Interview mit Angie Thomas

Interview

Während ihrer Lesungstour durch Deutschland hatten wir die Gelegenheit, die Autorin Angie Thomas zu ihrem Buch "The Hate U Give" zu interviewen.

Blaue Seite: Teilen Sie die Leidenschaft für Sneakers mit Ihrer Hauptfigur Starr?


Angie Thomas: Absolut! Ich habe das Gefühl, dass viele Mädchen auf Sneakers stehen. Mich ärgert es, dass Leute so tun, als wäre es falsch, Sneakers statt Hackenschuhen zu tragen. Meine Füße danken es mir auf jeden Fall!


Blaue Seite: Fox 2000 will Ihr Buch verfilmen. Haben Sie das Skript dafür geschrieben?


Angie Thomas: Nein, zwei andere Autorinnen haben das Skript geschrieben, aber sie haben das wirklich fantastisch gemacht. Ich hab mich viel mit ihnen unterhalten, sie haben mich an dem Prozess teilhaben lassen und immer wieder hinzugezogen (so wie der Regisseur übrigens auch). Natürlich ist es nicht genau wie das Buch, aber sie haben es wirklich geschafft, die Seele des Buches einzufangen, deshalb glaube ich nicht, dass Fans des Buches  vom Film enttäuscht sein werden.

Blaue Seite: Das ist toll, schließlich kriegen nicht alle Autoren die Möglichkeit, an der Verfilmung ihrer Bücher mitzuarbeiten.


Angie Thomas: Der Regisseur schreibt mir fast täglich SMS mit Fragen zu kleinen Details. Neulich fragte er mich, wann Khalil Geburtstag hat. Für solche Fragen werde ich also immer konsultiert.

Blaue Seite: Stimmt es, dass Amandla Stenberg die Rolle von Starr übernehmen wird?


Angie Thomas: Ja, das stimmt. Ich hatte schon die Gelegenheit, mich mit ihr zu unterhalten. Das war ein wirklich unvergesslicher Moment für mich. Sie ist großartig, sowohl als Mensch als auch als Besetzung für Starr.


Blaue Seite: Starr geht auf eine Privatschule, lebt aber im Ghetto. Warum ist diese Ungleichheit wichtig für das Buch?


Angie Thomas: Ich denke, dass es mehr Lesern hilft, sich mit ihr zu identifizieren. Es gibt viele Kinder, die, genau wie sie, in zwei Welten leben und sich selten in Büchern wiederfinden. Ganz abgesehen davon, dass dieser Zwiespalt auch lange Zeit zu meinem Leben gehörte: Ich ging auf eine private Uni, auf der überwiegend Weiße waren, während ich in einem Ghetto lebte.

Angie Thomas: Definitiv. Es ist meine absolute Lieblingsserie, ich könnte mich jedes Mal totlachen, wenn ich sie sehe. Aber sie beschäftigt sich eben auch mit sozialen Problemen, mit Rassismus und Racial Profiling. Die Geschichte von Will im Prinzen von Bel Air hat mich schon immer inspiriert: Ich wollte auch immer mir selbst treu bleiben, egal unter welchem Umständen. Auch Starr ähnelt ihm da sehr.

Blaue Seite: Im Buch spielt der Prinz von Bel Air eine große Rolle, weil er die Verbindung zwischen Starr und ihrem Freund Chris darstellt. Warum braucht es dieses verbindende Element?

Angie Thomas: Anders als Starr kommt Chris aus einer sehr wohlhabenden Familie. Deshalb wollte ich etwas einführen, das die beiden verbindet: Wenn er Wills (Prinz von Bel Air, Anm. d. Red.) Kampf nachvollziehen kann, versteht er vielleicht auch Starrs Situation besser. Ganz abgesehen davon, dass er zuerst ihre Aufmerksamkeit erregt, weil er den Titelsong der Serie kennt. Und egal, wie chaotisch die Welt um die beiden herum wird, sie haben immer diese Serie und ihre Unbeschwertheit, auf die sie sich besinnen können.

Blaue Seite: Auch Tupac spielt in Ihrem Buch eine große Rolle, nicht zuletzt, weil der Titel auf ihn zurückgeht. Haben Sie ihn ausgewählt, weil er auch auf offener Straße erschossen wurde?

Angie Thomas: Tupac hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Er ist mit Abstand mein Lieblingsrapper. Ich mag an ihm, dass er niemals aufgegeben hat. Und ich war schon immer fasziniert, wie komplex sein Charakter war – nicht vollkommen gut, nicht vollkommen böse. Ich habe in einem Interview von seiner Definition des Thug Life gehört, das Wort, das er auch auf seinem Bauch tätowiert hatte. Ich dachte: Das wäre der perfekte Titel für das Buch.
 Ich will so schreiben, wie er rappt: Ich will mich nicht zurückhalten, will ehrlich sein und meinen Lesern Hoffnung geben – und das Gefühl, es schaffen zu können. Das ist es, was seine Musik bei mir auslöst. Man kann seinen Einfluss in vielen Geschichten sehen, die ich geschrieben habe, vor allem in meinem zweiten Buch.

Blaue Seite: Sie arbeiten also an einem zweiten Buch? Darf man darüber schon etwas erfahren oder ist das ein großes Geheimnis?


Angie Thomas: Ein paar Sachen darf ich schon erzählen. Es spielt in einer ähnlichen Gegend wie „The Hate U Give“, hat aber inhaltlich nichts damit zu tun. Es ist also keine Fortsetzung, sondern hat ein komplett anderes Figurenensemble. Die Geschichte dreht sich um ein junges Mädchen, die ihre Stimme und ihre Kraft im Hip-Hop findet. Sie rappt. Sie hat es sehr schwer gehabt in ihrem kurzen Leben und ihre Familie war immer in einer unsicheren Lage. Hip-Hop ist für sie die Ruhe im Angesicht des Sturms, und es geht um den Weg, auf dem sie versucht, ihre Situation zu verbessern. Ich nenne das Buch meine Ode an Hip-Hop. Für viele Jugendliche, vor allem in den Staaten, war Hip-Hop die Bühne, auf der wir uns zuhause fühlten und das Gefühl hatten, wahrgenommen zu werden. Anders, als es mir mit Büchern ging.

Blaue Seite: Haben Sie auch gerappt, als Sie jünger waren? Rap und Roman sind schließlich sehr verschieden.

Angie Thomas: Auf jeden Fall. Ich bin beim Rappen nie besonders weit gekommen. Aber als Kinder haben wir gesehen, dass die Leute, die in unserem Viertel Geld hatten, immer Rapper waren. Und mit diesem Gefühl beschäftige ich mich in meinem neuen Buch: diesem Gefühl vieler junger Menschen in Amerika, ihre Situation nur verbessern zu können, wenn sie entweder Sportler oder Rapper werden. Das stimmt natürlich nicht, aber als Teenager dachte ich das.

Blaue Seite: Sie haben mit dem Buch 2011 als Kurzgeschichte begonnen. Viele Autoren schreiben ihre Romane innerhalb eines halben Jahres – wieso hat es bei Ihnen so lange gedauert, bis Sie das Buch fertig hatten?


Angie Thomas: Das Schreiben an sich hat nur ein halbes Jahr gedauert. Ich habe es im College als Kurzgeschichte geschrieben und dann viele Jahre nicht mehr daran gearbeitet. Ich war mir sicher, dass es kein Roman werden sollte. Nach fünf Jahren habe ich dann entschieden, dass es doch ein Buch werden sollte. Diese fünf Jahre habe ich gebraucht, um emotional bereit zu sein, das Buch zu schreiben. In erster Linie für mich selbst.  

Blaue Seite: 2013 ist die Bewegung „Black Lives Matter“ aufgekommen. Hat Sie das beim Schreiben Ihres Buches beeinflusst?

                                                    

Angie Thomas: Definitiv. Die Bewegung hat Menschen einen Raum verschafft, um über jahrhundertealte Probleme zu reden. Sie führt Menschen die Tatsachen vor Augen und zwingen sie, sich diese bewusst zu machen und zu verstehen. Diese Bewegung hat wunderbare Arbeit vollbracht und ich kann nur hoffen, dass sie eine Veränderung bewirkt. Sie hat mir eine Menge Kraft gegeben. Denn auch ich wollte mich zu diesem Thema äußern und ich glaube, so geht es auch vielen anderen. Ich hasse es, wenn Menschen die Bewegung schlechtmachen. Dabei entsteht diese negative Meinung meist durch Missverständnisse.

Blaue Seite: Gab es so große Missverständnisse?

Angie Thomas: Ja, es gab Leute, die die Vorhaben der Bewegung als die Pläne einer Terrororganisation an die Regierung weitergeleitet haben. Ich wollte mit dem Buch zeigen, warum wir sagen: „Black lives matter“. Damit die Menschen verstehen, dass dies keine Terrororganisation ist. Aber ich muss auch sagen, dass ich mich derartige Unterstellungen nicht überraschen. Wir haben in Amerika eine Tradition, nach der du als Terrorist bezeichnet wirst, wenn du für Afro-Amerikaner einstehst. Als Martin Luther King noch am Leben war, galt er als Terrorist. Leider wiederholt sich die Geschichte.

Blaue Seite: Sie haben im Buch einen Untersuchungsprozess aus Starrs Perspektive beschrieben. An diesem Punkt hat mir das Buch die Augen geöffnet. Mir wurde klar, wie Ungerechtigkeiten entstehen. Wussten Sie da schon, wie solche Vorgehen vonstattengehen? Wie haben Sie das recherchiert? Haben Sie einen solchen Prozess selber miterlebt?

Angie Thomas: Ich habe viel Recherche betrieben und mich dabei auf eine Sache konzentriert, nämlich: wie Michael Browns Freunde es empfanden. (Michael Brown wurde 2014 von einem Polizisten in Ferguson, USA erschossen, Anm. d. Red.) Sie haben sich mehr um Mikes Vergangenheit gekümmert als um das, was er in dem Moment tat. Das war definitiv eine Inspiration für mich. Ich habe viele Gespräche mit ihnen geführt, um sie richtig zu verstehen. Ich denke, das Wichtigste, was ein Autor machen kann, ist recherchieren. So können wir den Lesern etwas mitteilen – und wenn wir etwas falsch verstanden haben, vermitteln wir den Lesern falsche Fakten

Blaue Seite: Im Buch ist eine Szene, in der Starr an einer Demo teilnimmt und zu der ganzen Menge sprechen muss. Haben Sie je für etwas demonstriert?

Angie Thomas: In Jackson, wo ich wohne, finden nicht besonders oft Demos statt. Aber ich möchte auf jeden Fall an Veranstaltungen gegen die Flagge des Staates Mississippi teilnehmen. Unsere Flagge geht noch auf den Bürgerkrieg zurück. Sie ist die Flagge der Südstaaten, die die Sklaverei verteidigt haben, Damit bin ich natürlich ganz und gar nicht einverstanden. Meine Mutter ist von meinem Engagement nicht unbedingt begeistert. Ich glaube, dass wir uns Gehör verschaffen müssen, irgendwie, auf welche Art auch immer. Für mich gehört Kunst auch zu einer Art von Aktivismus. Ich hoffe, dass meine Bücher jungen Leuten die Kraft geben, selbst zu protestieren.

Blaue Seite: Glauben Sie, dass ein Buch etwas in unserer Generation oder auch in der Welt verändern kann? 

Angie Thomas: Ich hoffe, dass das Buch Empathie hervorruft und den Lesern hilft, sich in die Lage von Starr versetzen. Dass es bewirkt, dass eine Generation von Kindern – besonders die Teenager – mit Weißen und Afro-Amerikanern aufwachsen können. Dass es sie bestärkt, ihre Meinung zu sagen. Ihr müsst auch bedenken, dass diese Menschen in vier Jahren wählen gehen. Ich hoffe, dass sie bei der Wahl an Starr denken und sich genau den Kandidaten anschauen, den sie wählen. Vielleicht beenden sie auch vier weitere Jahre von Trump.

Blaue Seite: Ich hoffe es, ich mag ihn nicht. 

Angie Thomas: Das erste Mal, als ich gewählt habe, habe ich für Obama gestimmt und es war für mich wirklich etwas Besonderes. Das Recht, zu wählen, muss man wirklich ernst nehmen.

Blaue Seite: Auf jeden Fall. Auch wir haben in Deutschland eine sehr rechte Partei. Wir versuchen dennoch, mit unserer Meinung in Deutschland etwas zu bewegen. Aber es ist schwierig, den Stimmen von uns Jugendlichen Gehör zu verschaffen.

Angie Thomas: Aber ihr müsst weitermachen! 

Blaue Seite: Als ich gehört habe, wie viele Menschen in meinem Alter nicht zur Wahl gegangen sind, hat mich das sehr frustriert. Ich meine: Wieso nicht? In manchen Ländern hat man nicht einmal das Recht, zu wählen – und hier nehmen sie ihr Recht nicht wahr. Das ist wirklich traurig. 


Angie Thomas: Ich hoffe, dass Menschen jetzt gesehen haben, was im Vereinigten Königreich und in Amerika passiert ist – und verstehen, dass ihre Stimme einen Unterschied macht. Denn es war nur eine kleine Gruppe, die Trump gewählt hat. Wäre jeder zur Wahl gegangen, hätte er wahrscheinlich nicht gewonnen. Das war ein Weckruf – und ich hoffe nicht nur für uns Amerikaner, sondern für die ganze Welt. 


Blaue Seite: Ja, das stimmt. Kommen wir auf Sie und Ihr Buch zurück: Ihr Leben hat sich jetzt verändert, aber was genau? 

Angie Thomas: Ich kann reisen. Mehr Leute kennen meinen Namen und erkennen mich. Es ist komisch, jetzt eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Ich habe sogar den blauen Haken bei Twitter bekommen (verifizierter Twitter-Account, Anm. d. Red.). Ich muss vorsichtig sein, was ich in sozialen Netzwerken sage, weil dem jetzt viele Leute Beachtung schenken. Manchmal ist der Druck groß, aber immer wenn ich dieses Buch in den Händen halte, dann weiß ich: Das ist meins. Das bin ich. Ich denke, Schreiben ist meine größte Stärke. Meine Mutter hat mir einen großen Erfolg ermöglicht und motiviert mich, weiterzumachen (lacht).


Blaue Seite: Wer hat Ihnen erzählt, wie beispielweise Starr sich in der Nähe von der Polizei verhalten muss? 


Angie Thomas: Ein Cousin, der Polizist ist. Er war in Jackson als Polizeibeamter berüchtigt, der die Türen, hinter denen Drogendeals abliefen, einfach eingetreten hat, statt so zögerlich wie die meisten anderen da ranzugehen. Man kannte ihn. Er wusste aber auch von Polizisten, die ihre Macht ausnutzen und rassistisch sind. Er wollte, dass ich mich in brenzligen Situationen nicht in Gefahr bringe.

Blaue Seite: Ich glaube, Sie haben auch über Repräsentation und Medien gesprochen, wie beispielsweise die Präsenz verschiedener Hautfarben in Büchern und anderen Medien. Sehen Sie da eine Verbesserung? 


Angie Thomas: Ich hoffe es zumindest. Es hat sich in dieser Hinsicht etwas  bei Menschen mit dunkler Hautfarbe getan: Sie übernehmen immer öfter die Hauptrolle in Büchern, auch wenn 25 % aller Hauptrollen in Büchern von Tieren verkörpert werden (lacht). Aber ich werde weiter über nichtweiße Hauptcharaktere schreiben. Auch über lesbische, schwule, transsexuelle, bisexuelle und Queer-Kinder. Wir brauchen eine viel differenzierte Perspektive. Das ist nicht nur für die Kinder wichtig, die sich selbst in diesen Charakteren wiedererkennen. Sondern auch für die Kinder, denen diese Menschen fremd erscheinen. 


Blaue Seite: Ja, Bücher sind auch ein Fenster zur Welt. Wir Bücherpiraten legen immer zu Beginn unseres Treffens alle neue Bücher auf den Tisch und lesen den Klappentext vor. Jedes Mal stellen wir fest, dass alle Bücher gleich klingen. Es geht immer um ein weißes Mädchen und eine weißen Jungen. Das ist so langweilig. Wir wünschen uns vom Buchmarkt etwas anderes, etwas Neues. 


Angie Thomas: Lasst es die Autoren wissen. Bei uns in Amerika haben wir die Feststellung gemacht, dass auch solche Bücher gefragt sind. Früher war so was nicht vorstellbar. Es wichtig, diese Bücher und ihre Autoren zu unterstützen. 

Blaue Seite: Welche Emotionen wecken Bücher in Ihnen? 

Angie Thomas: Sie zeigten mir, dass es mehr auf der Welt gibt, als man normalerweise mitbekommt. Wenn du in den USA lebst, dann bist du in dieser Wolke, in der sich alles nur um die USA dreht. Ich kenne heute noch Kinder, die nie noch nie geflogen sind. Sie sind in dieser Wolke und denken, es gibt nichts anderes in der Welt. Nur, was sie jeden Tag sehen. Aber Bücher ermöglichen mir die Erkenntnis, dass da draußen noch viel mehr ist. Sie bestärken mich auch, das Recht einzufordern, mehr von der Welt zu sehen. 

Blaue Seite: Zur letzten Frage, die wir immer stellen: Was ist für Sie eine blaue Seite?

Angie Thomas: Ohh ... Ich denke die Blaue Seite ist ein wundervoller Weg, Leute miteinander zu verbinden und ihren Horizont zu erweitern. Ich finde es fantastisch, was ihr macht. Die Blaue Seite zeigt, dass Menschen ihre Meinung kundtun und ihre Medienplattformen dafür nutzen können. War die Antwort o. k.?

Blaue Seite: Ja (lacht). Es gibt keine falschen Antworten. Das war eine wirklich schöne Antwort. 

Angie Thomas: Danke. 

RedakteurRedakteur: Celina
Nach oben scrollen