Interview mit Cornelia Funke 2014
Am 23.04. 2014 hatten die Bücherpiraten im Kinderliteraturhaus Besuch: Cornelia Funke, die Autorin zahlreicher Kinder-und Jugendbücher. Es wurde ein kleines Programm veranstaltet, zu dem auch ein Interview mit Redakteurinnen der Blauen Seite gehörte. Estelle und Rahel haben sich mit der Autorin u. a. über die Reckless-Reihe unterhalten. Es hat uns sehr gefreut.
Blaue Seite: Die Brüder Grimm haben Märchen gesammelt – und Du hast Ideen gesammelt für Reckless. Wie bist Du auf diese Ideen gekommen?
Cornelia Funke: Als ich mit Reckless begann, gab es erst mal nur eine Idee: Da ist eine Märchenwelt, die erwachsen werden will und die vielleicht die ersten Anstöße dazu bekommt, weil irgendjemand aus unserer Welt hinüber geleckt ist, durch irgendein Loch hineinstolpert.
Ich wusste am Anfang noch nicht mal, wie dieses Loch aussieht – ist das eine Tür? Ein Brunnen …? Auf den Spiegel bin ich erst später gekommen. Als ich den ersten Entwurf fertig hatte, dachte ich mir: was, wenn ich die Idee, die Märchen jeweils in ihrem geographischen Umfeld zu thematisieren, weiter verfolge und nicht nur auf den Spuren der grimmschen, sondern auf denen von Märchen aus aller Welt reise? Was, wenn ich diese Geschichte zu einer Entdeckungsreise um die Welt und zu Märchen mache, die nicht so bekannt sind? Ich hatte auch in Buch 1 schon darauf geachtet, dass Figuren nicht an willkürlichen Orten vorkommen. Es kann z. B. hinter dem Spiegel in Schwanstein, also in Österreich, keinen Troll geben – außer, er ist ein skandinavischer Immigrant. Denn Trolle sind Wesen, die durch die Geschichte und Natur Skandinaviens inspiriert wurden. Wir haben z. B. auch andere Hexen als die Russen oder Franzosen. Der nächste Gedanke war: Okay: Die Welt hinter dem Spiegel ist genau wie unsere Welt, nur ungefähr um 1860 – und alle Märchen sind wahr.“ So ging das weiter und weiter, und mit jedem Schritt erfuhr ich mehr über diese Welt. Inzwischen bin ich in Russland und der Ukraine gelandet. Im vierten Buch geht es dann in Asien und vermutlich bis Neuseeland. Inzwischen bekomme ich von Lesern von überall aus der Welt Märchen und Ideen geliefert, was natürlich sehr aufregend ist! Im Sommer gebe ich zum ersten Mal über meine Website Pässe an Spiegelweltler aus. Jeder, der Spiegelweltler sein will, schickt mir sein Profil: wer sie in der Welt hinterm Spiegel sind, wo sie herkommen, ob sie ihren Namen behalten wollen – ich finde es eigentlich schicker, wenn die Leser ihren Namen behalten. Ich gebe ihn dann eine kurze Lebensgeschichte, also eine Identität hinterm Spiegel und mache sie so zum Teil dieser Welt. Wenn man so lange Geschichtenerzähler ist wie ich, empfindet man jeden von euch, der liest, als Reisebegleiter. Ihr reist im Grunde alle mit mir in meinem Kopf. Deswegen ist es für mich sehr spannend, diese Beziehung immer enger zu knüpfen, sodass irgendwann die Leser Teil der Geschichte werden.
Blaue Seite: Und wie kommen Deine Charaktere zu ihren Namen?
Cornelia Funke: Das ist ein ganz langer Prozess. Manche bringen ihren Namen mit, z. B. Staubfinger. Bei dem wusste ich von Anfang an, dass er Staubfinger heißt, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum. Bei anderen suche ich. Manchmal habe ich nur ein „X“ im Text, weil ich noch nicht weiß, welcher Name zur Figur passt. Ich suche in internationalen Namenslexika, in Pflanzenführern, ich gucke in alten Büchern aus dem Mittelalter nach ungewöhnlichen Namen. Ich suche in Büchern aus dem jeweiligen Land. Für den Herrn der Diebe habe ich nur in italienischen Büchern nach Namen gesucht.
Blaue Seite: In Deinem ersten Band heißt es: „Der Spiegel öffnet sich für den, der sich selbst nicht sieht.“ Hat der Spiegel damit eine tröstende Funktion für diejenigen, die sich selbst verloren haben?
Cornelia Funke: Ich würde das eher so sehen, dass wir alle irgendwann auf große Reisen gehen müssen, um uns selber zu verstehen. Das ist im Grunde eine Herausforderung. „Du kannst dich noch gar nicht selber kennen. Jetzt wollen wir doch mal sehen, wer du bist. Komm doch mal her! Geh doch mal durch! Schau doch mal, wer du dahinter bist. Wärst du ein Gestaltwandler? Wärst du ein Goyl? Wärst du …?“ Ich frage also alle Spiegelweltler: „Welche Haut hast du dir ausgesucht? Willst du lieber ein Fell? Willst du lieber aus Stein sein oder bleibst du Mensch?“ Ich denke, dass man dadurch so viel über sich selber erfährt, dass man schliesslich vielleicht nicht mehr durch den Spiegel gelangt…hm… Das wäre natürlich ein sehr hoher Preis, und sehr ärgerlich. Lasst uns hoffen, dass wir uns nie ganz verstehen:)
BS: Wenn Du durch den Spiegel hindurchtreten könntest, um Dich mit den Gebrüdern Grimm zu treffen: Was würdest Du ihnen dann sagen und worüber würdest Du Dich gerne mit ihnen unterhalten?
Cornelia Funke: Ich würde denen sagen, dass sie öfter aus ihren Schreibstuben rausgehen und doch mal ein bisschen reisen sollen.
BS: Gibt es zwischen den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm und den Reckless-Brüdern – abgesehen von der Namensgleichheit und den Parallelen zwischen den Welten – noch andere Parallelen?
Cornelia Funke: Ja, es ist sehr interessant. Ich habe natürlich viel über die Grimms gelesen und tue es auch jetzt noch. Das Verrückte ist: Als ich die Brüder in Reckless erschuf, habe ich ihnen unbewusst – was immer das heißt! – ähnlich unterschiedliche Charakterzüge wie die von Jacob und Wilhelm Grimm gegeben. Das heißt, Wilhelm Grimm war z.B. der schüchterne der beiden und genauso kam es in meiner Geschichte. Und es ist interessant, dass die Grimms nach verlorenen Worten gesucht haben – und Jacob nach verlorenen Schätzen. So schleichen sich da die seltsamsten Parallelen ein, die man eigentlich nicht geplant hat.
BS: Mit welcher Figur aus den Reckless-Romanen kannst du Dich am meisten identifizieren?
Cornelia Funke: Das ist ein bisschen kompliziert: Mein männliches Alter Ego ist Jacob. Das heißt, ich wäre wohl insgeheim manchmal gern wie er: Ich würde mir keine Sorgen um irgendwas machen. Wäre vollkommen verantwortungslos, selbstsüchtig und furchtlos. Fantastisch! Jedes Mal, wenn ich von Jacob schreibe, ist das ein unglaubliches Gefühl von Freiheit, weil ihm eigentlich alles egal ist. Tatsächlich bin ich aber wohl eher Fuchs. Ich glaube, ich habe noch nie eine Figur erschaffen, die mir näher ist als sie. Auch wenn ich keine schlimme Kindheit wie sie gehabt habe, fühle ich mich ihr sehr verwandt, ohne dass ich das wirklich erklären kann.
BS: Warum ist Celeste eine Füchsin und kein anderes Tier?
Cornelia Funke: Das ist auf sehr seltsamem Wege zustande gekommen. Als ich anfing, das Buch zu schreiben, habe ich gedacht: „Oh, da wartet irgendjemand auf der anderen Seite auf Jacob… ein Gefährte! Vielleicht ist der Zwerg doch nicht so böse, wie ich dachte. Vielleicht steht da also der Zwerg –.“ Worauf Lionel Wigram, mit dem ich viele Fäden des ersten Buches gemeinsam gesponnen habe, protestierte und sagte: „Nein! Wenn du einen Gefährten haben willst, dann erfinde meinetwegen einen Hund oder ein sprechendes Tier, aber der Zwerg kann nicht so nett werden!“ Dadurch fielen mir die sprechenden Füchse in unseren Märchen ein! Aber dass Celeste Auger eine Gestaltwandlerin ist, habe ich erst im Garten eines Lebkuchenhauses erfahren.
BS: Welche Gegenstände, die es in der Spiegelwelt gibt, würdest Du gerne mal ausprobieren oder besitzen?
Cornelia Funke: Das ist eine schwierige Frage! Ich hätte gern etwas, das in der Zeit vor- und zurückreisen kann.. Oder etwas, das die Zeit stillstehen lässt. Danach sucht Jacob ja immer: das Stundenglas. Aber ansonsten wäre ich, glaube ich, mit solchen magischen Gegenständen sehr vorsichtig. Moment! Was ich auch noch gerne hätte, ist etwas zum Fliegen.
BS: Und wo würdest Du dann hinfliegen?
Cornelia Funke: Ich würde wahrscheinlich versuchen, zu anderen Planeten zu fliegen. Das müsste dann natürlich schon ein fantastischer Gegenstand sein.
BS: Ist es für Dich eine Herausforderung, die Märchen, die überall bekannt sind, in eine eigene Geschichte zu verpacken?
Cornelia Funke: Das war ein ganz, ganz großer Spaß! Zum Beispiel mit dem Motiv von Schneewittchen und den ganzen Zwergen zu spielen. Oder zu sagen, dass Dornröschen nie aufgewacht ist, weil die Prinzen noch nicht durchgekommen sind. Es macht unendlich viel Spaß. Motive aus Märchen zu nehmen, mit ihnen zu spielen,ohne dabei eine bestimmte Aussage oder Richtung im Kopf zu haben. Das tue ich wohl am ehesten, wenn es um das Rollenbild von Frauenund Mädchen in Märchen geht. Und dann macht es natürlich auch sehr viel Spass, Motive selbst zu erfinden und meine Leserrätseln zu lassen, ob die nun aus einem Märchen stammen oder nicht.
BS: Glaubst Du, dass die Motive und die Moral, die in Märchen vorkommen, heutzutage noch eine starke Bedeutung haben?
Cornelia Funke: Ich finde sehr interessant, wie sehr sich Märchen im Laufe der Zeit verändert haben. Ich habe z. B. eine Fassung von Rotkäppchen gefunden, in der Rotkäppchen natürlich nicht so dumm ist, mit einem roten Mützchen in den Wald zu marschieren und den ersten Wildfremden nach dem Weg zu fragen. Außerdem ist der Wildfremde dann auch noch in einem Anzug und ein Werwolf. Sie weiß auch sehr wohl, dass das ein Wolf ist, der im Bett liegt und nicht ihre Großmutter. Sie flieht und rettet sich mit Hilfe von einigen Wäscherinnen. Als Rotkäppchen kommt, werfen sie die Wäsche über den Fluss, das Mädchen läuft hinüber und als der Wolf kommt, ertränken ihn die Frauen im Fluss. Es ist sehr interessant: In älteren Fassungen sind die Frauen oft viel stärker, als sie dann in der bürgerlichen Zeit gezeigt wurden. Im Mittelalter gibt es noch nicht die Nachricht: „So, jetzt gehen wir alle auf unsere Abenteuer, aber wir kommen ganz brav wieder zurück und leben genau das Leben, das wir vorher gelebt haben.“ Das ist eine sehr bürgerliche Idee. Es gibt auch in vielen alten Märchen keine Happyends. Sie sind oft noch viel, viel grausamer und sehr rachsüchtig und reaktionär. Man muss sich Märchen eigentlich wie Zeitmaschinen oder Reiseführer anschauen, aus denen man unendlich viel über verlorene Dinge und vergessene Zeiten erfährt. Man lernt, woran Menschen geglaubt haben, welche Götter sie noch vor 400 Jahren in den Wäldern gefunden haben, welche Natur sie umgab und wie sehr sie sich ihr ausgeliefert fühlten, aber auch verbunden und dankbar für all das, was sie bescherte. Spannend ist natürlich, dass in ganz vielen Märchen die Motive von Hunger, aber auch von Inzest und Kannibalismus vorkommen. Da kann man sich fragen, ob das wirklich immer symbolisch gemeint war. Sicher nicht! Es gibt die Märchendeutung, dass die Stiefmütter in den Märchen in Wirklichkeit die wirklichen Mütter darstellen, aber dass nicht gewagt wird, so viel Böses über die eigene Mutter zu erzählen, weshalb es im Märchen die Stiefmutter ist…
BS: Dein neues Buch wird „Reckless – Teuflisches Silber“ heißen. Was erwartet uns Leser da?
Cornelia Funke: Es wird leider schon wieder viel dicker als das zweite Buch. Da ich jetzt in dieser Welt lebe, gibt es so viele Figuren, dass es maßlos überhand nimmt. Ich werde wohl bis nach Kasachstan und in die Mongolei reisen. Ihr werdet sehr viel mehr über Jacobs Vater erfahren. Fuchs wird eine Affäre mit einem anderen haben – obwohl Jacob mir das sehr übel genommen hat, als ich das geschrieben habe, aber das musste jetzt wirklich mal sein. Es wird außerdem etliche neue Figuren geben, z. B. einen kanadischen Charakter, den ich auf wunderbare Weise französisch fluchen lassen konnte. Es gibt eine russische Zwergin, die eine fantastische Spionin in Moskau ist. Ich stehle einen fliegenden Teppich vom Zaren – kurz- ich habe eine Menge Spaß gehabt.
BS: Wenn es einen Reckless-Film geben sollte, könntest Du Dir dann Drehorte in Deutschland vorstellen?
Cornelia Funke: Natürlich. Jacob hat den Glasschuh in einem Schloss in Bayerngefunden. Ich habe auch gerade eine Märchengeschichte geschrieben, in der er an Weihnachten mit Fuchs in das Hamburg hinter dem Spiegel gelangt. Natürlich ist Deutschland ganz zentral in dieser Welt. Schwanstein liegt ja ganz nebenan in Österreich. Aber im Moment erlaube ich keine Verfilmungen und kann mir auch nicht vorstellen, dass ich das in nächster Zeit tue. Denn meine Erfahrung mit der Tintenwelt ist diese: Die Fans wollen immer, dass es Filme gibt – aber wenn sie die dann sehen, sind sie todunglücklich, genau wie ich es war. Wenn man ein Buch, das vorgelesen 18 Stunden dauert, in zwei Stunden erzählt, dann ist es nicht mehr das Buch. Dann muss es geschrumpft werden. Deswegen habe ich eine App (ich nenne es lieber ein Atmendes Buch) zur Spiegelwelt entwickelt, die 110 Minuten lang ist und hoffentlich für meine Leser wie ein Reiseführer hinter den Spiegel funktioniert. Man kann einfach mal reinschlüpfen, ohne dass es die Vorstellungskraft in irgendeiner Weise einschränkt und Winkel erforschen, die ich in den Büchern nur am Rande streife.
Was ich als Nächstes machen möchte – und darüber habe ich schon mit meinem Verlag gesprochen – ist, dass wir ein Buch veröffentlichen, in dem es Bilder von jedem Charakter gibt. Das sind dann oft alte Fotos, Zeichnungen oder Gemälde, sodass man sie nicht hundertprozentig vorgesetzt bekommt, aber eine Ahnung hat, wie ich sie mir vorstelle. Ihr werdet das in der Ausstellung hier in Lübeck sehen, da habe ich zum ersten Mal mein Charakternotizbuch der Öffentlichkeit gezeigt. Auf meiner Website könnt ihr davon auch ein paar Seiten sehen. Da bekommt ihr einen Einblick, wie ich mir jede Figur vorstelle und wie ich über sie denke.
Ich glaube, dass die Reise in diese Welt für mich gerade erst begonnen hat. Es wäre viel zu früh, das jetzt zu verfilmen.
BS: Denkst Du, dass den Kindern und Jugendlichen von heute durch viele Vorgaben in Filmen oder durch Spielzeuge ein Stück weit die Vorstellungskraft genommen wird?
Cornelia Funke: Ich glaube, ihr habt mehr Vorstellungskraft als je irgendeine Generation vor euch hatte. Lasst euch das bloß nicht erzählen! Ihr lebt in der aufregendsten Zeit, die die Menschheit je durchlebt hat. Natürlich ist es auch eine gefährliche Zeit, aber aufregend ist sie trotzdem. Das Ausmaß an Fortschritt und an Erkenntnis ist im Moment bahnbrechend. Das Tempo, dem ihr alle ausgesetzt seid, ist so atemberaubend, dass wir noch gar nicht wissen, wie wir mit dem Schulsystem oder den Medien darauf reagieren sollen. Wenn man sagt, die Menschheitsentwicklung ist ungefähr so (sie zeichnet den flachen Beginn einer aufwärtsweisenden Kurve in die Luft), dann sind wir jetzt gerade da (sie zeichnet den steilen Aufstieg ). Wie wir damit zurechtkommen, wissen wir alle noch nicht. Wir wissen auch nicht, ob das im absoluten Desaster endet. Aber ich glaube – und das wird einem vor allem bewusst, wenn man wie ich in der Welt herumreist – dass die Lösung nur in der Zukunft liegen kann. Wir können nicht zurück, so sehr wir uns das auch oft wünschen mögen. Die Probleme, die wir verursacht haben, sind nur durch neue Lösungen zu beheben.
Das heißt, wir können nicht zurück. Wir können mit unserer Weltbevölkerung nicht in die guten alten Zeiten zurück – abgesehen davon, dass sie leider nie gut und alt waren. Es ist eine spannende Frage, wie wir es jetzt schaffen werden, nicht zu viel auf diesem Weg zu verlieren. Wie wir lernen, das, was wir noch haben, zu beschützen. Wie wir gleichzeitig neue Wege finden, die Dinge zu erhalten, die wir zu verlieren drohen. Und gleichzeitig die Welt auch besser zu machen, was langsam mal Zeit wird. Denn die „guten Zeiten“, wie gesagt, die wollen wir alle nicht wiederhaben.
BS: Du bist Botschafterin für „Wünschdirwas“ oder die „UN-Dekade für biologische Vielfalt“ und viele weitere soziale Projekte. Was machst Du da genau?
Cornelia Funke: Ich habe jetzt z. B. in Los Angeles zusammen mit einer Ärztin ein zweites Nachtasyl für misshandelte Kinder eröffnet. Außerdem unterstütze ich Projekte in Deutschland, England, Amerika und jetzt bald auch in Indien. Dabei sehe ich mich immer als Fürsprecherin von Kindern und Jugendlichen, weil ich für diese hauptsächlich schreibe. Erwachsene dürfen die Bücher auch lesen, aber darum geht es nicht. Es ist im Moment einfach so viel zu tun, auch im Umweltschutz. In Los Angeles arbeite ich z. B. mit den „Tree People“. Diese Leute sagen: „Wir können Los Angeles wieder in einen Urwald verwandeln. Wir sind ganz sicher, das schaffen wir!“ Das ist sehr aufregend. Ich weiß nicht, wie viele tausend Bäume die gepflanzt haben. Und gerade in einer so riesigen Stadt wie Los Angeles ist es zurzeit sehr in Mode, sein Gemüse selbst anzubauen und urbanes Gärtnern zu lernen. Es gibt in Pasadena eine Familie, die ihre eigene Energie erzeugt, die also vollkommen unabhängig ist.
Ich finde es aufregend, dass im Moment in so viele Richtungen gedacht wird und dass unheimlich viele Menschen begreifen, dass wir die Welt verändern müssen, weil sie sich sonst wahrscheinlich in die falsche Richtung dreht. Man kann unheimlich viel verändern. Das habe ich in den letzten zehn Jahren gelernt. Es ist eine dumme Ausrede zu sagen: „Ach, das hilft ja sowieso alles nicht.“ Das könnt ihr daran sehen, dass euch jemand dieses Haus hier (das Kinderliteraturhaus in Lübeck, Anm. d. Red.) zur Verfügung gestellt hat. Das hat etwas geändert. Und wenn die Stifterin das nicht getan hätte, dann gäbe es die Veranstaltung hier heute nicht. Ich hoffe, dass ihr euch das alle zu Herzen nehmt. Denn danach seid ihr an der Reihe. Glaubt bitte daran, dass ihr unendlich viel ändern könnt. Und ich komme jetzt in das Alter, in dem man Ratschläge gibt, also sage ich oft in Lesungen: „Bitte tut euch eine Sache nicht an: dass ihr später etwas tut, wofür ihr keine Leidenschaft empfindet.“ Denn ich habe in meinem Leben immer das getan, was ich leidenschaftlich gerne getan habe oder wollte. Und ich bin ein ziemlich glücklicher Mensch.
Es ist so traurig, wie viele Menschen schon in relativ jungem Alter ihre Träume begraben, ihre Leidenschaften verraten und glauben, das Erwachsensein könne nur langweilig werden und das sei einfach so. Das Erwachsensein kann unglaublich aufregend sein. Wir leben in einer wahnwitzig aufregenden Welt, die zurzeit auch zusammenwächst. Ihr habt Möglichkeiten zu Reisen, die ich, als ich jung war, noch nicht hatte. Ihr habt Möglichkeiten, mit der ganzen Welt zu kommunizieren, was noch vor zehn Jahren absolut unmöglich war. Meine Tochter kriegte einen Lachanfall in London, als sie ein altes Buch fand, in dem das Internet erklärt wird. Das Buch ist aber erst elf Jahre alt.
Ihr müsst mit diesem bestürzenden Wandel und all den Informationen zurechtkommen, die auf euch eindringen. Ihr lebt hier in einer Stadt, in der die Vergangenheit sehr präsent ist (Lübeck, Anm. d. Red.). Dann müsst ihr aber eure Zukunft finden. Und ihr müsst auch eine Zukunft finden, die diese Vergangenheit bewahrt, aber trotzdem euer eigener Weg ist. Das ist eine ziemlich aufregende Aufgabe.
BS: Du vermittelst in Deinen Büchern sehr viel Magie und auch durch die Unterhaltungsindustrie kommen wir mit viel Magie in Berührung. Aber wo liegen für Dich die alltäglichen Momente der Magie?
Cornelia Funke: Zum Beispiel, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. Ich brauche unbedingt Hunde in meinem Leben. Für mich ist es auch immer wieder magisch, wenn mir so etwas wie das hier heute passiert. Auch die Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen sind für mich sehr magisch. Aber ich lebe auch an einem sehr magischen Ort. Wenn ich in Los Angeles einen Kolibri in meinem Garten sehe, ist das immer noch sehr magisch.
BS: Vorhin haben wir über eine Begegnung mit den Gebrüdern Grimm gesprochen. Was erwartest Du von dem viel realeren Gespräch mit Günther Grass heute Abend?
Cornelia Funke: Ich habe mir fest vorgenommen, darüber gar nicht nachzudenken. Denn das ist furchtbar, wenn man so einen großen Menschen und beeindruckenden Zauberer trifft. Da sollte man doch erst einmal gucken, was er an Zauberei zu bieten hat und ich bin sicher, da brauche ich mir gar keine Gedanken zu machen.
BS: Beim letzten Treffen hast Du die Blaue Seite mit Romantik verbunden. Was fällt Dir jetzt dazu ein?
Cornelia Funke: Blau ist nicht meine Farbe. Ich bin eine der wenigen Menschen, die fast nie etwas Blaues tragen, weil ich dann leicht melancholisch werde. Und ich bin nicht gerne in blauen Räumen, weil die Wände mir dann meine Energie nehmen. Ich brauche immer rote oder grüne Räume. Es gibt nur eine bestimmte Art von Blau, das Ultramarin, mit dem ich sehr gut leben kann. Aber ich muss mich mit der Farbe zwischendurch immer wieder anfreunden.
BS: Das war unsere traditionelle letzte Frage und deswegen bedanken wir uns jetzt ganz herzlich. Es ist echt schön, dass Du hier bist.