Interview

Interview mit Alexia Casale

Im Oktober 2014 hatten wir die Gelegenheit, auf der Frankfurter   Buchmesse mit Alexia Casale zu sprechen, der Autorin von „Die Nacht   gehört dem Drachen“.

Blaue Seite: Was ist das für ein Gefühl, für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert zu sein?

Alexia Casale: Es ist eine große Ehre und eine  unglaubliche Möglichkeit für einen Autor, ein anderes Land zu besuchen,  hier zu arbeiten und über Bücher zu sprechen. Einfach wundervoll, und  eine außergewöhnliche Erfahrung von Anfang bis Ende. Ich bin sehr  dankbar, dass das möglich ist.

BS: Warum haben Sie dieses Thema für Ihr Buch gewählt?

AC: Ich arbeite nicht nur als Autorin, sondern bin  unter anderem auch ehrenamtliche Herausgeberin im Bereich Human Rights  Non-Fiction. Ich beschäftige mich in diesem Wohltätigkeitsprojekt vor  allem mit Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden oder Opfer  von Missbrauch geworden sind. Ich wollte mit meinem Buch schwierige  Fragen stellen, die ich sonst nicht hätte stellen können.

BS: Worin besteht diese Arbeit konkret?

AC: Das ist ganz unterschiedlich. Eine Zeit lang  habe ich mich sehr auf das Veröffentlichen von Texten konzentriert. Ich  wollte Menschen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört würden. Ich  habe früher auch viele Selbsthilfegruppen geleitet, um Menschen, die  ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zusammenzubringen. Um ihnen Wege zu  zeigen, sich gegenseitig zu unterstützen.

In diesem Buch ist das Schweigen und Sprechen ein ganz wichtiges  Thema. Eine Frage, über die wir uns in den Selbsthilfegruppen Gedanken  gemacht haben, war, ob es immer gut ist, über seine Erfahrungen zu  sprechen. Dieser Frage wollte ich auch in meinem Buch nachgehen: Hilft  es wirklich jedem, darüber zu sprechen? Manchen Menschen hilft es eben  nicht, das ist sehr verschieden. Es war eine spannende Arbeit und eine  Herausforderung, meine Erfahrungen in ein Buch einfließen zu lassen. Es  ging darum, es nicht wie eine Gebrauchsanweisung klingen zu lassen,  sondern die Leser zum Nachdenken anzuregen.

BS: (Vorsicht: Hier wird über das Ende des Buches  gesprochen) Beim Lesen des Buches waren wir der Meinung, dass es darum  geht, zu vergeben. Aber am Ende nimmt die Hauptperson Rache an ihren  Peinigern. Was ist also ist Ihre Botschaft?

AC: Eine sehr gute Frage. Das ist eine der  Schwierigkeiten für Autoren wie mich. Ich mag es nicht, wenn in einem  Buch eine Botschaft versteckt ist. Aber ich versuche eben, Fragen zu  stellen. Manche Leute lesen mein Buch und denken, dass das Ende des  Buches eine Botschaft ist. Dabei ist das wirklich nicht meine Absicht.  Für mich gibt es am Ende zwei Möglichkeiten, was passiert ist und wer  verantwortlich ist. Es gibt eine Möglichkeit, die logisch ist. Wir  spüren, was wahrscheinlich war ist. Gleichzeitig haben wir die bequeme  Möglichkeit eines Happy Ends. Ich hoffe, dass der Leser mit Evie  mitfühlt und sich ein Happy End für sie wünscht. Wenn ihn dann das Ende  des Buches verwirrt, gefällt mir das. Denn das, was Evie glücklich  macht, ist nicht unbedingt das, was den Leser glücklich macht. Der Leser  ist quasi in der gleichen Situation wie Evie. Auf einer gewissen Ebene  muss sie wissen, was wahr ist, aber sie kann die Wahrheit nicht sagen.

Unser System der Strafjustiz ist in meinen Augen sehr ungerecht. Eine  Straftat wird begangen und nichts passiert. Ich weiß nicht, ob das  Strafrecht die Lösung ist. Ich sage nur, dass es sehr schwer ist, eine  Lösung zu finden. Evie hat eben diesen Drachen. Manchmal ist die  Wahrheit in diesen Situationen unerträglich. Wenn in dem Buch eine  Botschaft versteckt ist, dann die, dass wir manchmal unsere Fantasie  brauchen, um die Welt zu einem erträglichen Ort zu machen.

BS: Denken Sie, dass es in Ordnung ist, Rache zu nehmen und Gewalt mit Gewalt zu vergelten?

AC: Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage.  Ich denke, dass es von der Art der Rache und der konkreten Situation  abhängt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine Form der Rache  ist, Menschen in Gefängnisse zu sperren. Ein „Auge um Auge“ wird uns  nicht ins Chaos stürzen, aber das ist trotzdem nicht der richtige Weg.  Wir müssen einen Weg finden, auch den Opfern zu helfen. Denn „Hilf dir  selbst!“ ist für sie keine Lösung. Die Opfer brauchen mehr  Mitspracherecht. Sie müssen wütend sein dürfen und weinen – in unserem  System haben wir dort eine Lücke. Aber nein: Ich befürworte keinesfalls  Gewalt.

Wenn man sich an Menschen rächen will, kann es hilfreich sein, das in  der Fantasie zu tun. Wenn du das Gefühl hast, du möchtest jemandem  Gewalt zufügen: Setz dich lieber hin und schreib es auf.

BS: Würden Sie sich dazu in der Lage sehen, ein Kind mit einer schweren Vergangenheit zu adoptieren?

AC: Das würde sehr von dem Kind abhängen. Im Buch z.  B. ist es so, dass Evie, Paul und Amy einander verstehen – sie haben  eine Beziehung zueinander. Das ist sehr wichtig: Wenn diese Beziehung  zueinander besteht, denke ich, dass man durchaus in der Lage ist, alles  Mögliche als Familie zu bewältigen.

BS: Ein Punkt, auf den ich näher eingehen möchte:  Was ist in Ihren Augen der beste Weg, um über schlimme Erfahrungen  hinwegzukommen? Vergeben und vergessen oder den Täter juristisch  verfolgen?

AC: Tatsächlich weiche ich da komplett von der  gängigen Sichtweise ab. Wenn in meinem Leben etwas Schlechtes passiert,  versuche ich, es in etwas Gutes umzuwandeln. Das ist nicht immer  einfach. Es bedeutet auch nicht, dass das Falsche dadurch richtiger  wird. Aber wenn etwas Gutes aus etwas Schlechtem resultiert, hast du  daraus einen Vorteil für dich gewonnen und so eine Art Kontrolle  darüber.

Das Buch ist keine Autobiographie, aber diese Erkenntnis kam mir, als  ich eine Operation hatte. Mir wurde auch eine Rippe entfernt. Kein  Highlight im Leben. Ich wünsche es niemandem.

Ich arbeitete schon an den Themen und möglichen Enden des Buches,  bevor ich die Charaktere oder eine Geschichte hatte. Aber dann kam die  Operation. Die Ärztin gab mir meine Rippe – genau wie in dem Buch. Das  ist wirklich direkt aus meinem Leben. Hier war ich diejenige, die etwas  aus ihrer Rippe machen wollte. Meine Ärzte fragten: „Wie? Was möchtest  du daraus machen?“ Und ich antwortete: „Ich bin Schriftstellerin. Ich  mache daraus ein Buch.“ Plötzlich war da Evie in meinem Kopf. Jetzt  hatte ich die Geschichte und die Figur für diese Themen. Meine Genesung  war nicht gerade angenehm und hat sehr lange gedauert. Aber weil ich es  nutzen und in ein Buch verwandeln konnte, war es keine durchweg  schlechte Zeit. Wenn du einen Weg findest, das Schlechte in etwas Gutes  zu verwandeln, kann das sehr hilfreich sein.

Während meiner Wohltätigkeitsarbeit hat mir das sehr geholfen. Ich  litt als Teenager unter einer Essstörung. Ich wollte das unbedingt in  etwas Nützliches umwandeln. So habe ich mit der gemeinnützigen Arbeit  angefangen. Ich sagte mir, anstatt depressiv zu sein und die Krankheit  mein Leben beherrschen zu lassen, lerne ich all diese neuen Dinge, eigne  mir diese Fähigkeiten an und helfe damit anderen Menschen. Meine  Erfahrung ist nicht etwas ausschließlich Schlechtes. Das ist etwas, das  ich selbst zu etwas Gutem umwandeln werde – mit aller Kraft. Wenn du  dazu in der Lage bist, nimmst du auf gewisse Weise Rache an Menschen,  die dir Schlimmes zufügen. Indem du sagst: „Du versuchst, mir etwas  wegzunehmen – ich nutze das und mache daraus das Beste, was für mich  möglich ist.“

BS: Gibt es Pläne für eine Verfilmung?

AC: Das Problem ist: Wie kann man Evies Perspektive  ohne Voice-over erzählen? Ich bin mir nicht sicher, ob das funktionieren  würde. Deshalb komme ich mit der Drehbuchversion nicht voran. Ich muss  mich erst entscheiden, wie ich dieses Problem lösen kann. Da ist so  viel, was nur in ihrem Kopf passiert. Filme müssen davon handeln, was  wirklich passiert. Das ist der Sinn und Zweck dieses Mediums. Ich bin  mir nicht sicher, ob ich diese Geschichte filmgerecht erzählen könnte.  Ich würde zwar gerne, aber auf der anderen Seite arbeite ich an anderen  Büchern, die in meinen Augen viel besser zu verfilmen wären. Um etwas zu  verfilmen, muss die Geschichte passen, man muss sie anschauen können.

BS: Geht es da um ein anderes Buch, das veröffentlicht wird?

AC: Ja. Mein neues Buch erscheint nächsten Sommer  (2015) in England auf Englisch bei Faber. Wer weiß, vielleicht erscheint  es ja auch irgendwann hier in Deutschland. Ich kann zwar den Titel  nicht nennen, aber ich darf ein bisschen über den Inhalt sprechen. Der  Fokus liegt auf einem 15-jährigen Jungen, auf die Universität von  Cambridge kommt, aber kein Genie ist. Das Buch beschäftigt sich also mit  der Frage, warum und wie jemand, der zwar sehr aufmerksam, aber eben  kein Superhirn ist, in solch einem Alter in Cambridge landet. Wie würde  sein Leben aussehen?

BS: Das sind aufregende Neuigkeiten!

AC: Vielen Dank. 

BS: Nun zu unserer letzten, traditionellen Frage: Was assoziieren Sie mit einer blauen Seite?

AC: Ich kam darauf, als ich die schöne Rezension  gelesen habe, die ihr über mein Buch geschrieben habt. Ich bin sehr  glücklich, hier zu sein. Danke für alles! Dafür, dass ihr hier seid und  dass ihr so eine nette Rezension geschrieben habt.

BS: Vielen Dank für das Interview, es war sehr schön, Sie kennen zu lernen.

RedakteurRedakteur: Hanna, Estelle
FotosFotos: Bjarne
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