Interview mit Martin Schäuble
Im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2018 hatten die Blaue Seite-Redakteure Theo, Hangzhi und Kathrin die Möglichkeit, Martin Schäuble zu interviewen.
Blaue Seite: Können Sie Ihr Buch für die, die es noch nicht kennen, in einem Satz zusammenzufassen?
Martin Schäuble: Eine Partei wie die AfD hat die Bundestagswahlen gewonnen – drei Jahre später.
Blaue Seite: Sie haben vor ihren zwei Romanen ziemlich viele Sachbücher geschrieben. Hat Ihnen die Recherche für Ihre Sachbücher beim Schreiben dieses Buches geholfen?
Martin Schäuble: Weil ich als Journalist gearbeitet habe, schreibe ich Bücher auch immer „als Journalist“, das heißt, Recherche ist ganz wichtig. In dem Fall heißt das auch, dass ich mir den AfD-Wahlkampf angeschaut habe. Ich hab mir überlegt, wie das anläuft, wer die Partei wählt und habe das Parteiprogramm gelesen. Dann war ich für die Protagonistin Fana in Äthiopien und habe da recherchiert. Das heißt, das Recherchehandwerk – also wie man Fragen stellt – all das habe ich sicherlich von Sachbücher gelernt und mitgenommen. Also ist dieser Roman nicht nur Fiktion, sondern eine Art spannenderes Sachbuch. Oder ein Sachbuch als Thriller verpackt.
Blaue Seite: Was ist das Schockierendste, was Sie bei Recherchen herausgefunden haben?
Martin Schäuble: Da gab's schon sehr seltsame Momente. Zum Beispiel diese Wahlkampfveranstaltungen, die dann so aussehen, dass da eine Turnhalle mit AfD-Anhängern gefüllt ist. Dann kommt das Mitglied an und alle stehen auf und klatschen. Dieser Beifall und dieses willenlose Folgen einer Partei, das ist beklemmend. Das hat mir Sorgen bereitet ... Ich weiß, das ist bei anderen Parteien nicht anders, nur haben die nicht solche Sachen auf dem Wahlplakat stehen. Bei solchen rechtsnationalen Parteien, oder auch teilweise rechtsradikalen Parteien, wirkt es noch mal ganz anders, wenn auf einmal alle aufstehen und klatschen und rufen. Schrecklich war auch, dass relativ wenige, mit denen ich sprach, wussten, was wirklich im Parteiprogramm steht. Die wussten zwar, was auf den Wahlplakaten stand. Denn das war groß genug und da stand halt sowas wie „Asylchaos stoppen“ oder so. Aber wenn man im Gespräch war, hat man gemerkt, dass die das gar nicht kennen. Die wussten nicht, dass die Partei die Wehrpflicht wieder einführen will, dass die Partei sagt: „Klimawandel gibt's gar nicht“, also menschengemachten Klimawandel. Vieles, was die Partei im Wahlprogramm stehen hatte, war denen nicht bewusst.
Blaue Seite: Hat Sie das bedrückt, als Sie so in die Zukunft geschaut haben, in die Welt, die Sie geschaffen haben?
Martin Schäuble: Sagen wir mal so: Ich bin froh, dass jetzt die Recherchen abgeschlossen sind und dass das Buch geschrieben ist. Ich stelle es jetzt sehr gerne vor. Auch Gespräche machen Spaß, weil man da noch mal von einer anderen Ebene schauen kann. Beim Schreiben ist man ja im Buch drin. Man steckt sozusagen selbst in diesen Figuren drin. Und jetzt, mit diesem Abstand, ist es deutlich angenehmer.
Blaue Seite: Angenommen, Sie würden in einem solchen Staat leben, in dem die AfD oder eine andere rechtsnationale Partei die Mehrheit im Parlament stellen würde: Wie würden Sie sich verhalten? Eher wie der rebellische Noah oder wie der zurückhaltende Anton?
Martin Schäuble: Jetzt behaupte ich mal: wie Noah. Aber wenn man nicht unter diesen Umständen lebt, weiß man es nicht. Bei Anton ist es ja auch so, dass er 18 Jahre alt ist, keine richtige Familie hat und dass es für ihn daher nicht so ein so großer Schritt ist, sein Denken zu ändern. Es ist die Frage, wie alt ich in dieser Welt wäre: Wäre ich 18, so wie Anton, oder bin ich erwachsen und habe Kinder. Dann ist die Entscheidung nicht mehr so einfach. Beim Buch „Endland“ ist es ja so, dass man, wenn man dagegen ist, das Land schon fast verlassen muss, weil es zu beklemmend, zu gefährlich wird.
Blaue Seite: Vor allem, wenn man dort aufwächst, das wird einem dort ja auch antrainiert. Man gewöhnt sich ja daran.
Martin Schäuble: Genau. Man merkt im Buch, dass die Partei sehr mächtig ist. Die steuert schon fast einen Sicherheitsapparat. Als Kritiker muss man fast untertauchen, wenn man ein halbwegs normales Leben führen will. Und im Untergrund kann man auch nicht wirklich normal leben, das merkt man bei Noah, als der das macht. Noah flüchtet ganz aus dem Land. Anders wird er es nicht schaffen.
Blaue Seite: Um wieder in die Gegenwart zu schauen: Wie zufrieden sind Sie momentan mit der Politik in Deutschland?
Martin Schäuble: Mit der Politik ist es schwer zu sagen. Es gibt ja ganz viele Parteien, die mitmischen. Also, ich bin froh, dass die sich zu einer Großen Koalition zusammenfinden, dass jetzt regiert wird. Davor konnte man auf das, was die AfD im Wahlkampf gesagt hat und jetzt im Bundestag macht, kaum als Regierung reagieren, die gab es ja da nicht. Jetzt hoffe ich, dass man auch Gegenargumente liefert. Ich bin eigentlich zuversichtlich. Aber natürlich stehen wieder Landtagswahlen an, in Bayern und vor allem auch in Sachsen nächstes Jahr. Da könnte es auch sein, dass die AfD stärkste Partei wird. Was sich da verändert, kann ich auch nicht absehen. Aber natürlich hoffe ich, dass „Endland“ eine Dystopie bleibt
Blaue Seite: Damit es wirklich eine Dystopie bleibt: Was sind denn Ihrer Meinung nach gute Methoden, um Rechtspopulisten zu stoppen?
Martin Schäuble: Ich glaube, ihnen zu antworten. Fakten zu suchen und mit ihnen zu reden. Ich habe das selbst gemerkt, als ich AfD-Wähler oder AfD-Fans kennengelernt habe. Es hilft wenig, zu sagen: „AfD – will ich nichts mit zu tun haben, ist mir zu unheimlich, oder irgendwie zu komisch.“ Man muss mit Argumenten auf sie zugehen. Gerade, wenn man mit Jugendlichen spricht, die für die AfD sind, und ich dann frage, ob sie wüssten, dass die Partei die Erbschaftssteuer abschaffen möchte, was ja vor allem für Reiche interessant ist. Oder ob sie wüssten, dass die AfD die Wehrpflicht wieder einführen möchte, oder, dass sie die Atomenergie wieder ausbauen wollen. Das sind Themen, die interessieren junge Leute auch: Kaum einer will ein Atomkraftwerk haben. Aber dann wundern sich viele und denken sich: „Ach so, das will die Partei auch?“ Da sind diese starken und stark vereinfachten Slogans, aber die übertragen nicht die Konsequenzen für den Lebensalltag. Deswegen sind Gespräche so wichtig. Je nachdem, wie alt die Person ist, kann man etwas aus dem Parteiprogramm der AfD heraussuchen, was zu der Person passt, und fragen, ob sie diese Ziele kennen.
Blaue Seite: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die Nachricht von Franco A. gehört haben, der ja eigentlich genau dasselbe wie Anton machen wollte?
Martin Schäuble: Das war natürlich eine schräge Situation, weil ich damals auf Lesereise war. Ich konnte es erst gar nicht glauben. Ich bin nicht hellseherisch begabt, aber mit Fantasie habe ich so eine Person wie Franco A. erfunden. Das war für mich also nicht abwegig. Ich konnte mir schon vorstellen, dass es solche Menschen gibt und dass so etwas irgendwann geschehen wird. Aber dass das so schnell geschieht, hat mich gewundert. Franco A. war ja als quasi falscher Flüchtling aufgetaucht, als das Buch schon geschrieben wurde. Es hat natürlich gezeigt, dass das möglich ist. Hätte es Franco A. nicht gegeben, hätten manche vielleicht gesagt, dass das, was ich von einem falschen Flüchtling erzähle, nie im Leben funktionieren würde, dass es unrealistisch sei. So war es ja dann eben nicht ...
Blaue Seite: Engagieren Sie sich neben diesem Buch auch anderweitig in der Politik?
Martin Schäuble: Es hängt immer davon ab, wo ich gerade lebe und was ich gerade mache. Für mich ist Schreiben auch eine Art Engagement, vor allem auch meine Lesungen aus dem Buch, das Vorstellen vom Buch. Ich bin sehr viel in Schulen unterwegs. Da reden wir darüber, stellen uns Endland vor und reden über die Themen. Das ist für mich auch Engagement.. Das ist eben das, was ich kann. Ich schreibe, recherchiere, präsentiere und komme mit Jugendlichen ins Gespräch. So wie mit euch jetzt. Das, finde ich, ist der richtige Weg.
Blaue Seite: Jetzt ein anderes Thema: Finden Sie, dass soziale Ungerechtigkeit schlecht ist?
Martin Schäuble: Ja, wer findet das denn nicht schlecht?
Blaue Seite: Warum?
Martin Schäuble: Ach so, warum. Ein großes Thema ... Ein großes Fass, was du da aufmachst. Lass mich mal mit „Endland“ antworten, weil ich ja nicht der Experte für alles bin. Aber bei „Endland“ merkt man schon, dass sich viele, die es anspricht, unterdrückt fühlen. Die haben das Gefühl, dass sie nichts mehr zu sagen haben. Die Politik ist irgendwo da oben und regiert und wir kleinen haben nichts mehr zu äußern. Das ist so ein Frust, der oft zu Protestwahlen führt. Deswegen wählen viele gerne die AfD, weil man sich so stark fühlen kann. Aber wenn man mal genauer hinschaut, merkt man, dass das Wahlprogramm gar nicht für die „kleinen Leute“ gedacht ist. Ich hab ja schon erwähnt, dass die AfD die Erbschaftssteuer abschaffen wollen. Es gibt sogar einige AfDler, die die Schulpflicht abschaffen wollen. Das steht zwar nicht im Programm, aber manche haben das ernsthaft diskutiert. Wieso? Weil die wollten, dass man dann zuhause mit Privatlehrer unterrichtet werden kann. Wer hat was davon? Sowieso nur die reichen Kinder. Und genau dieses Staunen, was ihr jetzt habt über eine Partei, die über so etwas diskutiert – genau so ein Staunen wollte ich mit dem Buch erzeugen. Dass man denkt: „Das kann doch nicht wahr sein, dass es eine Partei gibt, die so etwas ernsthaft diskutiert.“ Deswegen glaube ich, dass das Thema soziale Ungleichheit im Buch drin ist. Aber in den Figuren und in die Handlung verpackt.
Blaue Seite: Wie stabil, meinen Sie, wäre so ein Land wie Endland?
Martin Schäuble: Wie lange sich so ein Endland halten würde? Na ja, ich glaube, es wird nicht dazu kommen. Deswegen sage ich, dass es nicht stabil sein wird. Wieso? Das Buch ist ganz bewusst ein Gedankenspiel, „Was wäre, wenn ...“ Mehr will ich damit nicht. Nur, dass man ein bisschen achtsamer wird und genauer zuhört, was die Partei eigentlich vorhat. Im Buch heißt sie ja Nationale Alternative. Ich fürchte schon, dass sie bei Landtagswahlen stark sein werden. Aber ich glaube nicht, dass sie schlussendlich wirklich die Macht haben werden wie in meinem Buch.
Blaue Seite: Jetzt habe ich noch eine philosophische Frage: Was ist besser, Bücher oder Menschen?
Martin Schäuble: (lacht) Das fragt ihr immer so am Ende, oder?
Blaue Seite: Wir haben immer so kleine philosophische Fragen.
Martin Schäuble: Na ja, das eine braucht das andere, würde ich sagen.
Blaue Seite: Na, das ist eine gute Antwort. Eine schön philosophische Antwort.
Blaue Seite: Hatten Sie so etwas wie ein Schlüsselerlebnis, nach dem Sie gedacht haben: „Jetzt schreibe ich dieses Buch“? Oder war das ein Prozess?
Martin Schäuble: Nein, es gab schon ein Schlüsselerlebnis. Ich habe damals in Mecklenburg-Vorpommern gelebt und mir den Landtagswahlkampf angeschaut. Und das, fand ich, war eine sehr interessante Situation: ein Bundesland mit einem sehr geringem Ausländeranteil, in dem aber sehr viele die AfD wählen wollen. In dem sich viele angesprochen fühlen von dem ausländerfeindlichen Wahlkampf der AfD. Das ist ja ein polemischer Wahlkampf. Und da wollte ich genauer draufschauen: Steckt da noch mehr dahinter? Da hatte ich natürlich einen Superort zum Recherchieren. Aber das ist natürlich nicht nur ein Ostphänomen. Ich war ja auch lange in Stuttgart, im Landtag von Baden-Württemberg. Da habe ich recherchiert, weil die AfD schon sehr lange mit einer großen Fraktion vertreten ist. Das ist nicht nur ein regionales Phänomen, die AfD hat bundesweit Erfolg, bei Bundestagswahlen., Es ist also ein gesamtdeutsches Phänomen. Aber der Auslöser für das Buch war tatsächlich dieser Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern, weil die Realität so weit davon entfernt war, was auf den Wahlplakaten stand.
Blaue Seite: Und jetzt die letzte Frage, die wir wirklich immer stellen: Was ist für Sie eine blaue Seite?
Martin Schäuble: Ich kenne eure Blaue Seite schon. Blaue Seite ... Ja, eine blaue Seite hat Hoffnung, so wie ein Himmel. Ein wolkenloser Himmel, in den man gerne schaut und in dem man weit schauen kann. Man sieht ja nachts die Sterne, wenn der Himmel blau ist. Und vielleicht ist ja jeder Stern ein Büchlein, so wie bei euch. Und vielleicht gibt es auch dunkle Sterne, schwarze Löcher – was auch immer „Endland“ sein mag, in diesem Himmel.