Interview mit Jostein Gaarder
Linnea Müller und Rahel Schwarz trafen Jostein Gaarder während der nordischen Literaturtage im November 2013 in Hamburg. Der Autor aus Norwegen, der bereits durch mehrere Werke wie „Sofies Welt“ bekannt wurde, gab ihnen ein Interview zu seinem neuen Roman „2084 – Noras Welt“.
BS: 20 Jahre, nachdem „Sofies Welt“ veröffentlicht wurde, sprechen wir nun über „Noras Welt“ – so heißt das Buch auf Deutsch. Wie fühlt es sich an, ein neues Buch zu veröffentlichen?
Jostein Gaarder: „Sofies Welt“ wurde vor 20 Jahren veröffentlicht, in Norwegen aber zwei Jahre zuvor, also im Grunde vor 22 Jahren. Auf den deutschen Titel „Noras Welt“ hatte ich keinen Einfluss.Im Original heißt es „Anna – En fabel om klodens klima og miljo“ und Nora heißt Anna. Der Hanser Verlag hatte in diesem Jahr ein anderes Buch für junge Erwachsene im Programm, das „Anna und Anna“ heißt. Sie dachten, es dürfe nicht drei Annas gleichzeitig im Programm geben. Deshalb wollten sie den Titel in Nora ändern. Natürlich haben sie mich vorher um Erlaubnis gefragt. Ich denke, solche Änderungen sind nicht unüblich. Ehrlich gesagt finde ich es ein bisschen ehrgeizig vom Verlag, das Buch „Noras Welt“ zu nennen. Aber es gibt ja auch eine Verbindung zwischen beiden Büchern. „Sofies Welt“ ist ein pädagogisches Projekt, bei dem ich eine Geschichte benutze, um den Leser in die Welt der westlichen Gedanken und der westlichen Philosophie zu begleiten. In „Noras Welt“ ist es genauso. Dann habe ich noch Bücher geschrieben, wie „Das Kartengeheimnis“, „Das Orangenmädchen“, „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“. Das sind gewöhnliche fiktionale Bücher, aber auch hier möchte ich eine Art von Nachricht vermitteln. Vor einigen Jahren habe ich wieder durch „Sofies Welt“ geblättert und ich war erstaunt, dass dort nichts von der Umwelt oder dem Klima stand. Die Klimafrage wurde massiv in der Öffentlichkeit erörtert, als „Sofies Welt“ erschien. „Noras Welt“ habe ich als eine Ergänzung zu „Sofies Welt“ geschrieben. Denn in all den Jahren wurde und wird mir eine Frage sehr oft gestellt: „Sind philosophische Fragen ewig relevant?“ Und das sind sie, viele von Ihnen. Also z. B.: „Was ist das Wesen des Universums?“, „Existiert Gott?“, „Gibt es eine Existenz nach dem Tod?“, „Was ist Gerechtigkeit?“, „Was macht eine gute Gesellschaft aus?“, „Was ist ein gutes Leben?“, usw. Aber manchmal treten neue Fragen auf. Meiner Meinung nach lautet heute die wichtigste philosophische Frage: „Wie können wir die Lebensbedingungen auf der Welt bewahren?“ Das ist definitiv eine philosophische Frage. Es ist eine moralische und philosophische Frage, aber auch eine intellektuelle Frage. Denn wir wissen alle, dass Änderungen nötig sind. Aber wie können wir die verwirklichen? Ich halte das gewissermaßen für die wichtigste Frage unserer Zeit. Und sie wird in keiner Weise in „Sofies Welt“ behandelt. Daher habe ich über dieses Thema geschrieben und das ist vermutlich auch ein Grund, weshalb der Verlag den Titel in „Noras Welt“ geändert hat.
BS: Warum der Wandel der Umwelt und des Klimas eine philosophische Frage sein kann, haben sie schon ein wenig beantwortet. Aber ich frage mich immer noch, wo die Verbindung zwischen realistischen Dingen wie dem Klimawandel und der Philosophie besteht, weil Philosophie im Gegensatz zu Klimawandel und ähnlichen Themen nicht realistisch ist.
Jostein Gaarder: Das ist eine sehr gute Frage! Ich habe viel darüber nachgedacht. Die Herausforderung des Klima- und Umweltwandels ist eine essentielle Herausforderung. Lass es mich so ausdrücken: Man hört häufig, dass es eine weltweite Herausforderung sei, die Erde zu retten. Aber vielleicht sind die Menschen die einzigen Kreaturen in dem Universum mit einem wirklich universellen Bewusstsein. Dann ist es nicht nur eine weltweite Herausforderung – dann ist es eine kosmische Herausforderung, das Bewusstsein zu retten. Literatur im Allgemeinen ist auch eine Art des Feierns des menschlichen Bewusstseins. Ich denke, dass Literatur bei der Bewahrung des Bewusstseins eine Hauptrolle spielen sollte.
BS: Sie verwenden viele authentische Fakten in ihrem Buch. Hatten Sie dieses Faktenwissen schon vorher oder haben Sie danach recherchiert?
Jostein Gaarder: Das ist auch eine sehr, sehr gute Frage. Als ich „Sofies Welt“ geschrieben habe, habe ich Philosophie unterrichtet. Ich war zur selben Zeit Lehrer und Autor. Dann habe ich den einen Beruf – Philosophielehrer – mit dem Beruf des Autors verknüpft. Das war bei diesem Buch auch der Fall. Ich verfolge das Thema der Klima- und die Erderwärmung aktiv und sehr genau. Zum Beispiel, indem ich Konferenzen auf der ganzen Welt besuche. Ich habe mich tief in den naturwissenschaftlichen Bereich der Materie eingearbeitet. Also kann ich garantieren, dass es in diesem Buch keine wissenschaftlichen Fehler oder Missverständnisse gibt. Diese Fakten kannte ich genau, die musste ich beim Schreiben nicht erst nachschlagen. Aber mir standen bestimmt die fundiertesten Ressourcen zur Verfügung. Ich hätte mich nicht getraut, es zu veröffentlichen, ohne über die Fakten hundertprozentig sicher zu sein. Zum Beispiel, als das Mädchen Nora mit dem Psychologen spricht und er sie fragt, ob sie Ängste hat. Sie nennt die Erderwärmung. Dann fragt sie den Arzt: „Wissen Sie, wie viel mehr Kohlendioxid sich heute dort draußen befindet als vor der industriellen Revolution?“ Und der Psychologe sagt: „Ich denke, dass es ca. 40% sind.“ Das ist stimmt wirklich. Ich denke, dass das nur wenige Menschen wissen. Also habe ich darüber geschrieben.
BS: Um die Leser zu informieren?
Jostein Gaarder: Ja, Menschen im Allgemeinen. Wie eure Eltern und meine Eltern und meine Kinder. Ich denke, ihnen ist auch nicht klar, dass der Grund für das viele Kohlendioxid in der Atmosphäre der Mensch ist.
BS: Sie sagen, es wissen nur wenige Leute über den Klimawandel und die Zusammenhänge Bescheid. Es heißt auch, dass unsere Generation sehr ignorant ist, und sich nicht der Dinge bewusst ist, die um sie herum geschehen. Dass sie sich also nur für ihre Smartphones und Social Networks usw. interessiert. Ist das Ihrer Meinung nach wahr?
Jostein Gaarder: Mein Eindruck ist, dass Leute deines Alters und ein wenig älter sich wirklich Sorgen darüber machen. Ebenso viele Menschen meines Alters, also um die 60 Jahre. Es gibt z. B. eine sehr aktive Organisation, „The Grandparents Climate Initiative“ (Die Großeltern-Klima-Initiative). Ich glaube aber, dass die Leute im Alter von 30 oder 40 sich keine Gedanken machen. Dabei ist das eine wichtige Sache! Wir sprechen über dieses Problem schon seit 25 Jahren – und es gibt keine großen Veränderungen. Gerade letzte Woche war eine Konferenz in Warschau und es wurde nichts Substanzielles erreicht. Es ist wirklich seltsam: Junge Leute denken, es wird nicht so wichtig sein, wenn die Weltmächte nicht handeln. Aber ich kenne rund 100 Klimaforscher, die alle die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Temperatur „nur“ um 2 Grad steigen wird – sondern um 4, vielleicht auch 5 Grad. Das wäre eine Katastrophe! Aber Deutschland ist immerhin auf einem guten Weg. Ich meine damit, dass nicht alle Aussichten düster sind. Manche Leute sagen, man müsste sich an Ländern wie Deutschland, Dänemark und Schweden orientieren. Deutschland ist sehr fortschrittlich mit seinem Wandel hin zu einer grünen Wirtschaft. Im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Nationen – auch Norwegen, denn wir sind eine Öl-Nation.
BS: Geben Sie den Politikern die Schuld, weil diese nicht handeln, nichts ändern?
Jostein Gaarder: Ja, das tue ich. Wir müssen immer noch darauf warten, dass ein Politiker direkt in die Kamera schaut und den Wählern sagt: „Wir müssen Opfer bringen.“ Politiker sagen zwar immer, dass das die größte Herausforderung für die menschliche Zivilisation sei – aber sie sagen nicht, dass wir Opfer bringen müssen. So etwas muss gesagt werden. So wie Winston Churchill, als er zum Premierminister von Großbritannien gewählt wurde. Das Nazi-Regime bereitete sich auf eine Invasion Englands vor. Und im Wahlkampf sagte Churchill: „Ich habe nichts zu bieten außer Blut, Schweiß, harter Arbeit und Tränen.“ Damit aber hat er die Leute zusammengebracht. Ich denke, dass so etwas auch heute möglich ist. Ich bin daher auch sehr gespannt, was Barack Obama nun hinsichtlich der neuen Pipeline unternimmt. Die Pipeline soll den Ölsand von Kanada durch die USA bis hin zum mexikanischen Golf zu den Raffinerien transportieren. Das ist eine hochpolitische Angelegenheit. 50.000 Leute haben sich um das Weiße Haus versammelt und demonstriert. Er sagte: „Ich werde mich intensiv damit befassen und wir werden sehen, wie ich entscheide.“ Denn der Präsident hat die Macht, diese Pipeline zu stoppen. Habt ihr den Film „Avatar“ gesehen?
BS: Ja.
Jostein Gaarder: In gewisser Weise handelt der Film von dieser Ölsandpipeline. Der Regisseur des Films, Cameron, war in Kanada, um zu sehen, wie zerstörerisch der Abbau ist. Das war für ihn eine Recherche vor den Dreharbeiten. Natürlich handelt „Avatar“ aber von seinem eigenen Planeten, nicht von unserem.
BS: War es schwierig, sich das Leben eines Mädchens vorzustellen? Denn das Buch ist aus der Perspektive eines Mädchens erzählt, wie in dem Buch „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“. War es schwierig, sich als Mann in die Gefühlswelt eines Mädchens zu versetzen?
Jostein Gaarder: Das denke ich nicht, obwohl ich selber nur Söhne habe. Die Leute fragen oft, warum der Protagonist in „Sofies Welt“ ein Mädchen ist. Sie musste nun mal ein Mädchen sein, weil der Name Sofia natürlich im Zusammenhang mit dem Wort Philosophie steht. Sofia bedeutet Weisheit. Das war schon immer eine feminine Eigenschaft. Sogar in der orthodoxen Kirche gab es Lehren, dass Gott auch eine weibliche Fassade hat, die die heilige Weisheit von Gott verkörpert. Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum Weisheit als eine weibliche Eigenschaft gesehen wird. Meistens antworte ich auf diese Frage, dass ich es auch nicht weiß, aber eine Theorie habe: Für die meisten Mädchen und Frauen ist es von größter Wichtigkeit, etwas zu verstehen. Das ist auch das Ziel der Philosophie. Für die meisten Männer und Jungen ist es wichtiger, verstanden zu werden und das ist etwas anderes. Oder in dem Erwachsenenbuch „Das Leben ist kurz“: Darin geht es um eine Frau, die einen Brief an ihren früheren Geliebten Augustin schreibt. Auch beim Schreiben dieses Buches habe ich intensiv den Gefühlen einer Frau nachgeforscht. Da ging es sogar um eine Liebesbeziehung zu einem Mann. Viele Fragen dann, ob es nicht viel schwieriger ist, sich in die Gedanken einer Frau hineinzuversetzen. Da sage ich: „Nein! Denn ich als Mann lebe mit einer Frau zusammen. Daher habe ich Erfahrung, wichtige Themen mit einer Frau zu besprechen.“ Ich finde es schwieriger, über Männer zu schreiben, auch wenn ich selber ein Mann bin. Aber eigentlich bin ich kein Mann – ich bin Jostein Gaarder. Ich weiß nicht, was typisch ist für einen Mann. Ich finde, dass man manchmal mehr Abstand hat, wenn man über ein Mädchen schreibt, und das macht es tatsächlich einfacher. Aber jedes zweite Buch schreibe ich über die Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn. Ich schreibe dann nicht über Frauen. In „Das Kartengeheimnis“ und sogar noch davor „Das Schloss der Frösche“ geht es um Jungen. In dem „Orangenmädchen“ ebenfalls: Dort geht es um einen Brief, den ein Vater an seinen Sohn schreibt. Also ich denke nicht, dass ich das Schreiben aus der Perspektive einer Frau „überstrapaziere“.
BS: Sie haben als Lehrer gearbeitet. Sind Sie während Ihrer Laufbahn als Lehrer von Ihren Schülern beim Schreiben inspiriert worden?
Jostein Gaarder: Ja, ich bin absolut davon überzeugt, dass ich ohne meine Erfahrungen als Lehrer nicht in der Lage gewesen wäre, „Sofies Welt“ zu schreiben. Als Lehrer hatte ich die Aufgabe, den Schülern das Ziel eines Philosophen verständlich zu machen. Das gilt aber nicht für alle meine Bücher. „Das Kartengeheimnis“ ist z. B. an mein eigenes Leben angelehnt. Als ich dieses Buch geschrieben habe, war mein Sohn gerade so alt wie Hans-Thomas in dem Buch. Ich würde sagen, dass ich mich am meisten von meinem eigenen Leben und meiner eigenen Lebenssituation inspirieren lasse. Aber bei „Sofies Welt“ konnte ich definitiv aus meiner Arbeit als Lehrer schöpfen.
BS: Viele Leute interessieren sich nicht für Philosophie. Trotzdem möchten Sie den Leuten die Philosophie nahebringen. Warum können Ihrer Meinung nach so wenig Menschen etwas mit Philosophie anfangen?
Jostein Gaarder: Vermutlich gibt es dafür viele Gründe. Ich denke, in Deutschland ist der wichtigste Grund, dass Philosophie durch Hegel und Immanuel Kant so akademisch ist. Ich bin überzeugt, dass du einen wichtigen Gedanken so klar und verständlich ausdrücken kannst, dass Leute wie ihr und ich ihn nachvollziehen können. Aber es gibt diese „Eitelkeit“ hinter der akademischen Sprache. Manche Menschen sind nicht sicher, wie sie etwas sagen sollen und packen es dann in diese sehr komplizierte Sprache.
BS: Sie haben über Teenager gesprochen und darüber, dass Jugendliche sich aktiv für Politik engagieren. Wie war Ihr Leben als Teenager?
Jostein Gaarder: Das ist auch eine gute Frage. Wenn ich über Teenager schreibe, dann nicht, weil ich ein Buch über Teenager schreiben möchte. Ich schreibe davon, wie es für mich war, Teenager zu sein. Man ist für viele Jahre ein Kind und dann wirst du zu einem Teenager. Das trage ich in mir. Es ist eine sehr offene Situation im Leben, man ist verletzlich. Man kann diese Zeit nicht als ideal ansehen. Man kann nicht sagen, dass es ausschließlich ein fantastisches Alter ist. Ich würde nicht behaupten, dass es der beste Abschnitt meines Lebens war. Aber es war der, wo alles angefangen hat. In dieser Zeit bildet sich unser Charakter, unsere Persönlichkeit heraus. Wir werden der Mensch, der wir für den Rest unseres Lebens sind. Ich denke, das ist der Grund, warum ich so viel über Teenager schreibe. Aber als ich „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ geschrieben habe, ist das Mädchen ungefähr zehn oder elf Jahre alt. Das genaue Alter verrate ich nicht. Aber sie ist genau in dem Alter zwischen Kindheit und Jugend. Es ist also ein Buch über das Leben. Es ist wie eine Art Gipfeltreffen zwischen Himmel und Erde. Der Gegensatz aus einem jungen Mädchen und dem Tod – das ist ein sehr starker Kontrast. Auf eine Art ist es ein Buch über Liebe und Tod. Über Zeit und Ewigkeit. Deshalb ist die Hauptperson kein Teenager, sondern ein junges Mädchen.
BS: Wenn Sie mit Ihren Kindern am Frühstückstisch sitzen, unterhalten Sie sich dann auch über solche philosophischen Fragen?
Jostein Gaarder: Das ist schon wieder eine sehr gute Frage. Ich glaube, so intensiv habe ich meine Kinder nicht mit Philosophie konfrontiert. Jetzt, wo meine Kinder erwachsen sind, betrifft das eher meine Enkel. Mir war es wichtiger, meinen Kindern ein guter Vater zu sein als ein guter Philosophielehrer. In gewisser Weise war ich aber kein guter Vater, denn ich habe nicht mit ihnen Fußball gespielt oder andere Dinge, wie Toben, Raufen, das ganze Körperliche. Oder wenn ich etwas im Haus repariert habe, und meine Kinder, damals sechs oder sieben, mir helfen wollten, sagte ich immer: „Stört mich nicht!“ Ich wünschte, ich hätte häufiger solche Sachen mit ihnen unternommen. Aber ich habe ihnen immer Geschichten erzählt. Und ich denke, dass Geschichten zum Fantasieren wichtig für Kinder sind. Ich habe einen zehnjährigen Enkel, Leo. Einmal habe ich auf ihn aufgepasst und ihn gefragt, was er jetzt tun möchte: ein bisschen Disney Channel gucken oder ob ich ihm etwas vorlesen soll. Und er sagte: „Ich möchte reden.“ „Natürlich“, sagte ich. „Worüber denn?“ Und er wollte über das Universum und Astroiden usw. reden. Er hat wirklich versucht, alles zu verstehen. Also musste ich ihm etwas über die Gesetze von Newton erzählen. Zum Beispiel, dass ein Objekt im Weltraum exakt die gleiche Geschwindigkeit und Richtung beibehält, bis es von etwas gestoppt oder umgelenkt wird. Wir sprachen über Gravitation und all diese Dinge. Ich denke, ich bin für meinen Enkel mehr Philosophielehrer als für meine Kinder.
BS: Ich höre oft, dass Eltern Angst davor haben, wenn ihre Kinder solche Fragen stellen. Denn sie wissen nicht, was sie darauf antworten sollen. Sie haben also keine Angst, solche Fragen zu beantworten?
Jostein Gaarder: Ich vertrete schon sehr lange die Auffassung, dass man nicht zögern sollte, zuzugeben: „Ich weiß es nicht.“ Stellen wir uns vor, eine Person ist gestorben, z. B. die Großmutter. Und dann fragt das Kind, was jetzt mit der Großmutter ist. Es ist einfach, zu behaupten, dass sie im Himmel ist. Dass sie jetzt bei Gott ist. Wenn du es selbst glaubst, ist es auch vollkommen in Ordnung, dem Kind das zu erzählen. Aber wenn du es nicht glaubst, solltest du offen zugeben: „Ich weiß es nicht.“ Als meine Enkelin drei war, starb ihre Großmutter. Sie fragte natürlich ihren Vater, meinen Sohn: „Wo ist sie jetzt?“ Und dann konnte er nicht sagen: „Sie ist einfach gegangen“, oder dass sie bei Gott ist. Denn das glaubt ihr Vater nicht. Also erzählte er ihr, dass sie zu den Sternen zurückgekehrt sei. Und das Mädchen zeigt nach oben und sagt zu mir: „Einer von den Sternen ist meine Großmutter.“ Und ich glaube, dass es in gewisser Hinsicht wahr ist. Denn wir sind Sternenstaub und wir kehren zurück zu den SternenDas war eine Möglichkeit, einem jungen Mädchen den Tod zu erklären. Aber wenn die Eltern tatsächlich glauben, dass die Großmutter bei Gott im Himmel ist, dann sollten sie es ihrem Kind auf jeden Fall so erklären.
BS: In Ihrem Buch „Durch einen Spiegel“ schreiben Sie über den Tod. Haben Sie nun, nachdem Sie das Buch geschrieben haben, keine Angst mehr vor dem Sterben?
Jostein Gaarder: Doch, hatte ich immer. Aber ich würde sagen, vor dem Buch hatte ich sogar eine Art Panik davor. Inzwischen ist es aber mehr und mehr zu Trauer und Kummer geworden. Ich bin heute um die Alster gegangen. Und als ich die Blätter von den Bäumen fallen sah, da habe ich über die großen Fragen von Leben und Tod nachgedacht. Inzwischen habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Sondern ich empfinde eine Art Melancholie. Es ist traurig. Ich denke, dass wir alle verdient hätten, ewig zu leben.
BS: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Jostein Gaarder: In dem Buch „Das Orangenmädchen“ sagt der Vater zu seinem Sohn, dass er nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt. Aber er sagt, dass er darauf hofft. Das ist auch mein Standpunkt. Wir existieren, wenn das Universum und die Welt existiert. Wir haben schon alle Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinter uns gelassen. Wir erkunden immer tiefere Geheimnisse und finden Dinge heraus, die wir nicht erwarten. Wenn ich also sterbe und in einer anderen Realität erwache, würde mich das nicht wundern. Denn ich kann nicht noch mehr staunen, als ich es ohnehin schon tue. Ich würde nur sagen: „Oh! Eine neue Ebene.“ Ich glaube zwar nicht daran, aber ich kann darauf hoffen. Das ist auch ein christliches Konzept, die christliche Hoffnung. Du weiß nicht, was du hoffen darfst.
BS: Wir haben nun schon viel über den Tod gesprochen, deshalb möchte ich Sie nun zum Leben fragen. Was ist Ihre Lebensphilosophie? Was treibt Sie an?
Jostein Gaarder: Eine große Frage. Eine wirklich große Frage. Ich brauche keine Argumente für den Wert oder die Wichtigkeit des Lebens. Zum Beispiel Selbstmord: Ich verstehe das nicht! Ich weiß zwar, dass andere Leute Selbstmord nachvollziehen können – ich nicht. Es ist mir unbegreiflich, wie Menschen ihr Leben beenden können. Ihr seht schon, ich schätze das Leben sehr. Ich glaube, es stand in einem Roman: „Wenn ich mich entscheiden müsste, zwischen Sterben oder nur auf einem Quadratmeter zu leben, würde ich mich für den Quadratmeter entscheiden.“ Das Gleiche gilt wohl für mich. Denn es ist ein Unterschied, zu sein oder bestehen zu bleiben. Shakespeares „Sein oder nicht sein“. Für mich müsste es heißen: „Bestehen bleiben oder nicht bestehen bleiben.“
BS: Wenn Sie anfangen zu schreiben, haben Sie dann schon eine Art von Struktur oder einen Plan im Kopf?
Jostein Gaarder: Die Frage ist einfach zu beantworten. Denn sehr, sehr oft, wenn ich mit einer Geschichte anfange, sitze ich nicht vor einem Computer und auch nicht zu Hause und mache Notizen, sondern ich gehe spazieren. Ich sage immer, dass ich meine Gedanken nur in Gang kriege, wenn ich meinen Körper bewege. Der Anfang einer Geschichte ist für mich das Spazieren. Manche Leute schlafen darüber, das mache ich auch manchmal. Wenn ich über ein Schreibproblem grüble, dann denke ich darüber nach und gehe ins Bett. Am nächsten Morgen finde ich dann eine Lösung. Aber wichtiger für mich ist das Gehen. Meist bin ich nach dem Spaziergang tiefer in der Handlung, in die Geschichte eingetaucht. Wenn ich mich dann hinsetze und anfange zu schreiben, weiß ich genau, wie die Geschichte beginnt und wie sie endet. Alles andere dazwischen ist mir noch nicht klar. Das klärt sich dann im Schreibprozess.
BS: Schreiben Sie mit dem Computer?
Jostein Gaarder: Ja, das tue ich.
BS: Und was bevorzugen Sie: eine E-Mail oder einen Brief zu schreiben? Denn in Ihren Büchern kommen häufig Briefe vor.
Jostein Gaarder: Ich glaube, ich schreibe immer noch viele Briefe, obwohl ich auch über E-Mails kommuniziere. Aber es stimmt, dass in vielen meiner Bücher Briefe vorkommen.
BS: Es heißt, dass Sie Antworten auf die wichtigen Fragen der Menschheit finden möchten. Würden Sie sagen, dass Sie Antworten auf diese Fragen geben können?
Jostein Gaarder: Manchmal fragen mich die Leute: „Warum sind dir all diese philosophischen Fragen und Probleme so wichtig, wenn es darauf keine Antwort gibt?“ Aber ich meine, wir verstehen mehr und mehr und mehr von den Zusammenhängen. Schaut euch nur mal die letzten hundert Jahre an: 1905 entwickelte Albert Einstein die Relativitätstheorie. Damit verstehen wir mehr über das Universum. Dann fand in den 20ernLemaîtreheraus, dass sich das Universum ausdehnt. Er hatte die Idee mit dem Urknall. Und – ich glaube es war 1953 – entdeckten die beiden Wissenschaftler Quick und Watson das DNS-Molekül. Aber wir dürfen nicht vergessen: Viele Leute meinten früher, über solche Fragen zu diskutieren sei so dumm, wie über die Rückseite des Mondes zu diskutieren. Aber inzwischen kennen wir die Rückseite des Mondes! Du kannst in Lübeck oder Hamburg in jeden Buchladen gehen und detaillierte Pläne des Mondes kaufen. Aber ich glaube auch, dass wir eines Tages etwas bescheidener werden. Dann sehen wir vielleicht ein, dass wir Teil eines Mysteriums sind und mit unseren Fragen über das Universum nicht weiterkommen.
BS: Was denken Sie, würde passieren, wenn die Welt untergeht? Wie wird die Welt, wenn wir so weitermachen wie jetzt?
Jostein Gaarder: Ich denke, wir schweben in großer Gefahr. Denn wir zerstören unsere Ökosysteme, unsere Lebensgrundlagen, die Fundamente unserer Zivilisation. Wir befinden uns meiner Meinung nach an einem Wendepunkt. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren müssen wir uns wirklich ändern.
BS: Dann ein letzter Rat für unsere Leser: Was können wir tun, um unsere Umwelt zu schützen?
Jostein Gaarder: Tja, die einfachste Antwort wäre, dass wir alle einfach das Licht ausschalten, wenn wir das Haus verlassen, solche Dinge. Ich glaube aber nicht, dass wir die Welt auf diesem Weg bewahren können. Wir müssen von den Politikern harte Entscheidungen verlangen. Wir dürfen sie nicht mehr unterstützen. Wir müssen sagen: „Wir wählen euch nicht mehr, wenn ihr nicht endlich anfangt, wirksame Maßnahmen zu treffen.“ Wir müssen meiner Meinung nach auch Steuern z. B. für das Verbrennen fossiler Rohstoffe erheben. Hohe Steuern auf so etwas sind vielleicht das Wichtigste. Ich komme aus einem reichen Land. Die Einkommen bei uns sind sehr hoch. Wir können von Oslo an jeden anderen Ort in Europa fliegen – zu einem Preis, der nur ein bis zwei Arbeitsstunden entspricht. Das ist Wahnsinn! Vielleicht kann man so etwas über Steuern regeln. Ich setze auch ein wenig auf das Finanzsystem. Denn alle internationalen Experten sagen, dass 80 % der Vorkommen an Kohle und Öl im Boden bleiben muss. Aber die Ölfirmen geben vor, dass sie alles heraufholen können. Ich gehe davon aus, dass eines Tages der Kurs an der Börse fällt. Wenn ihr viel Geld von eurer Familie erben würdet, kauft ihr aus wirtschaftlichen Gründen keine Aktien von Öl-Firmen. Das wäre dann eine sehr schlechte Investition. Vielleicht kann also sogar die Wirtschaft ihren Teil zu dieser Herausforderung beitragen.
BS: Und nun unsere letzte Frage: Was bedeutet für Sie „Blaue Seite“? Was assoziieren Sie mit dem Begriff?
Jostein Gaarder: Ich assoziiere damit „Young Power“ (zu dt.: „junge Stärke“). Habt ihr von dem pakistanischen Mädchen Malala Yousafzai gehört?
BS: Ja.
Jostein Gaarder: Sie hat wirklich etwas bewirkt, indem sie ihre Stimme erhob und einen Blog geschrieben hat. Ich denke, das ist eine wirklich wichtige Initiative.
BS: Vielen Dank für das Interview. Jostein Gaarder: Danke euch.