Warum die besten Lesungen die sind, bei denen man einschläft
Das Licht im Saal geht aus und das auf der Bühne an. Der Leser – ob Autor, Hörbuchsprecher, Übersetzer oder Schauspieler – senkt den Blick und beginnt zu lesen. Geschichten malen in jedem Kopf eigene Bilder, nie sind sie gleich und nie offensichtlich für andere.
Mit geschlossenen Augen sitzt man auf seinem Stuhl und kann die Hauptperson in jedem Detail erfassen. Die Stimme von der Bühne, die durch ein Mikrofon dringt, ist die Melodie, auf der die Figuren in unserem Kopf anfangen zu tanzen. Sie strotzen nur so vor Energie und werden immer lebendiger. Die Gedanken verheddern sich in den Geschichten der Protagonisten und entführen uns in eine Welt, die wir noch nicht kennen.
Langsam beginnt man, alles um einen herum zu vergessen, die Gedanken werden immer intensiver und die Augenlider lassen sich nur noch schwerlich öffnen. Die Stimme von der Bühne hüllt einen in eine warme Decke, die einen festhält und verhindert, dass man vom Stuhl gleitet. Die Geschichte nimmt in den Köpfen plötzlich ganz andere Wendungen als jene, welche von vorne zu unseren Gehörgängen drängen. Unglaubliche Geschichten, die einfach immer weitergehen, ohne ein Ende zu finden.
Plötzlich geht das Licht an und alle werden aus ihrer ganz persönlichen Geschichte gerissen. Verstohlen schaut sich jeder um, ob niemandem aufgefallen ist, dass man tatsächlich die Augen zu hatte und ein wenig weggenickt ist. Ist so etwas wirklich ein Grund, sich zu schämen? Natürlich hat man als Leser sofort das Gefühl, dass die Leistung, welche man gerade erbracht hat, nicht anerkannt wurde, aber für mich ist das der beste Beweis, dass es eine super Lesung war. Dieses Gefühl, mit den Gedanken nur noch bei dieser Lesung zu sein, ist ein schönes und ein entspannendes Gefühl.
Denn wer kann schon schlafen, wenn eine Stimme unangenehm ist? Und wie viele Leute schlafen am liebsten bei Hörbüchern ein?
Linnea Müller