Interview

Interview mit Jostein Gaarder

Linnea Müller und Rahel Schwarz trafen Jostein Gaarder während der nordischen Literaturtage im November 2013 in Hamburg. Der Autor aus Norwegen, der bereits durch mehrere Werke wie „Sofies Welt“ bekannt wurde, gab ihnen ein Interview zu seinem neuen Roman „2084 – Noras Welt“.

BS: 20 Jahre, nachdem „Sofies Welt“ veröffentlicht wurde, sprechen wir nun über „Noras Welt“ – so heißt das Buch auf Deutsch. Wie fühlt es sich an, ein neues Buch zu veröffentlichen?

Jostein Gaarder:  „Sofies Welt“ wurde vor 20 Jahren veröffentlicht, in Norwegen aber zwei Jahre zuvor, also im Grunde vor 22 Jahren. Auf den deutschen Titel „Noras Welt“ hatte ich keinen Einfluss.Im Original heißt es „Anna – En fabel om klodens klima og miljo“ und Nora heißt Anna. Der Hanser Verlag hatte in diesem Jahr ein anderes Buch für junge Erwachsene im Programm, das „Anna und Anna“ heißt. Sie dachten, es dürfe nicht drei Annas gleichzeitig im Programm geben. Deshalb wollten sie den Titel in Nora ändern. Natürlich haben sie mich vorher um Erlaubnis gefragt.  Ich denke, solche Änderungen sind nicht unüblich. Ehrlich gesagt finde ich es ein bisschen ehrgeizig vom Verlag, das Buch „Noras Welt“ zu nennen.  Aber es gibt ja auch eine Verbindung zwischen beiden Büchern. „Sofies Welt“ ist ein pädagogisches Projekt, bei dem ich eine Geschichte benutze, um den Leser in die Welt der westlichen Gedanken und der westlichen Philosophie zu begleiten. In „Noras Welt“ ist es genauso. Dann habe ich noch Bücher geschrieben, wie „Das Kartengeheimnis“, „Das Orangenmädchen“, „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“. Das sind gewöhnliche fiktionale Bücher, aber auch hier möchte ich eine Art von Nachricht vermitteln.  Vor einigen Jahren habe ich wieder durch „Sofies Welt“ geblättert und ich war erstaunt, dass dort nichts von der Umwelt oder dem Klima stand. Die Klimafrage wurde massiv in der Öffentlichkeit erörtert, als „Sofies Welt“ erschien. „Noras Welt“ habe ich als eine  Ergänzung zu „Sofies Welt“ geschrieben. Denn in all den Jahren wurde und wird mir eine Frage sehr oft gestellt: „Sind philosophische Fragen ewig relevant?“ Und das sind sie, viele von Ihnen. Also z. B.: „Was ist das Wesen des Universums?“, „Existiert Gott?“, „Gibt es eine Existenz nach dem Tod?“, „Was ist Gerechtigkeit?“, „Was macht eine gute Gesellschaft aus?“, „Was ist ein gutes Leben?“, usw. Aber manchmal treten neue Fragen auf. Meiner Meinung nach lautet heute die wichtigste philosophische Frage: „Wie können wir die Lebensbedingungen auf der Welt bewahren?“ Das ist definitiv eine philosophische Frage. Es ist eine moralische und philosophische Frage, aber auch eine intellektuelle Frage. Denn wir wissen alle, dass Änderungen nötig sind. Aber wie können wir die verwirklichen? Ich halte das gewissermaßen für die wichtigste Frage unserer Zeit. Und sie wird in keiner Weise in „Sofies Welt“ behandelt. Daher habe ich über dieses Thema geschrieben und das ist vermutlich auch ein Grund, weshalb der Verlag den Titel in „Noras Welt“ geändert hat.

BS: Um die Leser zu informieren?

Jostein Gaarder: Ja, Menschen im Allgemeinen. Wie eure Eltern und meine Eltern und meine Kinder. Ich denke, ihnen ist auch nicht klar, dass der Grund für das viele Kohlendioxid in der Atmosphäre der Mensch ist.

BS: Sie sagen, es wissen nur wenige Leute über den Klimawandel und die Zusammenhänge Bescheid. Es heißt auch, dass unsere Generation sehr ignorant ist, und sich nicht der Dinge bewusst ist, die um sie herum geschehen. Dass sie sich also nur für ihre Smartphones und Social Networks  usw. interessiert. Ist das Ihrer Meinung nach wahr?

Jostein Gaarder:  Mein Eindruck ist, dass Leute deines Alters und ein wenig älter sich wirklich Sorgen darüber machen. Ebenso viele Menschen meines Alters, also um die 60 Jahre. Es gibt z. B. eine sehr aktive Organisation, „The Grandparents Climate Initiative“ (Die Großeltern-Klima-Initiative). Ich glaube aber, dass die Leute im Alter von 30 oder 40 sich keine Gedanken machen. Dabei ist das eine wichtige Sache! Wir sprechen über dieses Problem schon seit 25 Jahren – und es gibt keine großen Veränderungen.  Gerade letzte Woche war eine Konferenz  in Warschau und es wurde nichts Substanzielles erreicht. Es ist wirklich seltsam: Junge Leute denken, es wird nicht so wichtig sein, wenn die Weltmächte nicht handeln. Aber ich kenne rund 100 Klimaforscher, die alle die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Temperatur „nur“ um 2 Grad steigen wird – sondern um 4,  vielleicht auch 5 Grad. Das wäre eine Katastrophe! Aber Deutschland ist immerhin auf einem guten Weg. Ich meine damit, dass nicht alle Aussichten düster sind.  Manche Leute sagen, man müsste sich an Ländern wie Deutschland, Dänemark und Schweden orientieren. Deutschland ist sehr fortschrittlich mit seinem Wandel hin zu einer grünen Wirtschaft. Im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Nationen – auch Norwegen, denn wir sind eine Öl-Nation.

BS: Geben Sie den Politikern die Schuld, weil diese nicht handeln, nichts ändern?

Jostein Gaarder: Ja, das tue ich. Wir müssen immer noch darauf warten, dass ein Politiker direkt in die Kamera schaut und den Wählern sagt: „Wir müssen Opfer bringen.“ Politiker sagen zwar immer, dass das die größte Herausforderung für die menschliche Zivilisation sei – aber sie sagen nicht, dass wir Opfer bringen müssen. So etwas muss gesagt werden. So wie Winston Churchill, als er zum Premierminister von Großbritannien gewählt wurde. Das Nazi-Regime bereitete sich auf eine Invasion Englands vor. Und im Wahlkampf sagte Churchill: „Ich habe nichts zu bieten außer Blut, Schweiß, harter Arbeit und Tränen.“ Damit aber hat er die Leute zusammengebracht. Ich denke, dass so etwas auch heute möglich ist.  Ich bin daher auch sehr gespannt, was Barack Obama nun hinsichtlich der neuen Pipeline unternimmt.  Die Pipeline soll den Ölsand von Kanada durch die USA bis hin zum mexikanischen Golf zu den Raffinerien transportieren. Das ist eine hochpolitische Angelegenheit. 50.000 Leute haben sich um das Weiße Haus versammelt und demonstriert. Er sagte: „Ich werde mich intensiv damit befassen und wir werden sehen, wie ich entscheide.“ Denn der Präsident hat die Macht, diese Pipeline zu stoppen. Habt ihr den Film „Avatar“ gesehen?

BS: Ja.

Jostein Gaarder: In gewisser Weise handelt der Film von dieser Ölsandpipeline. Der Regisseur des Films, Cameron,  war in Kanada, um zu sehen, wie zerstörerisch der Abbau ist. Das war für ihn eine Recherche vor den Dreharbeiten. Natürlich handelt „Avatar“ aber von seinem eigenen Planeten, nicht von unserem.

BS: War es schwierig, sich das Leben eines Mädchens vorzustellen? Denn das Buch ist aus der Perspektive eines Mädchens erzählt, wie in dem Buch „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“. War es schwierig, sich als Mann in die Gefühlswelt eines Mädchens zu versetzen?

BS: Ich höre oft, dass Eltern Angst davor haben, wenn ihre Kinder solche Fragen stellen. Denn sie wissen nicht, was sie darauf antworten sollen. Sie haben also keine Angst, solche Fragen zu beantworten?

Jostein Gaarder: Ich vertrete schon sehr lange die Auffassung, dass man nicht zögern sollte, zuzugeben: „Ich weiß es nicht.“ Stellen wir uns vor, eine Person ist gestorben, z. B. die Großmutter. Und dann fragt das Kind, was jetzt mit der Großmutter ist. Es ist einfach, zu behaupten, dass sie im Himmel ist. Dass sie jetzt bei Gott ist. Wenn du es selbst glaubst, ist es auch vollkommen in Ordnung, dem Kind das zu erzählen. Aber wenn du es nicht glaubst, solltest du offen zugeben: „Ich weiß es nicht.“ Als meine Enkelin drei war, starb ihre Großmutter. Sie fragte natürlich ihren Vater, meinen Sohn: „Wo ist sie jetzt?“ Und dann konnte er nicht sagen: „Sie ist einfach gegangen“, oder dass sie bei Gott ist. Denn das glaubt ihr Vater nicht. Also erzählte er ihr, dass sie zu den Sternen zurückgekehrt sei. Und das Mädchen zeigt nach oben und sagt zu mir: „Einer von den Sternen ist meine Großmutter.“ Und ich glaube, dass es in gewisser Hinsicht wahr ist. Denn wir sind Sternenstaub und wir kehren zurück zu den SternenDas war eine Möglichkeit, einem jungen Mädchen den Tod zu erklären. Aber wenn die Eltern tatsächlich glauben, dass die Großmutter bei Gott im Himmel ist, dann sollten sie es ihrem Kind auf jeden Fall so erklären.

BS: In Ihrem Buch „Durch einen Spiegel“ schreiben Sie über den Tod. Haben Sie nun, nachdem Sie das Buch geschrieben haben, keine Angst mehr vor dem Sterben?

Jostein Gaarder: Doch, hatte ich immer. Aber ich würde sagen, vor dem Buch hatte ich sogar eine Art Panik davor. Inzwischen ist es aber mehr und mehr zu Trauer und Kummer geworden. Ich bin heute um die Alster gegangen. Und als ich die Blätter von den Bäumen fallen sah, da habe ich über die großen Fragen von Leben und Tod nachgedacht. Inzwischen habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Sondern ich empfinde eine Art Melancholie. Es ist traurig. Ich denke, dass wir alle verdient hätten, ewig zu leben.

BS: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Jostein Gaarder: In dem Buch „Das Orangenmädchen“ sagt der Vater zu seinem Sohn, dass er nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt. Aber er sagt, dass er darauf hofft. Das ist auch mein Standpunkt. Wir existieren, wenn das Universum und die Welt existiert. Wir haben schon alle Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinter uns gelassen. Wir erkunden immer tiefere Geheimnisse und finden Dinge heraus, die wir nicht erwarten. Wenn ich also sterbe und in einer anderen Realität erwache, würde mich das nicht wundern. Denn ich kann nicht noch mehr staunen, als ich es ohnehin schon tue. Ich würde nur sagen: „Oh! Eine neue Ebene.“ Ich glaube zwar nicht daran, aber ich kann darauf hoffen. Das ist auch ein christliches Konzept, die christliche Hoffnung. Du weiß nicht, was du hoffen darfst.

BS: Wir haben nun schon viel über den Tod gesprochen, deshalb möchte ich Sie nun zum Leben fragen. Was ist Ihre Lebensphilosophie? Was treibt Sie an?

Jostein Gaarder: Eine große Frage. Eine wirklich große Frage. Ich brauche keine Argumente für den Wert oder die Wichtigkeit des Lebens. Zum Beispiel Selbstmord: Ich verstehe das nicht! Ich weiß zwar, dass andere Leute Selbstmord nachvollziehen können – ich nicht. Es ist mir unbegreiflich, wie Menschen ihr Leben beenden können. Ihr seht schon, ich schätze das Leben sehr. Ich glaube, es stand in einem Roman: „Wenn ich mich entscheiden müsste, zwischen Sterben oder nur auf einem Quadratmeter zu leben, würde ich mich für den Quadratmeter entscheiden.“ Das Gleiche gilt wohl für mich. Denn es ist ein Unterschied, zu sein oder bestehen zu bleiben. Shakespeares „Sein oder nicht sein“. Für mich müsste es heißen: „Bestehen bleiben oder nicht bestehen bleiben.“

BS: Wenn Sie anfangen zu schreiben, haben Sie dann schon eine Art von Struktur oder einen Plan im Kopf?

Jostein Gaarder: Die Frage ist einfach zu beantworten. Denn sehr, sehr oft, wenn ich mit einer Geschichte anfange, sitze ich nicht vor einem Computer und auch nicht zu Hause und mache Notizen, sondern ich gehe spazieren. Ich sage immer, dass ich meine Gedanken nur in Gang kriege, wenn ich meinen Körper bewege. Der Anfang einer Geschichte ist für mich das Spazieren. Manche Leute schlafen darüber, das mache ich auch manchmal. Wenn ich über ein Schreibproblem grüble, dann denke ich darüber nach und gehe ins Bett. Am nächsten Morgen finde ich dann eine Lösung. Aber wichtiger für mich ist das Gehen. Meist bin ich nach dem Spaziergang tiefer in der Handlung, in die Geschichte eingetaucht. Wenn ich mich dann hinsetze und anfange zu schreiben, weiß ich genau, wie die Geschichte beginnt und wie sie endet. Alles andere dazwischen ist mir noch nicht klar. Das klärt sich dann im Schreibprozess.

BS: Schreiben Sie mit dem Computer?

Jostein Gaarder: Ja, das tue ich.

BS: Und was bevorzugen Sie: eine E-Mail oder einen Brief zu schreiben? Denn in Ihren Büchern kommen häufig Briefe vor.

RedakteurRedakteur: Linnea, Rahel
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