Interview mit Antonia Michaelis
Mitte September hatten einige von uns die Möglichkeit, die Buchpräsentation von Antonia Michaelis’ neuem Buch „Solange die Nachtigall singt“ zu moderieren. Dabei durfte natürlich auch ein Gespräch mit Fragen an die Autorin nicht fehlen.
Blaue Seite: Hast du dich schon mal im Wald verlaufen?
Antonia Michaelis: Ja, schon oft, denn da, wo ich wohne, gibt es teilweise sehr große Waldgebiete, darunter viel wilder Wald.
Sehr gut in Erinnerung ist mir noch, wie ich mich einmal mit meinem Mann und unserer ersten Tochter im Wald verlaufen habe. Sie war damals sehr klein, sodass man sie noch in einer Kiepe umschnallen konnte. Heute ist sie vier Jahre alt und hat neulich zu mir gesagt: „Mama, ich bin blond. Von innen und von außen.“ Aber das nur nebenbei, sie ist auch nicht ganz blond. Ich hatte sie damals also um, und es fing an dunkel zu werden und zu regnen. Wir haben die Straße nicht wiedergefunden und mein Mann weiß natürlich immer genau, wo es lang geht, aber diesmal hatte er sich geirrt. Es war kalt, es war glaube ich November, und irgendwann habe ich Angst bekommen. Ich habe mir gedacht, dass wir, wenn die Nacht kommt, mit unserer kleinen Tochter schlechte Karten hätten. Gott sei Dank haben wir das Auto dann wiedergefunden, nachdem ich ihn überredet hatte, doch mal in der anderen Richtung zu suchen. Ich habe schon einige solcher Erlebnisse gehabt, insofern ist das bestimmt mit ins Buch eingeflossen.
BS: Was war deine erste Idee [zu „Solange die Nachtigall singt“]?
Antonia Michaelis: Die Ideen kamen mir durch einen alten Herbstkatalog von Gudrun Sjödén. Auf diesem war ein hübsches Mädchen mit pechrabenschwarzen Haaren zu sehen. Allerdings gab es in diesem Katalog nichts, was man hätte kaufen können, weil die Kleider merkwürdige Muster hatten und alle sehr groß waren. Aber die Kataloge an sich sind sehr schön und die Fotos sind noch schöner. Dort waren Fotos von drei Frauen in einem Herbstwald und in einem Museum abgebildet, die sehr unterschiedlich aussahen. Im Museum standen sie vor Bildern, auf denen auch vernebelter Wald zu sehen war und hatten Äste in der Hand mit irgendwelchen Flechten dran und ausgestopfte Vögel auf der Hand oder der Schulter. Eigentlich sollte das wohl schön wirken, aber ich habe es eher als gruselig wahrgenommen. Ich weiß noch, wie ich an einem Abend in der Küche vor dem Kamin lag und zu meinem Mann gesagt habe: „Das ist ein Buch.“ Und dann wurde es ein Buch.
BS: Und wie hast du diese Idee dann weiterentwickelt?
Antonia Michaelis: Bei mir ist das immer so, dass ich mir einen Trailer vorstelle und denke, dass er gut ist, ich aber keine Ahnung habe worum es geht. Und dann muss man aktiv nachdenken. Ich würde lieber ins Kino gehen und gleich den ganzen Film sehen, weil das einfacher wäre. Ich versuche dann die Stimmung aus dem Trailer zu transportieren. Dabei fliegen auch viele Sachen wieder raus, zum Beispiel die ausgestopften Vögel. Ursprünglich war das gedacht als ausgestopfte Vögel, die plötzlich wegfliegen, aber das hatte irgendwie keinen Platz mehr. Ich bin damals viel im Wald spazierengegangen. Aber vor dem Buch gab es das Lied der Nachtigall. Ich bin dann wieder mit meiner Tochter im Wald spazieren gegangen, und sie wollte nicht, dass ich singe, weil ihr das zu unheimlich war. Trotzdem habe ich diese Melodie vor mich hin gesummt und dadurch ist das Lied entstanden. Ich hatte schon eine vage Idee des Buches, aber zuerst habe ich das Lied und die Melodie aufgeschrieben. Und wenn man das Rätsel, das im Buch versteckt ist, kennt, dann versteht man auch das Lied.
BS: Du sagst, du hast das Mädchen durch den Katalog gefunden, wie hast du deine anderen Charaktere gefunden?
Antonia Michaelis: Das ist Neo-Romantizismus. Klassisch gibt es da einen naiven, ein bisschen doofen Jungen, der in den Wald geht und der typischerweise achtzehn ist. Das kommt in der Romantik aber auch im Romantizismus immer wieder vor. Er geht also in einen Wald, das muss nicht immer ein echter Wald sein, das kann auch ein Wald aus Gedanken oder aus Häusern sein, und alles ist anders, als er denkt. Seine Naivität wird ihm dabei ein bisschen zum Verhängnis und das ist eigentlich immer mit einer Liebesgeschichte verbunden. Eigentlich ist es also ein Zitat aus der Romantik. Die anderen Personen sind da einfach hineingehüpft.
BS: Wie sind deine Kapitelüberschriften zu Stande gekommen?
Antonia Michaelis: Das sind Farben aus dem Gudrun Sjödén-Katalog. Es gibt diese Farben aber nicht wirklich, die habe ich mir ausgedacht. Teilweise sogar zusammen mit meiner Lektorin, weil wir zu wenige Farben hatten, und dann mussten wir uns noch bescheuertere Farben ausdenken. Bei den Katalogen ist das nämlich so, dass man Kleider in Morgen-Blaubeere oder in Untertischwasser kaufen kann. Und dann fragt man sich, was das wohl sein könnte und dann bestellt man das Kleid in Morgen-Blaubeere und dann ist es gelb. Das kommt durchaus vor und deshalb habe ich mir gedacht, dass wir den Kapiteln so richtig bescheuerte Namen geben können. Aber alle finden die toll. Ich habe auch versucht, die Farben zu variieren, das nicht nur immer rot vorkommt und häufig kommen die Farben auch in dem Kapitel vor. Der Grund, warum wir die Namen auch noch unten an den Rand gedruckt haben, ist, damit man sich besser zurechtfindet, weil die Handlung teilweise doch sehr verwirrend ist.
BS: Bist du denn selber manchmal durcheinander gekommen?
Antonia Michaelis: Ich bin sogar einmal sehr durcheinander gekommen, darauf hat mich eine Bloggerin aufmerksam gemacht: Es gibt eine Szene, da sind die Mädchen nackt und Jari, der Hauptcharakter, zieht sie aus. Ich meine man kann sich nicht oft genug ausziehen, aber das ist in der Tat ein wenig unlogisch. Außerdem war das Buch anfangs viel zu lang und als wir es dann gekürzt haben, passte das Ende nicht mehr richtig. Es war also manchmal schon etwas durcheinander.
BS: Du erzählst mit deinen Büchern in einer gewissen Art und Weise immer Märchen. Findest du, dass man heutzutage noch Märchen erzählen kann?
Antonia Michaelis: Was ist denn eigentlich ein Märchen? Wenn man sich das überlegt, bemerkt man irgendwann, dass es eigentlich keine befriedigende Definition gibt. Darum kann man eigentlich immer Märchen erzählen. Märchen haben für mich nichts Altmodisches, für mich ist ein Märchen am ehesten eine in sich geschlossene Geschichte mit einem Spannungsbogen, in der Gut und Böse vorkommen. Nur kann man das über sehr viele Bücher sagen. Es muss keinen Prinzen und keine Prinzessin geben – meine Tochter findet natürlich, dass es einen Prinzen und vor allem eine Prinzessin geben muss, aber ich finde, das muss nicht sein – und es muss auch nicht gut ausgehen. Es kann auch schlecht ausgehen, aber Gut und Böse tauchen irgendwie auf und schwarz und weiß tauchen vermutlich auch immer auf. Insofern kann man, glaube ich, auch noch in zehntausend Jahren Märchen erzählen, vielleicht kann man in zehntausend Jahren überhaupt nichts anderes mehr tun außer Märchen zu erzählen.
BS: Gut und Böse tauchen in deinen Büchern insgesamt häufig auf. Welche Rolle würdest du diesen beiden zu schreiben?
Antonia Michaelis: Das Böse spielt immer die Rolle des Guten und das Gute die Rolle des Bösen. Sie sind beide immer da, weil es kein weiß ohne schwarz gibt, aber das ist eine ziemlich abgegriffene Wahrheit. In „Solange die Nachtigall singt“ verfolgen wir den Weg eines Menschen zum Mörder, und es sind noch nicht alle Rätsel gelöst, auch den Weg der Mädchen zu dem Manipulativen, zu dem sie geworden sind, und vielleicht den Weg zurück. Ich finde es interessanter, Motive für das Böse zu untersuchen oder dem Leser vielleicht Vorschläge zu machen, woher es gekommen sein könnte, als einfach zu sagen: So, das ist böse. Das ist ja bei den klassischen Grimmmärchen so, da wird der Böse dadurch ganz eindeutig bestimmt, dass er immer sehr grausam bestraft wird. Interessant finde ich auch, wie das eine immer das andere bedingt: Man will etwas Gutes und es kommt etwas Böses heraus. Manchmal auch umgekehrt.
BS: Wie viel Realität steckt sonst noch in deinen Geschichten?
Antonia Michaelis: Wenn ich so durch den Wald gehe und eine Schlucht finde [genauere Erklärung im Buch], dann ziehe ich mir manchmal schöne Kleider an und dann sollte man mir lieber nicht begegnen. Es ist natürlich alles wahr, Geschichten sind natürlich immer wahr, aber was genau davon wahr ist, darf ich nicht verraten, sonst werde ich eingesperrt.
BS: In „Solange die Nachtigall singt“ und in „Der Märchenerzähler“ spielt der Winter eine große Rolle. Hast du besonders darauf geachtet?
Antonia Michaelis: Das kommt jetzt wieder auf das Buch an, im Romantizismus gibt es immer eine Verbindung zwischen dem Helden und dem Wetter, Gefühle werden im Wetter ausgedrückt, bei mir ist das ein Stück weit immer so. Natürlich ist auch immer die Umgebung wichtig, weil sie das Innere vom Menschen spiegelt, das habe aber nicht ich erfunden, das haben die damals erfunden. Das mit dem Winter ist so. Klar, im „Märchenerzähler“ ist Winter, in der „Nachtigall“ ist erst Spätsommer, dann Herbst und dann Winter, das lag am Katalog, weil das ein Herbst-Katalog war. Und ich habe mir überlegt, ob es noch Frühling wird, aber den habe ich dann weggelassen. Ich versuche da ein bisschen zu variieren, weil ich bei allen Büchern immer ganz viele Bilder sehe. Viele Leute sagen, dass meine Sprache ziemlich bildlich ist. Ich denke fast schon filmisch, wie eine Kamera und sehe dann dieses Setting. Jedenfalls sehe ich Farben und Dinge, insofern muss variiert werden, weil es langweilig ist, Bücher zu schreiben, die nur im Sommer spielen. Das nächste Buch spielt dann wieder im Frühling und im Sommer.
BS: Wie gehst du mit der Kritik um dein letztes Buch „Der Märcherzähler“ um?
Antonia Michaelis: „Ich gehe hinaus und trete nach dem Gemüse“, das ist allerdings ein Zitat von Walter Moers. Ich bin ganz schlecht darin, gehasst zu werden und am Anfang hat mich diese Kritik wirklich berührt. Ich habe immer Begründungen gesucht, ich wollte diese Leute anrufen und ihnen erklären, was ich gemeint habe. Aber dann haben mir viele Leute gesagt, dass ich mich nicht fertig machen solle, es gebe zu vielen Büchern negative Kritik. Und gerade bei Büchern mit Inhalt gibt es mehr Kritik, sonst kann man nur das Format kritisieren: Viereckig ist blöd, rund wäre besser. Trotzdem will ich immer noch diese Leute anrufen, es ist tatsächlich noch nicht ganz weggegangen. Denn ich habe nicht das gemeint, was diese Leute darin lesen, und wenn doch, dann aus anderen Gründen. Schmunzeln tue ich, wenn Leser der „Nachtigall“ geschrieben haben, dass sie das Ende nicht verstanden haben, obwohl am Ende etwas Wichtiges passiert, sie gleichzeitig aber geschrieben haben, dass das Buch langweilig gewesen ist, weil nichts passiert sei.
BS: Was ist die Aufgabe eines Autors heute? Früher war es zum Beispiel Gesellschaftskritik.
Antonia Michaelis: Natürlich immer noch ein bisschen Gesellschaftskritik, aber das wird meistens durch Negativ-Beispiele ausgedrückt: Es wird nicht gesagt, es ist so und so, sondern es wird eine Geschichte erzählt, aus der der Leser dann seine eigenen Schlüsse zieht. Wenn der Autor Glück hat, zieht der Leser die Schlüsse, die gemeint sind, und wenn der Autor Pech hat, zieht der Leser die falschen Schlüsse. Zum Beispiel haben viele aus dem „Märchenerzähler“ den Schluss gezogen, dass Jugendliche, nachdem sie das Buch gelesen haben, denken könnten, Vergewaltigungen seien grundsätzlich immer verzeihbar. Ich hätte daraus den Schluss gezogen, dass es nicht ratsam ist, betrunken mit jemand Unbekannten in eine Bootshalle zu gehen. Das ist etwas ganz anderes. Allerdings denke ich, dass ein Autor auf gar keinen Fall eine Vorbildfunktion hat und der Binsenweisheit, dass junge Mädchen ihre Vorbilder immer in Büchern finden, hänge ich nicht an. Es gibt viele Jugendbücher, in denen es immer diese eine Heldin gibt. In meinen Büchern gibt es Anti-Helden und in der klassischen Literatur sind es auch eher die Anti-Helden, die wir kennen. Goethes Faust zum Beispiel ist auf keinen Fall ein Vorbild, es ist ein Negativ-Beispiel – so ist es bei ganz vielen Büchern. Insofern ist die Aufgabe des Autors vielleicht einfach nur Geschichten zu erzählen, aus denen man Dinge schließen kann, aber nicht muss. Es kann auch seine Aufgabe sein, einfach nur zu unterhalten. Ich hoffe immer, dass meine Botschaften so gut versteckt sind, dass man sie nicht bemerkt, sondern nur spürt.
BS: Vielen Dank für das Gespräch