Joseph Moon ist jung, fertig mit der Schule und arbeitslos. Und er hat einen Bruder: Edward, der im Todestrakt sitzt.
Josephs Kindheit war die Geschichte einer zerfallenden Familie. Seinen Vater verlor er schon früh; seine Mutter ist depressiv und alkoholkrank; Seine Tante hat einen Job und regiert die Familie mit harter Hand. Josephs einziges Glück ist sein großer Bruder Edward, der trotz Problemen in der Schule immer für Edward da ist, ihn vorurteilsfrei annimmt und auf Augenhöhe behandelt. Doch irgendwann bricht er unter allen Problemen zusammen – und verschwindet.
Wenige Wochen später erhält die Familie einen Anruf. Edward wird beschuldigt, einen Polizisten erschossen zu haben und zum Tod verurteilt, obwohl er an seiner Unschuld festhält. Die Geschichte beginnt, als der Erwachsene Joseph Jahre später das Datum erfährt, an dem Edward sterben soll und durch die halben USA nach Texas reist, um die letzten Monate mit seinem Bruder zu verbringen. Mehr schlecht als recht findet er eine Wohnung und Arbeit. Doch er hat seinen Bruder seit Jahren nicht gesehen, nur über sporadische Briefe den Kontakt gehalten – und kurz bevor er das erste Mal durch eine dicke Plexiglasscheibe mit ihm reden darf, fragt sich Joseph: „Wer zum Teufel ist Edward Moon?“
Es geht in diesem Buch von Sarah Crossan um zwei Freunde, die sich nach langer Zeit wiederfinden, es geht um ein ungerechtes, geradezu willkürliches Justizsystem und es geht um einen Mann, der im Angesicht des Todes nicht die Hoffnung auf Begnadigung verliert, der nicht verlernt, mit seinem Bruder zu lachen.
Aber der Roman hat den Anspruch mehr zu sein als ein Essay über das amerikanische Justizsystem. Es hat den Anspruch, seinem Protagonisten Tiefe zu geben, es will nicht nur Missstände aufdecken, sondern Emotionen wecken, den Leser mit der Familie weinen lassen, anstatt ihr beim Leiden nur über die Schulter zu gucken.
Und ich habe das Gefühl, die Autorin hat verstanden, dass es dafür mehr braucht als eine Frau, in die sich Joseph verlieben kann, einen besten Freund, der ihm ab und zu schreibt und eine trauernde Mutter. Die Liebesgeschichte ist sicher nicht der Grund, dieses Buch zu lesen, aber sie ist auch kein Störfaktor und hilft wirklich, mit dem Protagonisten zu fühlen. Was mir persönlich aber am wichtigsten ist: Sie hat Bezug zur Handlung! Natürlich ist sie ein Nebenplot und eine eigene Geschichte, die erzählt wird, aber trotzdem bleibt die Haupthandlung nicht auf der Strecke, wenn Jo Zeit mit der Texanerin Nell verbringt. Und auch alle anderen Kapitel, die nicht direkt weiter im Text gehen, lenken überhaupt nicht ab, sondern sind eher eine interessante Abwechslung – ob es Kindheitserinnerungen sind, ein weiterer Abschnitt der Familiengeschichte, oder eine Nachricht vom besten Freund.
Ich mochte dieses Buch. Es war deprimierend, aber ich mochte es wirklich sehr. Und das liegt, als allererstes, an den Emotionen, die es vermittelt. Natürlich übertreibt die Sunday Times, wenn sie schreibt: „Jeder Leser, der ein Herz hat, wird eimerweise Tränen vergießen“, aber das Buch war wirklich sehr bewegend. Das Gefühl, das mir am meisten in Erinnerung bleiben wird, ist, wie direkt am Anfang des Romans feststeht, dass Edward sterben wird – und ich genau wie Joseph die Hoffnung nie aufgeben konnte, egal wie sicher war, dass die Berufungsverhandlungen scheitern würden. Und wie ich selbst in den Stunden vor der Hinrichtung immer noch auf den Anruf des Gouverneurs gewartet habe, der die Hinrichtung verschiebt, egal wie sicher war, dass er nicht kommt.
Nicht sicher bin ich mir, was ich über den Schreibstil denke. Sarah Crossan schreibt freie Lyrik in ein- bis vierseitigen Kapiteln und dass diese Form zur Geschichte passt, steht außer Zweifel. Aber manchmal kommt es mir vor, als würde diese Form zu schreiben ein bisschen davon ablenken, dass das Zeichnen von Situationen, poetischen Momenten nicht die größte Stärke der Autorin ist.
Deshalb bin ich nicht sicher, ob dieses Buch wirklich der beste Jugendroman sein kann, der letztes Jahr in deutscher Sprache erschienen ist.
Aber wer sucht, findet immer einen Punkt zum Kritisieren. Und all die Kleinigkeiten beiseite gelassen, ist dieser Roman auf jeden Fall eine Empfehlung wert – wenn auch nichts für schwache Nerven.