaufen soll oder ob man davon leben könnte.


Blaue Seite: Sie [Frank Reifenberg] setzten ja einen Schwerpunkt auf Leseförderung für Jungen. Auch Sie [Christian Tielmann] haben Erstlesebücher für Jungen und Mädchen geschrieben. Warum schreibt man für Mädchen und Jungen immer noch unterschiedlich?


Tielmann: Keine Ahnung. Ich sehe das ehrlich gesagt nicht. Ich schreibe Bücher für Kinder. Ich schreibe Bücher für Menschen.


Tielmann: Selbstverständlich, wir können ja gar nicht anders, als Rollenbilder zu transportieren. Aber dabei haben wir eben die Wahl – auch wieder eine Freiheit–, die konservativen Rollenbilder zu bestätigen und somit auch in die Zukunft zu transportieren, oder eben nicht. Wir haben uns dafür entschieden, diese Bilder aufzubrechen. Man sollte auf jeden Fall ein Auge darauf haben, dass man die Frauen auch sichtbar macht, dass man die starken Mädchen sichtbar macht, und dass man eben auch die „weichen Seiten“ der Jungs zeigt. Eigentlich ist das natürlich alles Blödsinn, denn jeder Mensch ist anders. Aber beim Erzählen muss man darauf achten, dass man nicht einfach bestehende Rollenklischees bedient. Denn dadurch verstärkt man sie beim Leser.  


Blaue Seite: Also ist das für Sie als Kinderbuchautor nicht nur eine Freiheit, sondern auch ein Stück weit eine Pflicht.


Tielmann: Ja, weil es meine Überzeugung ist. Das werden andere vielleicht anders sehen. Aber es geht ja weiter, mit nationalen Klischees, mit Rassismus. Und ich denke, man sollte als Autor für so etwas sensibel sein. Man muss da nicht immer alles „richtig“ machen. Man kann es auch bewusst ganz falsch oder gegen den Strich machen, aber man muss es erkennen. Gerade bei solchen alltäglichen Dingen kostet es einen außerdem fast nichts, die einfach umzudrehen. Ich glaube allerdings, dass gerade diese kleinen Dinge dann die große Wirkung haben. Wenn nicht groß daneben steht: „Achtung, gendersensibel!“, sondern dieses Thema ganz beiläufig vermittelt wird. Gleiches gilt, wenn man eine Figur einbaut, die schwul oder lesbisch ist, und das aber nicht zum Problem macht – es ist einfach so.  


Reifenberg: Es geht einfach um die Sichtbarkeit.


Blaue Seite: Und das wird von den Verlagen dann auch so angenommen? Weil Sie ja gerade ansprachen, dass vor allem das Marketing noch sehr geschlechterspezifisch ausgelegt ist.


Tielmann: Natürlich, aber zum Glück nicht das Lektorat. Von daher wird das selbstverständlich angenommen.  


Blaue Seite: Dann nur noch einmal unsere immer gleiche Abschlussfrage: Was ist für Sie eine Blaue Seite?


Tielmann: (Autoren gucken sich zweifelnd an.) Wir vermuten, dass das eine Fangfrage ist.


Reifenberg: [überlegt] Meine Lieblingsfarbe!


Tielmann: Franks Lieblingsfarbe! [lacht] Nein, sagen wir Yves Klein. Der hat ein paar wirklich blaue Seiten gemalt.


Blaue Seite: Vielen Dank für das Interview!

RedakteurRedakteur: Clara, Ferdinand
FotosFotos: Anna
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